Nach Aktionen von Klimaschützern oder Schlägereien in Schwimmbädern werden regelmäßig Forderungen laut, nun müsse »mit der vollen Härte des Rechtsstaats durchgegriffen« werden. Gemeint ist damit: Schluss mit Entschuldigungen und Sozialarbeiter-Romantik, dafür robustes Auftreten der Polizei, Ausschöpfen des Strafrahmens vor Gericht - kurz: »Law and Order«-Politik.
Dabei gerät in Vergessenheit, dass »Rechtsstaat« eigentlich etwas ganz anderes bedeutet, nämlich die Bindung staatlichen Handelns an das Gesetz. Maximilian Pichl analysiert, aus welchen Gründen und mit welchen Strategien politische Akteure die skizzierte Umdeutung betreiben und welche Folgen sie hat. Diesen Bestrebungen setzt Pichl die lange Geschichte juristischer Kämpfe entgegen, in denen sich Anwälte und Aktivisten für eine Begrenzung politischer Willkür eingesetzt haben.
Dabei gerät in Vergessenheit, dass »Rechtsstaat« eigentlich etwas ganz anderes bedeutet, nämlich die Bindung staatlichen Handelns an das Gesetz. Maximilian Pichl analysiert, aus welchen Gründen und mit welchen Strategien politische Akteure die skizzierte Umdeutung betreiben und welche Folgen sie hat. Diesen Bestrebungen setzt Pichl die lange Geschichte juristischer Kämpfe entgegen, in denen sich Anwälte und Aktivisten für eine Begrenzung politischer Willkür eingesetzt haben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2024Was hat denn die Polizei mit dem Rechtsstaat zu tun?
Aus dem Angebot ungemein progressiver Erbauungsliteratur: Maximilian Pichl übt sich mit Verve in politischem Manichäismus
In seinen "Gefängnisheften" entwickelte der italienische Kommunist Antonio Gramsci, einer der Säulenheiligen des Neomarxismus, den Gedanken der kulturellen Hegemonie. Auf der Suche nach den Gründen für die Niederlage sozialistischer Bewegungen in Europa erkannte er, dass eine politische Kraft langfristig nur dann erfolgreich sein wird, wenn es ihr gelingt, im vorpolitischen Raum, in der Bildung, der Kultur und den Medien, ihre ideologischen Muster gegen die Ideologien ihrer Gegner durchzusetzen.
Eine solche Umdeutungskampagne sieht der Jurist und Politikwissenschaftler Maximilian Pichl gegenwärtig im Hinblick auf den Begriff des Rechtsstaats im Gange. Getragen werde sie allerdings nicht von den progressiven Kräften, denen Pichl sich zugehörig fühlt, sondern von der politischen Rechten, einer Strömung, die nach Pichl von den Sicherheitspolitikern der etablierten Parteien bis hin zu den intellektuellen Protagonisten der AfD reicht. Der Kern dieser Umdeutungsstrategie bestehe darin, dass der auf Einhegung der staatlichen Macht abzielende Begriff des Rechtsstaats mit ordnungsstaatlichen Inhalten aufgeladen und dadurch zur Ausweitung staatlicher Machtbefugnisse herangezogen werde. "Mit aller Härte des Rechtsstaats" gegen unliebsame Personen vorzugehen sei eine gängige Umschreibung für die Forderung nach härteren Gesetzen und strengeren Strafen geworden, also genau für das Gegenteil dessen, wofür der Rechtsstaatsbegriff ursprünglich stehe.
Man kann diese Formel freilich auch ganz anders verstehen, nämlich als Hinweis darauf, dass Härte im Rechtsstaat nie ein Selbstzweck sein, sondern nur in normativ vielfältig eingehegter Weise geübt werden darf. An einer solchen Lesart ist Pichl indessen nicht interessiert; seine Sache ist vielmehr der politische Manichäismus. Dieser äußert sich darin, dass Pichl Rechtsstaat und Ordnungsstaat durch eine unüberbrückbare Kluft geschieden sieht. Im Dienst des Rechtsstaats stehen bei ihm nur progressive Anwälte, soziale Bewegungen und Bürgerrechtsinitiativen, während die Polizei den Ordnungsstaat repräsentiert.
So kann er im Ton echten Erstaunens fragen: "Was hat die Polizei mit dem Rechtsstaat zu tun?" Der naheliegenden Antwort, dass sie den Auftrag des Staats zum Schutz seiner Bürger erfüllt, wobei ihr Handeln an strenge Eingriffsvoraussetzungen gebunden ist und einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle unterliegt, entzieht Pichl sich durch die üblichen Insinuationen. Die Polizei sei rassistisch verseucht, neige zu Exzessen und stelle eine Bedrohung für Leib und Leben vieler Menschen dar.
Geradezu apokalyptische Züge nimmt das Gesamttableau an, das Pichl vom gegenwärtigen Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland und Europa zeichnet. In den letzten Jahren sei der liberal-demokratische Gehalt des Rechtsstaatsbegriffs auf unterschiedlichsten Feldern, von der Austeritäts- und Migrationspolitik bis zum Umgang mit dem Phänomen der Clankriminalität und der Klimaschutzbewegung zusehends ausgehöhlt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden. In seiner Darstellung der Pressionen, denen ohnehin schon marginalisierte Gruppen, aber auch die Verteidiger des Rechtsstaats ausgesetzt seien, schwelgt Pichl in Begriffen wie systematischer Entrechtung, Ausnahme-zuständen und exekutiver Willkür. Mehr noch, überall in der EU würden kritische Anwälte, Menschenrechtsaktivisten und Seenotretter überwacht, vor Gericht gestellt oder der Bildung krimineller Vereinigungen bezichtigt. Und dies ist nach Pichls Überzeugung nur der Anfang. Das eigentliche Ziel der ordnungspolitischen Umdeuter des Rechtsstaatsbegriffs und ihrer richterlichen Helfershelfer, die durch den Aufstieg der Neuen Rechten zunehmend dazu ermutigt würden, ihre "rechtsstaatliche Maske" fallen zu lassen, sei die Herbeiführung eines Meinungsklimas, das exekutives Handeln ohne rechtliche Beschränkungen legitimieren solle; "pure staatliche Gewalt statt Recht soll herrschen, das Ganze noch vorgetragen unter dem Banner des Rechtsstaats".
Die Komplexität der Wirklichkeit kann in einem derart schlichten Bild politischer Prozesse nur stören, deshalb wird sie von Pichl entweder ignoriert oder nach seinem Gusto umgebogen. So lässt er sich in seinem Verdammungsurteil über die deutsche und europäische Migrationspolitik weder durch die Nöte der Kommunen, die sich an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt sehen, noch durch die Frage irritieren, ob die gegenwärtige Zuwanderungspraxis nicht auf eine Art von Lotterie hinausläuft, bei der zumeist nicht Hilfsbedürftigkeit, sondern physische Stärke den Ausschlag gibt. Wo das Beschweigen nicht genügt, konstruiert Pichl Kausalitäten, die, vorsichtig gesprochen, die Bezeichnung "gewagt" verdienen. So macht er kurzerhand die "Spardiktate" der EU dafür verantwortlich, dass der italienische Staat in der Corona-Krise Leben und Gesundheit seiner Bürger nicht adäquat habe schützen können.
Insgesamt weist Pichls Vorgehen eine verblüffende Ähnlichkeit zu der Strategie seiner politischen Antipoden auf. Es wird eine dramatische Krise herbeiphantasiert, die von einer diffusen, aber einflussreichen Gruppe von Personen geschürt werde; diesen wird eine kleine Schar klar denkender und moralisch überlegener Akteure gegenübergestellt, die ihre finsteren Ziele durchschauen und bis zum Preis der Selbstaufopferung zu durchkreuzen trachten. Letztlich läuft dieses heroische Unterfangen bei Pichl, ebenso wie bei seinen Gegnern, auf die Forderung nach einer tiefgreifenden Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse hinaus.
Nur eine "umfassende sozialökologische Transformation der Arbeits- und Wirtschaftsverhältnisse" und eine "radikale Demokratisierung aller Lebensbereiche" könne die Verheißungen des Rechtsstaats einlösen. Ein Buch, das nicht mehr zu bieten hat als dies, ist überflüssig - nicht etwa, weil es aufregt, sondern, weil es langweilt. Aber als Erbauungs- und Selbstvergewisserungstraktätchen für ein sehr spezielles Milieu unbeirrbarer politischer Träumer mag es seine Leser finden. MICHAEL PAWLIK
Maximilian Pichl: "Law statt Order". Der Kampf um den Rechtsstaat.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 260 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus dem Angebot ungemein progressiver Erbauungsliteratur: Maximilian Pichl übt sich mit Verve in politischem Manichäismus
In seinen "Gefängnisheften" entwickelte der italienische Kommunist Antonio Gramsci, einer der Säulenheiligen des Neomarxismus, den Gedanken der kulturellen Hegemonie. Auf der Suche nach den Gründen für die Niederlage sozialistischer Bewegungen in Europa erkannte er, dass eine politische Kraft langfristig nur dann erfolgreich sein wird, wenn es ihr gelingt, im vorpolitischen Raum, in der Bildung, der Kultur und den Medien, ihre ideologischen Muster gegen die Ideologien ihrer Gegner durchzusetzen.
Eine solche Umdeutungskampagne sieht der Jurist und Politikwissenschaftler Maximilian Pichl gegenwärtig im Hinblick auf den Begriff des Rechtsstaats im Gange. Getragen werde sie allerdings nicht von den progressiven Kräften, denen Pichl sich zugehörig fühlt, sondern von der politischen Rechten, einer Strömung, die nach Pichl von den Sicherheitspolitikern der etablierten Parteien bis hin zu den intellektuellen Protagonisten der AfD reicht. Der Kern dieser Umdeutungsstrategie bestehe darin, dass der auf Einhegung der staatlichen Macht abzielende Begriff des Rechtsstaats mit ordnungsstaatlichen Inhalten aufgeladen und dadurch zur Ausweitung staatlicher Machtbefugnisse herangezogen werde. "Mit aller Härte des Rechtsstaats" gegen unliebsame Personen vorzugehen sei eine gängige Umschreibung für die Forderung nach härteren Gesetzen und strengeren Strafen geworden, also genau für das Gegenteil dessen, wofür der Rechtsstaatsbegriff ursprünglich stehe.
Man kann diese Formel freilich auch ganz anders verstehen, nämlich als Hinweis darauf, dass Härte im Rechtsstaat nie ein Selbstzweck sein, sondern nur in normativ vielfältig eingehegter Weise geübt werden darf. An einer solchen Lesart ist Pichl indessen nicht interessiert; seine Sache ist vielmehr der politische Manichäismus. Dieser äußert sich darin, dass Pichl Rechtsstaat und Ordnungsstaat durch eine unüberbrückbare Kluft geschieden sieht. Im Dienst des Rechtsstaats stehen bei ihm nur progressive Anwälte, soziale Bewegungen und Bürgerrechtsinitiativen, während die Polizei den Ordnungsstaat repräsentiert.
So kann er im Ton echten Erstaunens fragen: "Was hat die Polizei mit dem Rechtsstaat zu tun?" Der naheliegenden Antwort, dass sie den Auftrag des Staats zum Schutz seiner Bürger erfüllt, wobei ihr Handeln an strenge Eingriffsvoraussetzungen gebunden ist und einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle unterliegt, entzieht Pichl sich durch die üblichen Insinuationen. Die Polizei sei rassistisch verseucht, neige zu Exzessen und stelle eine Bedrohung für Leib und Leben vieler Menschen dar.
Geradezu apokalyptische Züge nimmt das Gesamttableau an, das Pichl vom gegenwärtigen Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland und Europa zeichnet. In den letzten Jahren sei der liberal-demokratische Gehalt des Rechtsstaatsbegriffs auf unterschiedlichsten Feldern, von der Austeritäts- und Migrationspolitik bis zum Umgang mit dem Phänomen der Clankriminalität und der Klimaschutzbewegung zusehends ausgehöhlt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden. In seiner Darstellung der Pressionen, denen ohnehin schon marginalisierte Gruppen, aber auch die Verteidiger des Rechtsstaats ausgesetzt seien, schwelgt Pichl in Begriffen wie systematischer Entrechtung, Ausnahme-zuständen und exekutiver Willkür. Mehr noch, überall in der EU würden kritische Anwälte, Menschenrechtsaktivisten und Seenotretter überwacht, vor Gericht gestellt oder der Bildung krimineller Vereinigungen bezichtigt. Und dies ist nach Pichls Überzeugung nur der Anfang. Das eigentliche Ziel der ordnungspolitischen Umdeuter des Rechtsstaatsbegriffs und ihrer richterlichen Helfershelfer, die durch den Aufstieg der Neuen Rechten zunehmend dazu ermutigt würden, ihre "rechtsstaatliche Maske" fallen zu lassen, sei die Herbeiführung eines Meinungsklimas, das exekutives Handeln ohne rechtliche Beschränkungen legitimieren solle; "pure staatliche Gewalt statt Recht soll herrschen, das Ganze noch vorgetragen unter dem Banner des Rechtsstaats".
Die Komplexität der Wirklichkeit kann in einem derart schlichten Bild politischer Prozesse nur stören, deshalb wird sie von Pichl entweder ignoriert oder nach seinem Gusto umgebogen. So lässt er sich in seinem Verdammungsurteil über die deutsche und europäische Migrationspolitik weder durch die Nöte der Kommunen, die sich an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt sehen, noch durch die Frage irritieren, ob die gegenwärtige Zuwanderungspraxis nicht auf eine Art von Lotterie hinausläuft, bei der zumeist nicht Hilfsbedürftigkeit, sondern physische Stärke den Ausschlag gibt. Wo das Beschweigen nicht genügt, konstruiert Pichl Kausalitäten, die, vorsichtig gesprochen, die Bezeichnung "gewagt" verdienen. So macht er kurzerhand die "Spardiktate" der EU dafür verantwortlich, dass der italienische Staat in der Corona-Krise Leben und Gesundheit seiner Bürger nicht adäquat habe schützen können.
Insgesamt weist Pichls Vorgehen eine verblüffende Ähnlichkeit zu der Strategie seiner politischen Antipoden auf. Es wird eine dramatische Krise herbeiphantasiert, die von einer diffusen, aber einflussreichen Gruppe von Personen geschürt werde; diesen wird eine kleine Schar klar denkender und moralisch überlegener Akteure gegenübergestellt, die ihre finsteren Ziele durchschauen und bis zum Preis der Selbstaufopferung zu durchkreuzen trachten. Letztlich läuft dieses heroische Unterfangen bei Pichl, ebenso wie bei seinen Gegnern, auf die Forderung nach einer tiefgreifenden Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse hinaus.
Nur eine "umfassende sozialökologische Transformation der Arbeits- und Wirtschaftsverhältnisse" und eine "radikale Demokratisierung aller Lebensbereiche" könne die Verheißungen des Rechtsstaats einlösen. Ein Buch, das nicht mehr zu bieten hat als dies, ist überflüssig - nicht etwa, weil es aufregt, sondern, weil es langweilt. Aber als Erbauungs- und Selbstvergewisserungstraktätchen für ein sehr spezielles Milieu unbeirrbarer politischer Träumer mag es seine Leser finden. MICHAEL PAWLIK
Maximilian Pichl: "Law statt Order". Der Kampf um den Rechtsstaat.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 260 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Michael Wolf bedauert, dass Maximilian Pichls Buch über Begriff und Konzept von Rechtsstaat im zweiten Teil ins Unsachliche abrutscht. Dabei fange er im ersten Teil so gut an - mit einem "luziden" historischen Abriss zur Geschichte des Begriffs "Rechtsstaat", der einige Wandlungen durchgemacht habe: Zunächst vom Bürgertum gegen den Absolutismus und linke Revolutionen in Stellung gebracht, versuchte Carl Schmitt ihn im Sinne des "Führerstaats" umzudeuten, bevor er in der Nachkriegszeit zur Abgrenzung der Demokratie vom Nationalsozialismus und Kommunismus eingesetzt wurde und ab den 60er Jahren schließlich als Aufforderung zu "größtmöglicher Härte" von Seiten des Staates umgekehrt wurde, gibt Wolf den Autor anerkennend wieder. Warum Pichl dann aber über sämtliche Verwendungen des Begriffs aus verschiedenen politischen Lagern schimpft, obwohl er gerade die Offenheit und eben auch Instrumentalisierbarkeit des Begriffs nachgezeichnet hat, versteht der Kritiker nicht. Für ihn zeugt das von politischer Voreingenommenheit und "mangelnder Sachlichkeit", schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»[Ein] lesenswertes Buch, gerade weil es Partei ergreift und damit die Debatte über Populismus, Rechtsstaatlichkeit und Möglichkeiten progressiver Politik belebt.« Till Schmidt DIE ZEIT 20240920