Der Autor hatte bisher nie diese unglaubliche Episode seiner Internierung in Buchenwald im Dezember 1944 erzählt. Jetzt liegt sie zum ersten Mal vor: um sein Leben zu retten, gab er sich drei Monate lang als Sterbender aus, bis er letztlich an Stelle eines anderen für tot erklärt wurde. Diese List, sein offizieller Tod, rettete ihm das Leben. Gleichzeitig ist diese Erzählung ein unvergleichliches Zeugnis über den Alltag im Konzentrationslager Buchenwald.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2001Der gebrauchte Tote
Leben und Lesen im KZ: Semprún setzt die "Große Reise" fort
PARIS, Anfang Juli
Im Frühsommer 1999 besuchte Jorge Semprún Hans Magnus Enzensberger in München. Sie waren 1968 zusammen in Kuba gewesen. In Enzensbergers Bibliothek, deren Ordentlichkeit ihn beeindruckt, greift der Gast zu einem gelben Buch aus dem Verlag Rowohlt. Mit klopfendem Herzen blättert er auf der Suche nach den "Sätzen am Ende": "Und Sie sind? Henry Sutpen. Und Sie sind hier? Vier Jahre. Und Sie kehrten zurück? Um zu sterben. Ja." Er kennt sie auswendig, er zitiert sie deutsch. Sie sind aus Faulkners "Absalon! Absalon!" und dem Spanier, der als Student im Pariser Exil Heideggers "Sein und Zeit" im Original gelesen hatte, seit einem halben Jahrhundert nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Er hatte den Roman im Dezember 1944 in der Bibliothek des Konzentrationslagers Buchenwald vorgefunden und in seinen schlaflosen Nächten verschlungen, "während die amerikanischen Soldaten in den Ardennen keinen Zentimeter preisgaben". Gleiche Ausstattung, gleiche Übersetzung (von Hermann Stresau) - das Exemplar, das Enzensberger seinem Gast und Genossen mitgeben wird, stammt allerdings aus der zweiten Auflage. Im Lager gab es die Erstausgabe, 1938 erschienen, "im Jahr der Kapitulation von München und der Reichskristallnacht", erstes bis viertes Tausend.
In solchen Sprüngen und Assoziationen funktioniert bei Semprún das Erinnern. Er berichtet von seinem Münchner Besuch in "Le mort qu'il faut". Das Buch ist soeben bei Gallimard erschienen. "Der Tote, den wir brauchen", könnte man seinen Titel übersetzen. Oder etwas freier und nicht weniger genau: "Der gebrauchte Tote". Einen Toten, der ihm ähnlich sah, brauchte Semprún, um zu überleben. Die besten Voraussetzungen dafür hatten im Konzentrationslager, dessen Funktionieren und Hierarchie der Schriftsteller gegen alle Klischees beschreibt, Kommunisten und jene, die ihren Schutz genossen. Der Handlungsspielraum der geheimen Lagerleitung, die sie bildeten, war beschränkt, aber er umfaßte die Macht der Entscheidung über Leben oder Tod zumindest einzelner Deportierter.
Der im französischen Widerstand junge Spanier gehörte nicht zur "roten Aristokratie", zu den "Prominenten" mit ein paar Privilegien, sondern eher zu den "Plebejern". Doch als man sich aus Berlin nach ihm erkundigte, beschlossen die kommunistischen Chefs, ihn zu retten. Man würde einen der todgeweihten "Muselmänner" - sie bildeten im Lager die unterste Schicht und hatten jeden Lebenswillen verloren - unter seinem Namen sterben lassen. Die Wahl fiel auf François L., der im selben Zug deportiert worden war: gleichaltrig, französischsprachig, Student aus Paris - fast ein Idealfall. Nur die Vorstellung, mit dem bekannten Namen eines Nazis weiterzuleben, behagte Semprún nicht gerade: François L. war vom eigenen Vater, einem der Führer der französischen "Milice", ausgeliefert worden. Man übergab ihm dessen Kleider und ließ ihn wissen, daß er im Falle einer Kontrolle krankgespritzt werden müßte.
Die Nacht des Todes verbrachte Semprún an der Seite des Sterbenden. Regelmäßig hatten sie vor der Verlegung von François L. ins Revier über das Leben und die Literatur diskutiert. Ihre Kenntnisse waren auf dem neusten Stand. Beide hatten "Der Fremde" und sogar Maurice Blanchot gelesen. Über alle Autoren waren sie gleicher Meinung - nur nicht über Faulkner. François L. wollte nach seiner Rückkehr über das Lager schreiben und sich in seinen Schilderungen einen Reisegefährten zulegen. Er hatte in seiner Dramaturgie Semprún für die Rolle des Compagnon vorgesehen, "bist du einverstanden? Du wirst eine Figur der Fiktion, auch wenn ich überhaupt nichts erfinde."
Im Rückblick glaubt sich Semprún bewußt zu werden, daß er, als er "Die große Reise" zu schreiben begann, genau das tat, was François geraten und vorgeschwebt hatte. "Wozu soll man auch Bücher schreiben, wenn man die Wahrheit nicht erfindet. Oder, besser noch, die Wahrscheinlichkeit." Während oder kurz nach dem Sterben des Gefährten an seiner Seite, mit dessen "Abgang" seine eigene Existenz im Lager sehr viel sicherer wurde, war Semprún eingeschlafen. Schlafen konnte er immer, auch zwischen zwei Verhören durch die Gestapo. Er verpaßte François' Überführung in die Verbrennungsöfen und wäre um ein Haar selber von den Leichenträgern mitgenommen worden. Das haben ihm zumindest die Genossen, die seine neue Identität organisierten, erzählt - Wahrheit, Wahrscheinlichkeit.
Jorge Semprún hat seinen späten Bericht nicht in chronologischer Reihenfolge konzipiert. Doch seine Zeiten- und Gedankensprünge bleiben stets nachvollziehbar. Der rote Faden ist die Auskunft, nach der Berlin verlangt hat. Erst am Schluß erfährt man die Hintergründe: es war François' Botschafter im (bereits befreiten) Paris, der sich in Berlin nach ihm erkundigte - der Vater des Deportieren, ein katholischer Republikaner, hatte ihn darum gebeten. Niemand zweifelte mehr an der Niederlage der Deutschen.
In Buchenwald indes setzte die Tatsache, daß ein hoher Faschist den Genossen Häftling zu protegieren schien, Semprún dem Mißtrauen der kommunistischen Chefs aus. Er wurde verhört. Erstmals sprach bei dieser Gelegenheit der Chef der geheimen Lagerleitung zu ihm. Es war Walter Bartel. Ihn und Ernst Busse nennt er als einzige Figuren seiner Schilderung beim wirklichen Namen. Beide gerieten später "in die tödliche Spirale der letzten stalinistischen Prozesse". Sie wurden der Kollaboration mit der Gestapo angeklagt. Busse starb 1952 im GULag.
Walter Bartel, der Semprún wohl am liebsten in den Tod geschickt hätte, verteidigte sich standhaft, räumte Irrtümer ein, legte aber kein Geständnis ab. Er wurde einer der Pioniere beim Aufbau der DDR, war ein enger Mitarbeiter von Wilhelm Pieck und machte in der DDR als Historiker eine brillante akademische Karriere. 1984 gratulierte ihm Erich Honecker persönlich im "Neuen Deutschland" zum achtzigsten Geburtstag.
Erst im Jahr nach seiner Kuba-Reise mit Enzensberger erfährt Semprún im besetzten Prag 1969 vom Schicksal seiner roten Kapos, die nicht unbeträchtliche Risiken eingegangen waren, um sein Leben zu schützen, das nicht wirklich in Gefahr war. Davon handelt der Epilog. Einer seiner Mitgefangenen hatte - in der deutschen Übersetzung - "Die große Reise" gelesen: "Du mußt die Nacht im Revier erzählen, an der Seite deines ,Muselmannes', und alles was dazugehört, inklusive Busse und Bartel." Mit dieser Szene schließt das Buch: "Vielleicht hatte ich zuviel getrunken, aber die Idee schien mir einzuleuchten." Nach seiner Rückkehr aus Buchenwald hatte dann tatsächlich geschrieben. "Doch je mehr ich mit meinem Buch vorwärtskam, um so mehr entfernte ich mich vom Leben", erklärte er 1994, als er in Frankfurt den Friedenspreis bekam. Und über etwas anderes konnte er nicht schreiben. Erst siebzehn Jahre nach dem Ende des Kriegs entstand "Die große Reise". "Le mort qu'il faut" greift neue Motive und Ereignisse auf. Der Systemvergleich ist nicht mehr tabu - in Buchenwald war Semprún erleichtert, daß ihm die Schilderung der sowjetischen Lager durch einen russischen Häftling, der im GULag war, erspart blieb. Geglaubt, gesteht er sich selber ein, hätte er ihm wie die anderen sowieso nicht.
Er zeichnet aus der fernen Erinnerung ein Porträt des Toten, der als Jorge Semprún starb und in dessen Haut er mit diesem späten Buch zu schlüpfen scheint. Er sucht nach Bezügen, Parallelen, Gemeinsamkeiten jenseits des Lesens und Schreibens. Möglicherweise hatten sie in Paris die gleiche Frau geliebt. Eindringlicher, intensiver, ergreifender als der Hunger und Durst, Hitze und Kälte, die Erschöpfung, die Ausbeutung, die Hierarchie der Klassengesellschaft im KZ und die Solidarität wird in Semprúns Bericht die Erniedrigung durch die totale und permanente Promiskuität geschildert. Kein Akt, kein Schritt, keine Geste entging dem Blick der anderen.
Ein Bedürfnis nach Rache oder auch nur "Verstehenwollen", Schuldgefühle des Überlebenden oder Haßempfindungen sucht man in Semprúns Büchern vergeblich. Keine Spur von Klage und Anklage. Der Schriftsteller legt Zeugnis ab; nüchtern, nackt, beklemmend. Kein Wort zuviel und jede Erinnerung ein wertvolles Stück Wahrheit, das die Zeit bedroht. Bislang hielt Semprún das Erinnern für gesichert. In "Le mort qu'il faut" zeigt er sich erstmals beunruhigt über das Überliefern nach dem Tod der letzten Überlebenden. Stören sie nicht jetzt schon - oder noch? - den Betrieb der Historiker und das Geschäft des Gedenkens? Der perfekte Zeuge wäre nur jener gewesen, der im Lager starb.
"Im Moment, da ich dies schreibe, lebe ich zumindest noch, fast auf den Tag genau sechsundfünfzig Jahre nach den Ereignissen": Es tönt wie ein trotziges Aufbäumen. Wie wird die große Reise in der Erinnerung nach dem Erinnern weitergehen? "Der gebrauchte Tote" ist nochmals ein großes Buch der Lagerliteratur: seiner Bedeutung nach ein endgültiges - mehr wird nicht zu sagen sein - und möglicherweise auch das letzte.
JÜRG ALTWEGG
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Leben und Lesen im KZ: Semprún setzt die "Große Reise" fort
PARIS, Anfang Juli
Im Frühsommer 1999 besuchte Jorge Semprún Hans Magnus Enzensberger in München. Sie waren 1968 zusammen in Kuba gewesen. In Enzensbergers Bibliothek, deren Ordentlichkeit ihn beeindruckt, greift der Gast zu einem gelben Buch aus dem Verlag Rowohlt. Mit klopfendem Herzen blättert er auf der Suche nach den "Sätzen am Ende": "Und Sie sind? Henry Sutpen. Und Sie sind hier? Vier Jahre. Und Sie kehrten zurück? Um zu sterben. Ja." Er kennt sie auswendig, er zitiert sie deutsch. Sie sind aus Faulkners "Absalon! Absalon!" und dem Spanier, der als Student im Pariser Exil Heideggers "Sein und Zeit" im Original gelesen hatte, seit einem halben Jahrhundert nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Er hatte den Roman im Dezember 1944 in der Bibliothek des Konzentrationslagers Buchenwald vorgefunden und in seinen schlaflosen Nächten verschlungen, "während die amerikanischen Soldaten in den Ardennen keinen Zentimeter preisgaben". Gleiche Ausstattung, gleiche Übersetzung (von Hermann Stresau) - das Exemplar, das Enzensberger seinem Gast und Genossen mitgeben wird, stammt allerdings aus der zweiten Auflage. Im Lager gab es die Erstausgabe, 1938 erschienen, "im Jahr der Kapitulation von München und der Reichskristallnacht", erstes bis viertes Tausend.
In solchen Sprüngen und Assoziationen funktioniert bei Semprún das Erinnern. Er berichtet von seinem Münchner Besuch in "Le mort qu'il faut". Das Buch ist soeben bei Gallimard erschienen. "Der Tote, den wir brauchen", könnte man seinen Titel übersetzen. Oder etwas freier und nicht weniger genau: "Der gebrauchte Tote". Einen Toten, der ihm ähnlich sah, brauchte Semprún, um zu überleben. Die besten Voraussetzungen dafür hatten im Konzentrationslager, dessen Funktionieren und Hierarchie der Schriftsteller gegen alle Klischees beschreibt, Kommunisten und jene, die ihren Schutz genossen. Der Handlungsspielraum der geheimen Lagerleitung, die sie bildeten, war beschränkt, aber er umfaßte die Macht der Entscheidung über Leben oder Tod zumindest einzelner Deportierter.
Der im französischen Widerstand junge Spanier gehörte nicht zur "roten Aristokratie", zu den "Prominenten" mit ein paar Privilegien, sondern eher zu den "Plebejern". Doch als man sich aus Berlin nach ihm erkundigte, beschlossen die kommunistischen Chefs, ihn zu retten. Man würde einen der todgeweihten "Muselmänner" - sie bildeten im Lager die unterste Schicht und hatten jeden Lebenswillen verloren - unter seinem Namen sterben lassen. Die Wahl fiel auf François L., der im selben Zug deportiert worden war: gleichaltrig, französischsprachig, Student aus Paris - fast ein Idealfall. Nur die Vorstellung, mit dem bekannten Namen eines Nazis weiterzuleben, behagte Semprún nicht gerade: François L. war vom eigenen Vater, einem der Führer der französischen "Milice", ausgeliefert worden. Man übergab ihm dessen Kleider und ließ ihn wissen, daß er im Falle einer Kontrolle krankgespritzt werden müßte.
Die Nacht des Todes verbrachte Semprún an der Seite des Sterbenden. Regelmäßig hatten sie vor der Verlegung von François L. ins Revier über das Leben und die Literatur diskutiert. Ihre Kenntnisse waren auf dem neusten Stand. Beide hatten "Der Fremde" und sogar Maurice Blanchot gelesen. Über alle Autoren waren sie gleicher Meinung - nur nicht über Faulkner. François L. wollte nach seiner Rückkehr über das Lager schreiben und sich in seinen Schilderungen einen Reisegefährten zulegen. Er hatte in seiner Dramaturgie Semprún für die Rolle des Compagnon vorgesehen, "bist du einverstanden? Du wirst eine Figur der Fiktion, auch wenn ich überhaupt nichts erfinde."
Im Rückblick glaubt sich Semprún bewußt zu werden, daß er, als er "Die große Reise" zu schreiben begann, genau das tat, was François geraten und vorgeschwebt hatte. "Wozu soll man auch Bücher schreiben, wenn man die Wahrheit nicht erfindet. Oder, besser noch, die Wahrscheinlichkeit." Während oder kurz nach dem Sterben des Gefährten an seiner Seite, mit dessen "Abgang" seine eigene Existenz im Lager sehr viel sicherer wurde, war Semprún eingeschlafen. Schlafen konnte er immer, auch zwischen zwei Verhören durch die Gestapo. Er verpaßte François' Überführung in die Verbrennungsöfen und wäre um ein Haar selber von den Leichenträgern mitgenommen worden. Das haben ihm zumindest die Genossen, die seine neue Identität organisierten, erzählt - Wahrheit, Wahrscheinlichkeit.
Jorge Semprún hat seinen späten Bericht nicht in chronologischer Reihenfolge konzipiert. Doch seine Zeiten- und Gedankensprünge bleiben stets nachvollziehbar. Der rote Faden ist die Auskunft, nach der Berlin verlangt hat. Erst am Schluß erfährt man die Hintergründe: es war François' Botschafter im (bereits befreiten) Paris, der sich in Berlin nach ihm erkundigte - der Vater des Deportieren, ein katholischer Republikaner, hatte ihn darum gebeten. Niemand zweifelte mehr an der Niederlage der Deutschen.
In Buchenwald indes setzte die Tatsache, daß ein hoher Faschist den Genossen Häftling zu protegieren schien, Semprún dem Mißtrauen der kommunistischen Chefs aus. Er wurde verhört. Erstmals sprach bei dieser Gelegenheit der Chef der geheimen Lagerleitung zu ihm. Es war Walter Bartel. Ihn und Ernst Busse nennt er als einzige Figuren seiner Schilderung beim wirklichen Namen. Beide gerieten später "in die tödliche Spirale der letzten stalinistischen Prozesse". Sie wurden der Kollaboration mit der Gestapo angeklagt. Busse starb 1952 im GULag.
Walter Bartel, der Semprún wohl am liebsten in den Tod geschickt hätte, verteidigte sich standhaft, räumte Irrtümer ein, legte aber kein Geständnis ab. Er wurde einer der Pioniere beim Aufbau der DDR, war ein enger Mitarbeiter von Wilhelm Pieck und machte in der DDR als Historiker eine brillante akademische Karriere. 1984 gratulierte ihm Erich Honecker persönlich im "Neuen Deutschland" zum achtzigsten Geburtstag.
Erst im Jahr nach seiner Kuba-Reise mit Enzensberger erfährt Semprún im besetzten Prag 1969 vom Schicksal seiner roten Kapos, die nicht unbeträchtliche Risiken eingegangen waren, um sein Leben zu schützen, das nicht wirklich in Gefahr war. Davon handelt der Epilog. Einer seiner Mitgefangenen hatte - in der deutschen Übersetzung - "Die große Reise" gelesen: "Du mußt die Nacht im Revier erzählen, an der Seite deines ,Muselmannes', und alles was dazugehört, inklusive Busse und Bartel." Mit dieser Szene schließt das Buch: "Vielleicht hatte ich zuviel getrunken, aber die Idee schien mir einzuleuchten." Nach seiner Rückkehr aus Buchenwald hatte dann tatsächlich geschrieben. "Doch je mehr ich mit meinem Buch vorwärtskam, um so mehr entfernte ich mich vom Leben", erklärte er 1994, als er in Frankfurt den Friedenspreis bekam. Und über etwas anderes konnte er nicht schreiben. Erst siebzehn Jahre nach dem Ende des Kriegs entstand "Die große Reise". "Le mort qu'il faut" greift neue Motive und Ereignisse auf. Der Systemvergleich ist nicht mehr tabu - in Buchenwald war Semprún erleichtert, daß ihm die Schilderung der sowjetischen Lager durch einen russischen Häftling, der im GULag war, erspart blieb. Geglaubt, gesteht er sich selber ein, hätte er ihm wie die anderen sowieso nicht.
Er zeichnet aus der fernen Erinnerung ein Porträt des Toten, der als Jorge Semprún starb und in dessen Haut er mit diesem späten Buch zu schlüpfen scheint. Er sucht nach Bezügen, Parallelen, Gemeinsamkeiten jenseits des Lesens und Schreibens. Möglicherweise hatten sie in Paris die gleiche Frau geliebt. Eindringlicher, intensiver, ergreifender als der Hunger und Durst, Hitze und Kälte, die Erschöpfung, die Ausbeutung, die Hierarchie der Klassengesellschaft im KZ und die Solidarität wird in Semprúns Bericht die Erniedrigung durch die totale und permanente Promiskuität geschildert. Kein Akt, kein Schritt, keine Geste entging dem Blick der anderen.
Ein Bedürfnis nach Rache oder auch nur "Verstehenwollen", Schuldgefühle des Überlebenden oder Haßempfindungen sucht man in Semprúns Büchern vergeblich. Keine Spur von Klage und Anklage. Der Schriftsteller legt Zeugnis ab; nüchtern, nackt, beklemmend. Kein Wort zuviel und jede Erinnerung ein wertvolles Stück Wahrheit, das die Zeit bedroht. Bislang hielt Semprún das Erinnern für gesichert. In "Le mort qu'il faut" zeigt er sich erstmals beunruhigt über das Überliefern nach dem Tod der letzten Überlebenden. Stören sie nicht jetzt schon - oder noch? - den Betrieb der Historiker und das Geschäft des Gedenkens? Der perfekte Zeuge wäre nur jener gewesen, der im Lager starb.
"Im Moment, da ich dies schreibe, lebe ich zumindest noch, fast auf den Tag genau sechsundfünfzig Jahre nach den Ereignissen": Es tönt wie ein trotziges Aufbäumen. Wie wird die große Reise in der Erinnerung nach dem Erinnern weitergehen? "Der gebrauchte Tote" ist nochmals ein großes Buch der Lagerliteratur: seiner Bedeutung nach ein endgültiges - mehr wird nicht zu sagen sein - und möglicherweise auch das letzte.
JÜRG ALTWEGG
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