Produktdetails
- Verlag: Messidor, Paris
- ISBN-13: 9782209058150
- Artikelnr.: 41746282
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2024Menschen an der Seine
Es geht wieder. So wie früher. Einfach reinspringen - in die Seine. Jedenfalls behauptet die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, das. Eine Milliarde Euro haben sich die Franzosen die Reinigung des Flusses kosten lassen, damit die olympischen Schwimmer direkt in der lange als besonders schmutzig geltenden Seine ihre Medaillen holen können. Auf dem Foto, das Hidalgo in der Seine zeigt, schaut sie ein bisschen unglücklich, eher so, als sei sie in den Fluss hineingefallen, was aber auch daran liegen kann, dass die in Paris zahlreich vertretenen Hidalgo-Hasser unter dem Hashtag #jechiedanslaseine angedroht hatten, die frisch gereinigte Seine extra auf eine sehr unappetitliche Weise zu verunreinigen, um die Bürgermeisterin zu ärgern. Der Gesichtsausdruck von Hidalgo ist jedenfalls kein Vergleich zu dem Glück, das die Schwimmer des Jahres 1945 offensichtlich empfunden haben, als sie in diesem ersten heißen Sommer nach dem Ende des Kriegs vom Pont de Iéna direkt vor dem Eiffelturm in die Seine sprangen, um sich abzukühlen.
Damals war ein 33-jähriger Fotograf dabei, der diese Rückkehr eines unbeschwerten, wilden Moments nach den Verheerungen des Krieges für die Nachwelt festhielt. Der Mann hieß Robert Doisneau und war gerade dabei, zum berühmtesten Fotografen Frankreichs aufzusteigen, dessen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Menschen und Momenten in Paris das internationale Bild der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg prägen werden. Doisneau wird 1912 in Gentilly im Süden von Paris geboren. Sein Vater ist Klempnermeister. 1919 stirbt Doisneaus Mutter, drei Jahre später heiratet sein Vater ein zweites Mal. Doisneau wächst, wie er später erzählt, mit einem "wilden Haufen" von Kameraden aus den Elendsquartieren auf; "mit ihnen hatte ich riesigen Spaß. Da gab es Italiener, Russen, Polen." Sie treiben sich am Ufer der Bièvre herum, eines stinkenden Kanals, in die Lederfabriken ihre Abwässer leiten. Hier, zwischen der Porte de Gentilly und den Schlachthöfen von Vaugirard, beginnt Doisneau auf den Spuren des von ihm bewunderten Sozialfotografen Eugène Atget herumzustreifen. Nach der Schule, die er mit 13 verlässt, wird er an einer Kunstgewerbeschule aufgenommen und zum Lithographen ausgebildet, fängt aber schon früh mit dem Fotografieren im Stil der Neuen Sachlichkeit an.
Doisneau interessierten zeit seines Lebens die Ränder mehr als das Zentrum: die einfachen Leute, die Arbeiter und Händler, die Kinder am Straßenrand. Es ist bezeichnend, dass seine erste Fotoreportage 1932 das Leben auf dem Flohmarkt von Saint-Ouen zeigt. Zwei Jahre später heuert er in den Renault-Fabriken in Boulogne-Billancourt als Werksfotograf an. Als einer der ersten französischen Fotografen seiner Generation verleiht er all denjenigen, die sonst nie fotografiert wurden, Bildwürde. Seine Helden sind die Alltagsfiguren der Vorstadt, in den Momentaufnahmen und den Porträts erfährt man mehr über die Hoffnungen und Sorgen einer Epoche als in vielen Geschichtsbüchern. "Von Montrouge zur Porte de Clignancourt kann ich auf Zehenspitzen gehen", sagt Doisneau einmal. "Ich komme keine 400 Meter weit, ohne einen Bekannten zu treffen: den Wirt eines Bistros, einen Tischler, einen Drucker, einen Maler oder einfach nur einen von der Straße." Sie sind die Helden seiner Bilder.
Doisneau wartet an Ecken, auf die die Pariser Morgensonne fällt, bis etwas passiert, jemand auftaucht. Ein Kind, das Handstand macht. Ein anderes Kind, das mit seinem kleinen Geschwister vom Milch- und Zeitungsholen zurückkommt, die Eltern lesen die "Humanité", die kommunistische Tageszeitung. Zu jedem der Fotos könnte man eine Kurzgeschichte schreiben. Manchmal passiert lange gar nichts, dann fotografiert er nur das Glück eines Moments im warmen Gegenlicht, der das Typische von Paris sichtbar macht, jene Stimmung, die sich aus dem Halblicht unter den Platanen, dem Glanz des Pflasters, den sandsteinernen Hausfassaden, den Markisen der Cafés und den Blechdächern mit den tönernen Schornsteintöpfen zusammensetzt.
Im Krieg stellt Doisneau, der gelernte Lithograph, "ausgezeichnete falsche Papiere" für die Résistance her und fotografiert ohne Auftrag eine Stadt im Ausnahmezustand: Seine Bilder zeigen Menschen mit Rationskarten, Wartende vor fast leeren Geschäften, Menschen, die bei Fliegeralarm in die tief gelegenen Métrostationen fliehen. In den vielen bisher unbekannten Aufnahmen, die er im Krieg macht, lernt man einen Fotografen kennen, der sehr viel ernster und auf eine tiefere Weise humanistisch war, als manche seiner zum Gag neigenden Bilder - ein Cellist klemmt sich den Bogen an die Nase - vermuten lassen. Ein Bild zeigt ein Paar im Kriegswinter 1944, das seinen Kindern ein sehr karges Festessen serviert, ein anderes ein kleines Kreuz mitten auf der Straße für jemanden, der bei der Befreiung von Paris getötet wurde.
Nach dem Krieg erscheinen seine Bilder in "Life", der "Vogue" und "Paris Match": Doisneau dokumentiert, wie das vom Krieg zerfurchte und traumatisierte Land langsam wieder zu sich findet. Er fotografiert in den Jazzkneipen von Saint Germain, aber immer noch ist es die Banlieue, aus der er stammt, die ihn am meisten interessiert: Er veröffentlicht Fotobücher über sie, eins erscheint 1949 mit Texten des Schriftstellers Blaise Cendrars.
Aber dann ist es doch ein Bild aus dem Zentrum von Paris, aufgenommen 1950 vor dem Hotel de Ville, das ihn weltberühmt macht - es zeigt ein Paar, das sich im Laufen vor dem Rathaus von Paris küsst. Es ist ein Bild, über das viel gerätselt wurde (ist es wirklich beobachtet oder gestellt? Antwort: mit Schauspielschülern gestellt). Irgendwann, als Millionen von Postkarten gedruckt worden waren und es als eines der meistreproduzierten Bilder der Welt galt, meldeten sich die beiden Personen auf dem Bild, die Frau verlangte eine Beteiligung von einhunderttausend Francs, ihre Klage wurde aber abgewiesen. Nicht bei allen Fotos hat Doisneau derart inszeniert, viele Bilder sind wirklich Momentaufnahmen anonymer Personen. Es ist eine Fotografie, wie sie heute aus persönlichkeitsrechtlichen Vorgaben nicht mehr möglich wäre - obwohl diese Rechte von den alles abknipsenden Instagram-Irren jede Sekunde zigmillionenfach verletzt werden. So ist die Reportagefotografie, die an der im Momentbild aufscheinenden Wahrheit interessiert ist, gleichzeitig an ihr Ende gekommen und unentrinnbarer Teil des Daseins aller im Digitalzeitalter geworden.
Doisneau komponiert seine Bilder des Alltags wie die klassischen Maler ihre Historienbilder. 1954 feiert ihn das Museum of Contemporary Art in Chicago. Als er 1994 im Alter von 81 Jahren in Montrouge stirbt, hinterlässt er ein Archiv mit 450.000 Negativen. Jean Claude Gautrand, ein Vertrauter der Familie, hat für den jetzt im Taschen-Verlag erschienenen Band viel Unbekanntes aus den Archiven gehoben; spektakulär sind die bisher unbekannten Farbaufnahmen aus den Sechzigerjahren, die jenseits der heiteren Schwarz-Weiß-Bilder des alten Paris einen anderen Doisneau zeigen, einen hellwachen Beobachter des großen Umbruchs vom alten zum modernen Paris. Doisneau fotografiert die legendären Hallen, den "Bauch von Paris", wo alle Nahrungsmittel, die die Stadt braucht, verkauft - und so wie er die leuchtenden Hallen und die Menschenmassen, die in sie hineinströmen, fotografiert, wird klar, dass dies hier das wirkliche Kraftzentrum der Stadt war, ihr Herz, durch das das Blut der Schlachterhallen floss, ein Ort, an dem Nachtschwärmer und Frühaufsteher zusammenkamen, ganz so wie es Jacques Dutronc in seinem Chanson "Il est cinq heures, Paris s'éveille", dem vielleicht schönsten je über Paris geschriebenen Lied, besingt.
Dann werden die Hallen abgerissen; unter dem Premierminister und späteren Präsidenten Georges Pompidou, einem Bankier, der mit seinem Porsche durch die Stadt rast und sie etwas zu altmodisch findet, modernisiert sich Paris wie kaum je zuvor. Das Centre Pompidou wird geplant, das Geschäftsviertel La Défense, die Tour Montparnasse markiert wie ein dunkles Ausrufezeichen die Ankunft der Wolkenkratzermoderne. Doisneau erkennt, wie der geistesverwandte Poet der absurden Komik, Jacques Tati, das Kuriose im modernen Paris. Er fotografiert die Wegweiser, die wie ein surreales Gedicht auf zehn Schildern wirken, aber er entdeckt auch die neuen Utopien der Arbeiterklasse und eine Architektur, die Hoffnung macht: In Ivry-sur-Seine bauen die Architekten Renée Gailhoustet und Jean Renaudie Häuser für die Massen als getreppte Pyramiden, sodass jede Wohnung eine gartengroße Terrasse bekommt. Auch diese neue Banlieue interessiert Doisneau, die Frage, wie Menschen im Paris der Zukunft leben könnten.
So ist dieser Band nicht nur ein Zeugnis der "humanistischen Fotografie" des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern auch ein Buch, das die Geschichte und die möglichen Zukünfte von Paris anders sehen und verstehen lässt.
NIKLAS MAAK
Robert Doisneau: Paris. Jean Claude Gautrand, Taschen, 556 Seiten, 50 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Es geht wieder. So wie früher. Einfach reinspringen - in die Seine. Jedenfalls behauptet die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, das. Eine Milliarde Euro haben sich die Franzosen die Reinigung des Flusses kosten lassen, damit die olympischen Schwimmer direkt in der lange als besonders schmutzig geltenden Seine ihre Medaillen holen können. Auf dem Foto, das Hidalgo in der Seine zeigt, schaut sie ein bisschen unglücklich, eher so, als sei sie in den Fluss hineingefallen, was aber auch daran liegen kann, dass die in Paris zahlreich vertretenen Hidalgo-Hasser unter dem Hashtag #jechiedanslaseine angedroht hatten, die frisch gereinigte Seine extra auf eine sehr unappetitliche Weise zu verunreinigen, um die Bürgermeisterin zu ärgern. Der Gesichtsausdruck von Hidalgo ist jedenfalls kein Vergleich zu dem Glück, das die Schwimmer des Jahres 1945 offensichtlich empfunden haben, als sie in diesem ersten heißen Sommer nach dem Ende des Kriegs vom Pont de Iéna direkt vor dem Eiffelturm in die Seine sprangen, um sich abzukühlen.
Damals war ein 33-jähriger Fotograf dabei, der diese Rückkehr eines unbeschwerten, wilden Moments nach den Verheerungen des Krieges für die Nachwelt festhielt. Der Mann hieß Robert Doisneau und war gerade dabei, zum berühmtesten Fotografen Frankreichs aufzusteigen, dessen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Menschen und Momenten in Paris das internationale Bild der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg prägen werden. Doisneau wird 1912 in Gentilly im Süden von Paris geboren. Sein Vater ist Klempnermeister. 1919 stirbt Doisneaus Mutter, drei Jahre später heiratet sein Vater ein zweites Mal. Doisneau wächst, wie er später erzählt, mit einem "wilden Haufen" von Kameraden aus den Elendsquartieren auf; "mit ihnen hatte ich riesigen Spaß. Da gab es Italiener, Russen, Polen." Sie treiben sich am Ufer der Bièvre herum, eines stinkenden Kanals, in die Lederfabriken ihre Abwässer leiten. Hier, zwischen der Porte de Gentilly und den Schlachthöfen von Vaugirard, beginnt Doisneau auf den Spuren des von ihm bewunderten Sozialfotografen Eugène Atget herumzustreifen. Nach der Schule, die er mit 13 verlässt, wird er an einer Kunstgewerbeschule aufgenommen und zum Lithographen ausgebildet, fängt aber schon früh mit dem Fotografieren im Stil der Neuen Sachlichkeit an.
Doisneau interessierten zeit seines Lebens die Ränder mehr als das Zentrum: die einfachen Leute, die Arbeiter und Händler, die Kinder am Straßenrand. Es ist bezeichnend, dass seine erste Fotoreportage 1932 das Leben auf dem Flohmarkt von Saint-Ouen zeigt. Zwei Jahre später heuert er in den Renault-Fabriken in Boulogne-Billancourt als Werksfotograf an. Als einer der ersten französischen Fotografen seiner Generation verleiht er all denjenigen, die sonst nie fotografiert wurden, Bildwürde. Seine Helden sind die Alltagsfiguren der Vorstadt, in den Momentaufnahmen und den Porträts erfährt man mehr über die Hoffnungen und Sorgen einer Epoche als in vielen Geschichtsbüchern. "Von Montrouge zur Porte de Clignancourt kann ich auf Zehenspitzen gehen", sagt Doisneau einmal. "Ich komme keine 400 Meter weit, ohne einen Bekannten zu treffen: den Wirt eines Bistros, einen Tischler, einen Drucker, einen Maler oder einfach nur einen von der Straße." Sie sind die Helden seiner Bilder.
Doisneau wartet an Ecken, auf die die Pariser Morgensonne fällt, bis etwas passiert, jemand auftaucht. Ein Kind, das Handstand macht. Ein anderes Kind, das mit seinem kleinen Geschwister vom Milch- und Zeitungsholen zurückkommt, die Eltern lesen die "Humanité", die kommunistische Tageszeitung. Zu jedem der Fotos könnte man eine Kurzgeschichte schreiben. Manchmal passiert lange gar nichts, dann fotografiert er nur das Glück eines Moments im warmen Gegenlicht, der das Typische von Paris sichtbar macht, jene Stimmung, die sich aus dem Halblicht unter den Platanen, dem Glanz des Pflasters, den sandsteinernen Hausfassaden, den Markisen der Cafés und den Blechdächern mit den tönernen Schornsteintöpfen zusammensetzt.
Im Krieg stellt Doisneau, der gelernte Lithograph, "ausgezeichnete falsche Papiere" für die Résistance her und fotografiert ohne Auftrag eine Stadt im Ausnahmezustand: Seine Bilder zeigen Menschen mit Rationskarten, Wartende vor fast leeren Geschäften, Menschen, die bei Fliegeralarm in die tief gelegenen Métrostationen fliehen. In den vielen bisher unbekannten Aufnahmen, die er im Krieg macht, lernt man einen Fotografen kennen, der sehr viel ernster und auf eine tiefere Weise humanistisch war, als manche seiner zum Gag neigenden Bilder - ein Cellist klemmt sich den Bogen an die Nase - vermuten lassen. Ein Bild zeigt ein Paar im Kriegswinter 1944, das seinen Kindern ein sehr karges Festessen serviert, ein anderes ein kleines Kreuz mitten auf der Straße für jemanden, der bei der Befreiung von Paris getötet wurde.
Nach dem Krieg erscheinen seine Bilder in "Life", der "Vogue" und "Paris Match": Doisneau dokumentiert, wie das vom Krieg zerfurchte und traumatisierte Land langsam wieder zu sich findet. Er fotografiert in den Jazzkneipen von Saint Germain, aber immer noch ist es die Banlieue, aus der er stammt, die ihn am meisten interessiert: Er veröffentlicht Fotobücher über sie, eins erscheint 1949 mit Texten des Schriftstellers Blaise Cendrars.
Aber dann ist es doch ein Bild aus dem Zentrum von Paris, aufgenommen 1950 vor dem Hotel de Ville, das ihn weltberühmt macht - es zeigt ein Paar, das sich im Laufen vor dem Rathaus von Paris küsst. Es ist ein Bild, über das viel gerätselt wurde (ist es wirklich beobachtet oder gestellt? Antwort: mit Schauspielschülern gestellt). Irgendwann, als Millionen von Postkarten gedruckt worden waren und es als eines der meistreproduzierten Bilder der Welt galt, meldeten sich die beiden Personen auf dem Bild, die Frau verlangte eine Beteiligung von einhunderttausend Francs, ihre Klage wurde aber abgewiesen. Nicht bei allen Fotos hat Doisneau derart inszeniert, viele Bilder sind wirklich Momentaufnahmen anonymer Personen. Es ist eine Fotografie, wie sie heute aus persönlichkeitsrechtlichen Vorgaben nicht mehr möglich wäre - obwohl diese Rechte von den alles abknipsenden Instagram-Irren jede Sekunde zigmillionenfach verletzt werden. So ist die Reportagefotografie, die an der im Momentbild aufscheinenden Wahrheit interessiert ist, gleichzeitig an ihr Ende gekommen und unentrinnbarer Teil des Daseins aller im Digitalzeitalter geworden.
Doisneau komponiert seine Bilder des Alltags wie die klassischen Maler ihre Historienbilder. 1954 feiert ihn das Museum of Contemporary Art in Chicago. Als er 1994 im Alter von 81 Jahren in Montrouge stirbt, hinterlässt er ein Archiv mit 450.000 Negativen. Jean Claude Gautrand, ein Vertrauter der Familie, hat für den jetzt im Taschen-Verlag erschienenen Band viel Unbekanntes aus den Archiven gehoben; spektakulär sind die bisher unbekannten Farbaufnahmen aus den Sechzigerjahren, die jenseits der heiteren Schwarz-Weiß-Bilder des alten Paris einen anderen Doisneau zeigen, einen hellwachen Beobachter des großen Umbruchs vom alten zum modernen Paris. Doisneau fotografiert die legendären Hallen, den "Bauch von Paris", wo alle Nahrungsmittel, die die Stadt braucht, verkauft - und so wie er die leuchtenden Hallen und die Menschenmassen, die in sie hineinströmen, fotografiert, wird klar, dass dies hier das wirkliche Kraftzentrum der Stadt war, ihr Herz, durch das das Blut der Schlachterhallen floss, ein Ort, an dem Nachtschwärmer und Frühaufsteher zusammenkamen, ganz so wie es Jacques Dutronc in seinem Chanson "Il est cinq heures, Paris s'éveille", dem vielleicht schönsten je über Paris geschriebenen Lied, besingt.
Dann werden die Hallen abgerissen; unter dem Premierminister und späteren Präsidenten Georges Pompidou, einem Bankier, der mit seinem Porsche durch die Stadt rast und sie etwas zu altmodisch findet, modernisiert sich Paris wie kaum je zuvor. Das Centre Pompidou wird geplant, das Geschäftsviertel La Défense, die Tour Montparnasse markiert wie ein dunkles Ausrufezeichen die Ankunft der Wolkenkratzermoderne. Doisneau erkennt, wie der geistesverwandte Poet der absurden Komik, Jacques Tati, das Kuriose im modernen Paris. Er fotografiert die Wegweiser, die wie ein surreales Gedicht auf zehn Schildern wirken, aber er entdeckt auch die neuen Utopien der Arbeiterklasse und eine Architektur, die Hoffnung macht: In Ivry-sur-Seine bauen die Architekten Renée Gailhoustet und Jean Renaudie Häuser für die Massen als getreppte Pyramiden, sodass jede Wohnung eine gartengroße Terrasse bekommt. Auch diese neue Banlieue interessiert Doisneau, die Frage, wie Menschen im Paris der Zukunft leben könnten.
So ist dieser Band nicht nur ein Zeugnis der "humanistischen Fotografie" des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern auch ein Buch, das die Geschichte und die möglichen Zukünfte von Paris anders sehen und verstehen lässt.
NIKLAS MAAK
Robert Doisneau: Paris. Jean Claude Gautrand, Taschen, 556 Seiten, 50 Euro
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