Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2011Die Boeing im Eiffelturm
Amélie Nothomb spielt mit menschlichen Ängsten
Es gibt viele Gründe, warum Beziehungen scheitern - und mindestens so viele Möglichkeiten, damit umzugehen. Zoïle wählt einen ungewöhnlichen Weg, seine Frustration zu bewältigen. Das liegt vielleicht daran, dass die Umstände, die seiner Liebe zu Astrolabe keinen Raum erlaubten, ebenfalls nicht alltäglich waren. Und dass eine Liebesgeschichte von Amélie Nothomb, die schon in früheren Romanen bewiesen hat, dass es für sie kein Tabu gibt, nicht gewöhnlich sein kann.
"Winterreise" ist der jüngste Roman der 1967 geborenen Belgierin, die seit Jahren wie am Fließband schreibt, jeden Tag mindestens vier Stunden, aber stets nur ein Werk pro Jahr veröffentlicht. Viele ihrer Bücher sind autobiographisch geprägt: Sie erzählen das Leben einer Diplomatentochter, die überall und nirgends zu Hause ist. In "Winterreise" erteilt Amélie Nothomb aber Zoïle das Wort. Der Heizungsfachmann soll erzählen, warum er sich am Pariser Flughafen Roissy Charles de Gaulle befindet, mit dem Plan im Kopf, in vier Stunden eine vollbesetzte Boeing 747 in den Eiffelturm zu steuern.
Natürlich ist es eine Frau, die Zoïle in diese Verzweiflung getrieben hat. Vom ersten Moment an hatte er sich in die junge Astrolabe verliebt, die zusammen mit der behinderten Aliénor in einer ungeheizten Dachwohnung überwintert, in dicke Schichten Kleider gehüllt, mit Brandwunden von geplatzten Wärmeflaschen an den Händen. Astrolabe will weder Hilfe annehmen noch mit ihrem Verehrer ausgehen. Sie hat mit der "Bekloppten", wie Zoïle die an einer Form von Autismus leidende, sehr begabte Frau nennt, einen Vertrag abgeschlossen: Sie wird sie nie alleinlassen. Das sind denkbar ungünstige Voraussetzungen für eine Beziehung, auch wenn Astrolabe sich zu dem philologisch gebildeten Zoïle hingezogen fühlt. Ihr Pflichtbewusstsein und die Unselbständigkeit von Aliénor lassen keinen Platz für Zweisamkeit.
Amélie Nothomb versteht es, ernste Situationen auf einmal ins Groteske kippen zu lassen. Ihr Sätze sind einfach und klar und wirken nicht selten apodiktisch. Das ist unterhaltsam. Aber auch wenn Zoïle seine Angebetete Astrolabe bisweilen "Meine Kälte-Fata-Morgana" nennt, so bleibt er seiner Überzeugung treu, dass sie "die Güte an sich" ist - die er um jeden Preis besitzen will. Er hört Schubert, schreibt schwärmerische Briefe und lädt die beiden Frauen schließlich zu den elektronischen Klängen von Aphex Twin auf eine ungewöhnliche Reise ein. Aber auch das bringt ihm Astrolabe nicht näher. Am Ende gibt es für Zoïle nur einen Ausweg: "Wenn selbst das Prunkstück der Menschheit nicht mehr taugt, sollte man mit der Gesamtheit aufräumen."
Dafür gäbe es, besonders in der Phantasie einer Amélie Nothomb, mehrere Möglichkeiten. Sie wählt eine, die man in Zeiten, in denen Bahnhöfe und Flughäfen von Polizisten patrouilliert werden, regelmäßig Terrorverdächtige festgenommen und Anschläge vereitelt werden, aber nicht lesen möchte. Amélie Nothomb mag es, in menschliche Abgründe zu tauchen und zu provozieren - das hat sie zuletzt mit ihrem Roman "Reality-Show" bewiesen, in dem sich die Teilnehmer einer Fernsehshow in ein zum Spaß eingerichtetes Konzentrationslager begaben. Aber die Leichtigkeit, mit der sie Zoïles Plan rechtfertigt, ihn ins Flugzeug steigen und dort die bald Sterbenden begrüßen lässt, ist geschmacklos. Dass Zoïle von sich selbst behauptet, er sei kein Terrorist - "um sich von dem Abschaum zu unterscheiden, der einen Vorwand für seinen Hass brauche" -, ändert daran auch nichts.
NINA BELZ.
Amélie Nothomb: "Winterreise". Roman.
Aus dem Französischen von Brigitte Große. Diogenes Verlag, Zürich 2011, 128 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Amélie Nothomb spielt mit menschlichen Ängsten
Es gibt viele Gründe, warum Beziehungen scheitern - und mindestens so viele Möglichkeiten, damit umzugehen. Zoïle wählt einen ungewöhnlichen Weg, seine Frustration zu bewältigen. Das liegt vielleicht daran, dass die Umstände, die seiner Liebe zu Astrolabe keinen Raum erlaubten, ebenfalls nicht alltäglich waren. Und dass eine Liebesgeschichte von Amélie Nothomb, die schon in früheren Romanen bewiesen hat, dass es für sie kein Tabu gibt, nicht gewöhnlich sein kann.
"Winterreise" ist der jüngste Roman der 1967 geborenen Belgierin, die seit Jahren wie am Fließband schreibt, jeden Tag mindestens vier Stunden, aber stets nur ein Werk pro Jahr veröffentlicht. Viele ihrer Bücher sind autobiographisch geprägt: Sie erzählen das Leben einer Diplomatentochter, die überall und nirgends zu Hause ist. In "Winterreise" erteilt Amélie Nothomb aber Zoïle das Wort. Der Heizungsfachmann soll erzählen, warum er sich am Pariser Flughafen Roissy Charles de Gaulle befindet, mit dem Plan im Kopf, in vier Stunden eine vollbesetzte Boeing 747 in den Eiffelturm zu steuern.
Natürlich ist es eine Frau, die Zoïle in diese Verzweiflung getrieben hat. Vom ersten Moment an hatte er sich in die junge Astrolabe verliebt, die zusammen mit der behinderten Aliénor in einer ungeheizten Dachwohnung überwintert, in dicke Schichten Kleider gehüllt, mit Brandwunden von geplatzten Wärmeflaschen an den Händen. Astrolabe will weder Hilfe annehmen noch mit ihrem Verehrer ausgehen. Sie hat mit der "Bekloppten", wie Zoïle die an einer Form von Autismus leidende, sehr begabte Frau nennt, einen Vertrag abgeschlossen: Sie wird sie nie alleinlassen. Das sind denkbar ungünstige Voraussetzungen für eine Beziehung, auch wenn Astrolabe sich zu dem philologisch gebildeten Zoïle hingezogen fühlt. Ihr Pflichtbewusstsein und die Unselbständigkeit von Aliénor lassen keinen Platz für Zweisamkeit.
Amélie Nothomb versteht es, ernste Situationen auf einmal ins Groteske kippen zu lassen. Ihr Sätze sind einfach und klar und wirken nicht selten apodiktisch. Das ist unterhaltsam. Aber auch wenn Zoïle seine Angebetete Astrolabe bisweilen "Meine Kälte-Fata-Morgana" nennt, so bleibt er seiner Überzeugung treu, dass sie "die Güte an sich" ist - die er um jeden Preis besitzen will. Er hört Schubert, schreibt schwärmerische Briefe und lädt die beiden Frauen schließlich zu den elektronischen Klängen von Aphex Twin auf eine ungewöhnliche Reise ein. Aber auch das bringt ihm Astrolabe nicht näher. Am Ende gibt es für Zoïle nur einen Ausweg: "Wenn selbst das Prunkstück der Menschheit nicht mehr taugt, sollte man mit der Gesamtheit aufräumen."
Dafür gäbe es, besonders in der Phantasie einer Amélie Nothomb, mehrere Möglichkeiten. Sie wählt eine, die man in Zeiten, in denen Bahnhöfe und Flughäfen von Polizisten patrouilliert werden, regelmäßig Terrorverdächtige festgenommen und Anschläge vereitelt werden, aber nicht lesen möchte. Amélie Nothomb mag es, in menschliche Abgründe zu tauchen und zu provozieren - das hat sie zuletzt mit ihrem Roman "Reality-Show" bewiesen, in dem sich die Teilnehmer einer Fernsehshow in ein zum Spaß eingerichtetes Konzentrationslager begaben. Aber die Leichtigkeit, mit der sie Zoïles Plan rechtfertigt, ihn ins Flugzeug steigen und dort die bald Sterbenden begrüßen lässt, ist geschmacklos. Dass Zoïle von sich selbst behauptet, er sei kein Terrorist - "um sich von dem Abschaum zu unterscheiden, der einen Vorwand für seinen Hass brauche" -, ändert daran auch nichts.
NINA BELZ.
Amélie Nothomb: "Winterreise". Roman.
Aus dem Französischen von Brigitte Große. Diogenes Verlag, Zürich 2011, 128 S., geb., 18,90 [Euro].
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