Lea Deutsch (geb. 1927) - das Zagreber "Wunderkind" der 1930er: Als hochtalentierte jüdisch-kroatische Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin hielt sie eine ganze Kulturwelt in Atem. Von der Presse wurde sie als ein Phänomen, ein Genie, als eine unvergleichliche Kinderkünstlerin verehrt. Gleichzeitig war sie ein Kind ihrer Zeit, in der noch der Geist der "Goldenen Zwanziger" spürbar war: selbstbewusst, energievoll, fordernd, klug. Diese Eigenschaften verkörperte sie in ihren unzähligen Rollen, etwa als "Louison", "Pünktchen" oder "Gita".In den neun Jahren ihres Künstlerdaseins faszinierte sie ihr Publikum, auch in zahlreichen "Hosenrollen" als Lord, Bauernjunge und Prinz. Ihrer großen Leidenschaft wurde mit der Machtübernahme der kroatischen Faschisten ein Ende gesetzt. 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert und kehrte nie wieder zurück.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.11.2019„Was sollen wir in Amerika?“
Man nannte sie die „jugoslawische Shirley Temple“: Miljenko Jergović entwirft eine
eigenwillige Version des Lebens und der Zeit des jüdisch-kroatischen Kinderstars Lea Deutsch
VON FRAUKE MEYER-GOSAU
Die Geschichte des Balkans ist das Lebensthema des 1966 in Sarajevo geborenen Prosa-Autors, Lyrikers und Essayisten Miljenko Jergović. Was er vom Neben-, Mit- und nicht selten gewaltsamen Gegeneinander der ex-jugoslawischen Nationalitäten und ihrer religiösen Prägungen erzählt, folgt dabei gewöhnlich dem Versuch, die Bewegungsgesetze historischer Prozesse zu verstehen. So war es schon in seinem ersten Prosaband „Sarajevo Marlboro“, der in literarischen Skizzen aus der belagerten Stadt sinnfällig machte, was Alltag im Bosnienkrieg bedeutete. Jergović selbst entkam dem Schlachten und lebt seit 1993 in Zagreb. Sein 2003 erschienener Jahrhundertroman „Das Walnusshaus“ (deutsch 2008) etablierte ihn dann endgültig unter den großen europäischen Erzählern der Gegenwart.
Den 2006 erschienenen Roman „Ruth Tannenbaum“ allerdings können wir erst jetzt – in der gewohnt sprachmächtig-gewitzten Übertragung von Brigitte Döbert – auch auf Deutsch lesen. Und begegnen hier wiederum, zurückversetzt in das Zagreb vor allem der Dreißiger- und Vierzigerjahre, einer historischen Figur. Eigentlich habe er, schreibt Jergovic im Anhang, die Biografie des jüdisch-kroatischen Kinderstars Lea Deutsch, der „jugoslawischen Shirley Temple“, schreiben wollen. Doch habe er bei seinen Recherchen „wenig über ihr Leben (gefunden), dafür aber viele Gründe, warum man in Zagreb ungern über sie spricht“ – eine Einladung an den Geschichtenerfinder, seine eigene Version der Person und ihrer Zeit zu entwerfen.
In diesem Jahr ist in der Reihe „Jüdische Miniaturen“ bei Hentrich & Hentrich ein Bändchen über Lea Deutsch erschienen, verfasst von Martina Bitunjac, einer Mitarbeiterin am Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien, und in Zusammenarbeit mit dem Centrum Judaicum publiziert. „Lea Deutsch. Ein Kind des Schauspiels, der Musik und des Tanzes“ bestätigt, dass die Faktenlage zur „jugoslawischen Shirley Temple“ ziemlich dürftig ist. Es zeigt aber auch, dass die Angaben zu Person und Familie, die Jergović im Roman macht, im Wesentlichen frei erfunden sind und die Entwicklung des realen Kinderstars bei Weitem interessanter, vielfältiger und ambivalenter verlief als von Jergović ausgemalt.
Das Buch beginnt mit dem kursiv gesetzten Märchen von der „Prinzessin aus der Gunduliceva Nummer Soundso“, ihr Name: „Ruth Tannenbaum“. An „Hoffart“ kann es keiner mit ihr aufnehmen, sagt der Text, eine Tarnkappe wünscht sie sich: Sie versucht, im Frühjahr 1943 dem Transport nach Auschwitz zu entgehen, was aber nicht gelingt. „Ruth Tannenbaum erreichte weder Indien noch Polen“, heißt es. „Sie verschied unterwegs, während sie an eine feuchte Rinderzunge dachte, die ihre rechte Fußsohle ableckt.“
Damit ist zugleich der Ton angeschlagen, der die folgenden 450 Seiten bestimmen wird: In bizarrer, immer leicht angestrengter Lustigkeit passieren politische und kulturelle Ereignisse in Zagreb seit dem Ende des Ersten Weltkriegs Revue. Dann, ein Vierteljahrhundert später, ist die Familie Tannenbaum ausgelöscht.
Nicht so ganz der Stoff für eine Komödie, möchte man denken, allenfalls wohl für ein deftiges Grand Guignol – um mit Entsetzen Scherz zu treiben, braucht es schon eine spezifische Gemütsverfassung. Miljenko Jergović versucht, sie seinen Lesern vor allem durch die Figur des Salomon „Moni“ Tannenbaum zu suggerieren, von dem es in quälender Wiederholung den ganzen Roman hindurch immer wieder heißt: „Ach, Salomon, Moni, du hast so viel Verstand in der Birne wie ein Bettler Safran im Brei.“ Der Mann ist 1,58 Meter groß, offensiv dämlich, Vater der kleinen Ruth und sozusagen das grausige Kasperle in „Ruth Tannenbaum“. Gleich im ersten Kapitel wird er verhaftet und im Gefängnis mit Stockhieben auf die Fußsohlen traktiert: Moni hat nicht kapiert – es ist immerhin das Jahr 1920 –, dass es keinen österreichischen Kaiser mehr gibt und sich der neue jugoslawische König gerade anschickt, sich seinem Volk zu präsentieren.
Da empfiehlt es sich nicht, mit dem fröhlich herausgeschmetterten Ausruf „Moni kommt zum österreichischen Kaiser!“ zum nachmittäglichen Besäufnis in seiner Stammkneipe aufzukreuzen, die natürlich auch längst nicht mehr „Der österreichische Kaiser“ heißt. Als Idiot vom Dienst ist Moni im Roman freilich nicht allein. Letztlich sind die meisten Kroaten hier mit stupender Blödheit geschlagen, einige hingegen sind einfach nur verrückt.
Nur einer bildet eine Ausnahme: Monis Schwiegervater Abraham Singer. Er durchschaut, was sich politisch zusammenbraut, er sieht voraus, was auch den kroatischen Juden geschehen wird. Daher verkauft er 1930 sein gut gehendes Delikatessen-Geschäft „zu einem Preis, für den man das viertürige Modell A von Ford oder zwanzig Karten erster Klasse für die Überfahrt von Liverpool nach New York hätte kaufen können“. Im Jahr darauf wird die Summe nur noch 14 Schiffskarten wert sein, 1933 reicht sie gerade noch für vier Tickets. Wenn Abraham sie, wie er es sich wünscht, Tochter, Schwiegersohn und Enkeltochter überließe, hätten sie sogar noch ein kleines Startgeld übrig. Doch mit Moni ist das nicht zu machen: „Was sollen wir in Amerika?“ Seine Frau Ivka, eine Schönheit mit riesigen schwarzen Augen, weiß genau, was sie dort sollten. Aber „sie überließ es Moni, vor lauter Angst klein und immer kleiner zu werden“.
Und darüber auch immer aggressiver. Er nimmt als Einpeitscher teil an einer Mordaktion, die seine Saufkumpane ausgeheckt haben. Wort- und tatenlos sieht er zu, wie sein Schwiegervater im Treppenhaus fast totgeschlagen wird. Er selbst bricht später einer armen Jüdin, die sich um seine Tochter kümmern soll, die Nase: „Ich will mit Juden nichts zu tun haben!“ Ganz am Ende wird Moni, der sich selbst nach Kräften demütigende und in Selbsthass verzehrende Jude, unter durchdringendem Absingen des Liedes „Zagreb, Zagreb, mein weißes Täubchen“ abgeführt und von einem Ustascha-Mann mit einer Hundekette zu Tode geprügelt werden. „Salomon Tannenbaum wollte Teil des Volkszorns sein, nicht dessen Opfer“, erklärt der Erzähler. Und inszeniert eine Gelegenheit nach der anderen, um die bodenlose Torheit dieses Wunsches bloßzustellen.
Dies in der dauerhaften Selbstüberbietung des Autors zu lesen, der seine Einfälle schreiend komisch zu finden scheint, ist schmerzhaft, nicht lustig. Wenig lustig ist auch die Geschichte des Kinderstars Ruth Tannenbaum selbst. Sie steht hier freilich vor allem nominell im Zentrum, als Figur bleibt sie ein Schemen. Jergović gesteht ihr keine Gelegenheit zu, ein ausgeprägtes Profil zu entwickeln. Allein dass das Kleinkind Ruth einer Katholikin aus dem Kellergeschoss anvertraut wird, obwohl der begründete Verdacht besteht, diese sei nach dem Tod ihres eigenen Kindes wahnsinnig geworden, soll hier schon als in sich kurios gelten – dass die mit dem beschränkten Weichensteller Radoslav („Schade-Rade“) verheiratete Betreuerin mit dem „jüdischen Satansbraten“ dann genau das anstellt, was ihr zuvor ausdrücklich verboten wurde, ebenfalls.
Ausgerechnet diese Amalija ist es dann, welche die schauspielerischen Talente des Kindes entdeckt und es eines Tages, sehr zu dessen Vergnügen und ohne Wissen der Eltern, zum Vorsprechen ins Theater bugsiert. Natürlich entpuppt sich Ruth sogleich als Spitzentalent, dem schließlich sogar – nachdem ihr Name eilends in „Christine Horvath“ umgeändert wurde – das Wiener Nazi-Publikum zu Füßen liegt. Der Siegeszug der „jugoslawischen Shirley Temple“ ist unaufhaltsam, wie es scheint.
Erwartungsgemäß entwickelt sich das Mädchen zu einem rechten Scheusal, das die Menschen in seiner Umgebung kujoniert, bis es Anfang 1943 im Hof seines Zagreber Wohnhauses zum letzten Mal gesehen wird. Es führt dort für sich selbst ein rührseliges Schauspiel der Rettung vor Adolf Hitler auf, gefolgt vom letzten Satz des Romans: „Zwei Bewaffnete warteten, an den Mercedes gelehnt, dass Ruth sie bemerkte.“ Verraten hat Ruth übrigens ein Mann namens Jergović – nicht Miljenko, sondern Grgo mit Vornamen. Einst war er Losverkäufer, jetzt ist er Nazi-Spitzel, „ordentlich angezogen und rasiert, sein Hemd sauber und gebügelt“. Und ausgestattet mit einem Telefon, über das er den Schergen durchgibt, wo sie das Mädchen finden können. Und da sind sie dann.
Sollte sich mit der Figur des Denunzianten Jergovic hier unversehens ein Wunsch nach Selbstbestrafung Bahn gebrochen haben? Oder war der Text klüger als sein Autor? Von Verstehensarbeit am historischen Material jedenfalls ist in „Ruth Tannenbaum“, diesem mit aberhundert Geschichten, genüsslichen Abschweifungen und Anekdoten aus allen Nähten platzenden Roman, nichts zu spüren. Miljenko Jergović hat im Fall der realen Kinderschauspielerin Lea Deutsch vielmehr das Entscheidende offenbar schon vorher gewusst: dass alle Beteiligten, mit Ausnahme des Großvaters, Verachtung, ja, Hass verdient haben, also auch diesen literarischen Hexensabbat auf ihren Gräbern.
Miljenko Jergović: Ruth Tannenbaum. Roman. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2019. 448 S., 26 Euro.
Martina Bitunjac: Lea Deutsch. Ein Kind des Schauspiels, der Musik und des Tanzes. Jüdische Miniaturen, Hentrich & Hentrich Verlag, Leipzig 2019. 70 Seiten, 8,90 Euro.
„Ruth Tannenbaum erreichte
weder Indien noch Polen.
Sie verschied unterwegs …“
„Salomon Tannenbaum wollte
Teil des Volkszorns sein,
nicht dessen Opfer.“
Aberhundert Geschichten,
Abschweifungen, Anekdoten – der
Roman platzt aus allen Nähten
Das historische Vorbild für Ruth Tannenbaum im Roman des Schriftstellers Miljenko Jergović: Lea Deutsch, geboren 1927, in den Dreißigerjahren mit Schauspielerkollegen. Martina Bitunjac hat ihr eine biografische Skizze gewidmet. Foto: Institut für kroatische Literatur-, Theater und Musikgeschichte der Kroatischen Akademie der Wissenschaften und Künste
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Man nannte sie die „jugoslawische Shirley Temple“: Miljenko Jergović entwirft eine
eigenwillige Version des Lebens und der Zeit des jüdisch-kroatischen Kinderstars Lea Deutsch
VON FRAUKE MEYER-GOSAU
Die Geschichte des Balkans ist das Lebensthema des 1966 in Sarajevo geborenen Prosa-Autors, Lyrikers und Essayisten Miljenko Jergović. Was er vom Neben-, Mit- und nicht selten gewaltsamen Gegeneinander der ex-jugoslawischen Nationalitäten und ihrer religiösen Prägungen erzählt, folgt dabei gewöhnlich dem Versuch, die Bewegungsgesetze historischer Prozesse zu verstehen. So war es schon in seinem ersten Prosaband „Sarajevo Marlboro“, der in literarischen Skizzen aus der belagerten Stadt sinnfällig machte, was Alltag im Bosnienkrieg bedeutete. Jergović selbst entkam dem Schlachten und lebt seit 1993 in Zagreb. Sein 2003 erschienener Jahrhundertroman „Das Walnusshaus“ (deutsch 2008) etablierte ihn dann endgültig unter den großen europäischen Erzählern der Gegenwart.
Den 2006 erschienenen Roman „Ruth Tannenbaum“ allerdings können wir erst jetzt – in der gewohnt sprachmächtig-gewitzten Übertragung von Brigitte Döbert – auch auf Deutsch lesen. Und begegnen hier wiederum, zurückversetzt in das Zagreb vor allem der Dreißiger- und Vierzigerjahre, einer historischen Figur. Eigentlich habe er, schreibt Jergovic im Anhang, die Biografie des jüdisch-kroatischen Kinderstars Lea Deutsch, der „jugoslawischen Shirley Temple“, schreiben wollen. Doch habe er bei seinen Recherchen „wenig über ihr Leben (gefunden), dafür aber viele Gründe, warum man in Zagreb ungern über sie spricht“ – eine Einladung an den Geschichtenerfinder, seine eigene Version der Person und ihrer Zeit zu entwerfen.
In diesem Jahr ist in der Reihe „Jüdische Miniaturen“ bei Hentrich & Hentrich ein Bändchen über Lea Deutsch erschienen, verfasst von Martina Bitunjac, einer Mitarbeiterin am Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien, und in Zusammenarbeit mit dem Centrum Judaicum publiziert. „Lea Deutsch. Ein Kind des Schauspiels, der Musik und des Tanzes“ bestätigt, dass die Faktenlage zur „jugoslawischen Shirley Temple“ ziemlich dürftig ist. Es zeigt aber auch, dass die Angaben zu Person und Familie, die Jergović im Roman macht, im Wesentlichen frei erfunden sind und die Entwicklung des realen Kinderstars bei Weitem interessanter, vielfältiger und ambivalenter verlief als von Jergović ausgemalt.
Das Buch beginnt mit dem kursiv gesetzten Märchen von der „Prinzessin aus der Gunduliceva Nummer Soundso“, ihr Name: „Ruth Tannenbaum“. An „Hoffart“ kann es keiner mit ihr aufnehmen, sagt der Text, eine Tarnkappe wünscht sie sich: Sie versucht, im Frühjahr 1943 dem Transport nach Auschwitz zu entgehen, was aber nicht gelingt. „Ruth Tannenbaum erreichte weder Indien noch Polen“, heißt es. „Sie verschied unterwegs, während sie an eine feuchte Rinderzunge dachte, die ihre rechte Fußsohle ableckt.“
Damit ist zugleich der Ton angeschlagen, der die folgenden 450 Seiten bestimmen wird: In bizarrer, immer leicht angestrengter Lustigkeit passieren politische und kulturelle Ereignisse in Zagreb seit dem Ende des Ersten Weltkriegs Revue. Dann, ein Vierteljahrhundert später, ist die Familie Tannenbaum ausgelöscht.
Nicht so ganz der Stoff für eine Komödie, möchte man denken, allenfalls wohl für ein deftiges Grand Guignol – um mit Entsetzen Scherz zu treiben, braucht es schon eine spezifische Gemütsverfassung. Miljenko Jergović versucht, sie seinen Lesern vor allem durch die Figur des Salomon „Moni“ Tannenbaum zu suggerieren, von dem es in quälender Wiederholung den ganzen Roman hindurch immer wieder heißt: „Ach, Salomon, Moni, du hast so viel Verstand in der Birne wie ein Bettler Safran im Brei.“ Der Mann ist 1,58 Meter groß, offensiv dämlich, Vater der kleinen Ruth und sozusagen das grausige Kasperle in „Ruth Tannenbaum“. Gleich im ersten Kapitel wird er verhaftet und im Gefängnis mit Stockhieben auf die Fußsohlen traktiert: Moni hat nicht kapiert – es ist immerhin das Jahr 1920 –, dass es keinen österreichischen Kaiser mehr gibt und sich der neue jugoslawische König gerade anschickt, sich seinem Volk zu präsentieren.
Da empfiehlt es sich nicht, mit dem fröhlich herausgeschmetterten Ausruf „Moni kommt zum österreichischen Kaiser!“ zum nachmittäglichen Besäufnis in seiner Stammkneipe aufzukreuzen, die natürlich auch längst nicht mehr „Der österreichische Kaiser“ heißt. Als Idiot vom Dienst ist Moni im Roman freilich nicht allein. Letztlich sind die meisten Kroaten hier mit stupender Blödheit geschlagen, einige hingegen sind einfach nur verrückt.
Nur einer bildet eine Ausnahme: Monis Schwiegervater Abraham Singer. Er durchschaut, was sich politisch zusammenbraut, er sieht voraus, was auch den kroatischen Juden geschehen wird. Daher verkauft er 1930 sein gut gehendes Delikatessen-Geschäft „zu einem Preis, für den man das viertürige Modell A von Ford oder zwanzig Karten erster Klasse für die Überfahrt von Liverpool nach New York hätte kaufen können“. Im Jahr darauf wird die Summe nur noch 14 Schiffskarten wert sein, 1933 reicht sie gerade noch für vier Tickets. Wenn Abraham sie, wie er es sich wünscht, Tochter, Schwiegersohn und Enkeltochter überließe, hätten sie sogar noch ein kleines Startgeld übrig. Doch mit Moni ist das nicht zu machen: „Was sollen wir in Amerika?“ Seine Frau Ivka, eine Schönheit mit riesigen schwarzen Augen, weiß genau, was sie dort sollten. Aber „sie überließ es Moni, vor lauter Angst klein und immer kleiner zu werden“.
Und darüber auch immer aggressiver. Er nimmt als Einpeitscher teil an einer Mordaktion, die seine Saufkumpane ausgeheckt haben. Wort- und tatenlos sieht er zu, wie sein Schwiegervater im Treppenhaus fast totgeschlagen wird. Er selbst bricht später einer armen Jüdin, die sich um seine Tochter kümmern soll, die Nase: „Ich will mit Juden nichts zu tun haben!“ Ganz am Ende wird Moni, der sich selbst nach Kräften demütigende und in Selbsthass verzehrende Jude, unter durchdringendem Absingen des Liedes „Zagreb, Zagreb, mein weißes Täubchen“ abgeführt und von einem Ustascha-Mann mit einer Hundekette zu Tode geprügelt werden. „Salomon Tannenbaum wollte Teil des Volkszorns sein, nicht dessen Opfer“, erklärt der Erzähler. Und inszeniert eine Gelegenheit nach der anderen, um die bodenlose Torheit dieses Wunsches bloßzustellen.
Dies in der dauerhaften Selbstüberbietung des Autors zu lesen, der seine Einfälle schreiend komisch zu finden scheint, ist schmerzhaft, nicht lustig. Wenig lustig ist auch die Geschichte des Kinderstars Ruth Tannenbaum selbst. Sie steht hier freilich vor allem nominell im Zentrum, als Figur bleibt sie ein Schemen. Jergović gesteht ihr keine Gelegenheit zu, ein ausgeprägtes Profil zu entwickeln. Allein dass das Kleinkind Ruth einer Katholikin aus dem Kellergeschoss anvertraut wird, obwohl der begründete Verdacht besteht, diese sei nach dem Tod ihres eigenen Kindes wahnsinnig geworden, soll hier schon als in sich kurios gelten – dass die mit dem beschränkten Weichensteller Radoslav („Schade-Rade“) verheiratete Betreuerin mit dem „jüdischen Satansbraten“ dann genau das anstellt, was ihr zuvor ausdrücklich verboten wurde, ebenfalls.
Ausgerechnet diese Amalija ist es dann, welche die schauspielerischen Talente des Kindes entdeckt und es eines Tages, sehr zu dessen Vergnügen und ohne Wissen der Eltern, zum Vorsprechen ins Theater bugsiert. Natürlich entpuppt sich Ruth sogleich als Spitzentalent, dem schließlich sogar – nachdem ihr Name eilends in „Christine Horvath“ umgeändert wurde – das Wiener Nazi-Publikum zu Füßen liegt. Der Siegeszug der „jugoslawischen Shirley Temple“ ist unaufhaltsam, wie es scheint.
Erwartungsgemäß entwickelt sich das Mädchen zu einem rechten Scheusal, das die Menschen in seiner Umgebung kujoniert, bis es Anfang 1943 im Hof seines Zagreber Wohnhauses zum letzten Mal gesehen wird. Es führt dort für sich selbst ein rührseliges Schauspiel der Rettung vor Adolf Hitler auf, gefolgt vom letzten Satz des Romans: „Zwei Bewaffnete warteten, an den Mercedes gelehnt, dass Ruth sie bemerkte.“ Verraten hat Ruth übrigens ein Mann namens Jergović – nicht Miljenko, sondern Grgo mit Vornamen. Einst war er Losverkäufer, jetzt ist er Nazi-Spitzel, „ordentlich angezogen und rasiert, sein Hemd sauber und gebügelt“. Und ausgestattet mit einem Telefon, über das er den Schergen durchgibt, wo sie das Mädchen finden können. Und da sind sie dann.
Sollte sich mit der Figur des Denunzianten Jergovic hier unversehens ein Wunsch nach Selbstbestrafung Bahn gebrochen haben? Oder war der Text klüger als sein Autor? Von Verstehensarbeit am historischen Material jedenfalls ist in „Ruth Tannenbaum“, diesem mit aberhundert Geschichten, genüsslichen Abschweifungen und Anekdoten aus allen Nähten platzenden Roman, nichts zu spüren. Miljenko Jergović hat im Fall der realen Kinderschauspielerin Lea Deutsch vielmehr das Entscheidende offenbar schon vorher gewusst: dass alle Beteiligten, mit Ausnahme des Großvaters, Verachtung, ja, Hass verdient haben, also auch diesen literarischen Hexensabbat auf ihren Gräbern.
Miljenko Jergović: Ruth Tannenbaum. Roman. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2019. 448 S., 26 Euro.
Martina Bitunjac: Lea Deutsch. Ein Kind des Schauspiels, der Musik und des Tanzes. Jüdische Miniaturen, Hentrich & Hentrich Verlag, Leipzig 2019. 70 Seiten, 8,90 Euro.
„Ruth Tannenbaum erreichte
weder Indien noch Polen.
Sie verschied unterwegs …“
„Salomon Tannenbaum wollte
Teil des Volkszorns sein,
nicht dessen Opfer.“
Aberhundert Geschichten,
Abschweifungen, Anekdoten – der
Roman platzt aus allen Nähten
Das historische Vorbild für Ruth Tannenbaum im Roman des Schriftstellers Miljenko Jergović: Lea Deutsch, geboren 1927, in den Dreißigerjahren mit Schauspielerkollegen. Martina Bitunjac hat ihr eine biografische Skizze gewidmet. Foto: Institut für kroatische Literatur-, Theater und Musikgeschichte der Kroatischen Akademie der Wissenschaften und Künste
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"Lea Deutsch hatte alles, was eine große Künstlerin ausmachte: Talent, Charisma, Herz, Seele, Intelligenz. Akribisch zeichnet Martina Bitunjac das tragische Schicksal des einstigen Kinderstars Lea Deutsch und ihrer Familie nach und setzt ihnen damit ein Denkmal gegen das Vergessen." AVIVA-Berlin, 3. Oktober 2019 "Diese Würdigung von Lea Deutsch ist geeignet, in den Schulen an diesem Beispiel den Holocaust zu erklären." Fachbuchjournal 4 2020