Süddeutsche ZeitungIm Lichte der Motorhauben
Der Stadtplanungs-Klassiker „Learning from Las Vegas“ in neuer Edition
Die 1972 veröffentlichte Studie „Learning from Las Vegas“ von Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour entfaltete rasch große Wirkung. Das großformatige Buch mit goldgeprägtem Titel, transparentem Umschlag und zahlreichen Kartierungen, Fotos, Skizzen führte neue Kategorien des Gewöhnlichen und Hässlichen in die Debatte ein, beförderte einen Paradigmenwechsel in Architektur und Urbanismus.
Auch banal wirkende Erscheinungsformen des Urbanen wurden beachtet, das Feld des Architektonischen weitete sich auf den real existierenden Alltag und seine ökonomischen Bedingungen aus: „Der Las Vegas Strip ist keine chaotische Zersiedelung, sondern eine Reihe von Aktivitäten, deren Muster wie in anderen Städten von der Technologie der Bewegung und dem wirtschaftlichen Wert des Landes abhängt.“ Daran, dass Automobilität und Spekulation die Stadtentwicklung vor sich hertreiben, hat sich bis heute wenig geändert.
Das „heroische“ Original wurde zweitausendmal gedruckt und wird heutzutage teuer gehandelt. Über Jahrzehnte bekämpften die Autoren vehement die Verbreitung der Erstausgabe. Jetzt wurde sie doch noch möglich. Zum Entsetzen der Autoren hatte die legendäre MIT-Press-Grafikerin Muriel Cooper damals das Buch mit allen Mitteln einer Grafikkunst der späten und längst weichgespülten Moderne ausgestattet. Um die zahlreichen Bilder auszubreiten, musste der Text mit viel Durchschuss gestreckt werden. „Das Buch war groß, schwer, kaum auf einem Bibliothekstisch handhabbar und unmöglich im Bus zu lesen oder in der Jeanstasche zu tragen“, grantelt Denise Scott Brown im Vorwort noch heute.
Die Erstausgabe lag bis zur jüngst erschienenen Facsimile Edition nahezu unsichtbar in Bibliotheken, Sammlungen oder Vitrinen, während die seit 1977 weltweit vertriebene Taschenbuchausgabe als Klassiker gilt. In der massiv umgestalteten Neuauflage kam eine Bibliografie hinzu, doch wurde die prächtige Ausstattung stark reduziert. Zudem strich man die Notiz zur Autorenschaft, worin der damals schon prominente Architekt Robert Venturi betont, dass er seine Projekte nicht alleine geschaffen hat. Ebenso fehlten im Taschenbuch über siebzig kompakt gesetzte Seiten mit konkreten Beispielen des Lernens von Las Vegas, etwa das South Street Project, welches sich engagiert gegen die Zerstörung eines Armutsquartiers in Philadelphia durch eine Stadtautobahn wandte.
Gerade in den Erkundungen, welche von akut Betroffenen 1968 in Auftrag gegeben wurde, zeigt sich die Kraft der durch die Las-Vegas-Studie gewonnenen Perspektiven.
Was macht „Learning From Las Vegas“ bis heute so haltbar? Das vielfach übersetzte Buch prägte die Wahrnehmung der modernen, kommerzialisierten Stadt und beeinflusst mit seinen innovativen Methoden bis heute urbanistische Forschungsprojekte sowie deren Kommunikation: Rem Koolhaas ist ohne die dort erprobte Bildkraft aus Karten, Referenzen und Collagen kaum denkbar. Das Projekt LLV gilt als Schlüssel der reflexiven Postmoderne und ist zugleich ein 68er-Projekt. Entwickelt hatten die Architekten Robert Venturi und Denise Scott Brown mit Steven Izenour ihre Bildsprache durch die Gründung des legendären „Learning from Las Vegas Research Studio“ an der Yale University. Sie brachen gemeinsam mit den Studierenden Richtung Westküste auf, um das Phänomen des urban sprawl am Beispiel der Wüsten- und Spielerstadt Las Vegas zu studieren: „Wir bezeichnen es als Zersiedelung, weil es ein neues Muster ist, das wir noch nicht verstanden haben.“
Ihr Studio ist nicht nur Ort für Lehrveranstaltungen und Wissensvermittlung, sondern formuliert sich als Bild-Produktionsstätte für ein neues Stadtverständnis. Das „Learning from“-Prinzip überträgt Erkenntnisse aus dem einen Feld auf ein anderes im Sinne struktureller Ähnlichkeiten. Sie bedienten sich dabei vor allem dem methodischen und darstellerischen Arsenal der zeitgenössischen Künste wie auch der urban studies. Der Schweizer Kunsthistoriker Martino Stierli beschreibt ihre Erkundungen als eine „Methode der Analyse und Darstellung der Stadt im Medium des Bildes”.
Bei „Learning from Las Vegas“ stand ein heute berühmter Fotograf und Maler Pate. Schon auf dem Weg nach Las Vegas besuchte die Forschungsgruppe neben Disneyland auch das Studio von Ed Ruscha in Los Angeles. Der methodische Transfer seiner lang gestreckten Fotoserie „Every Building on the Sunset Strip“ als lückenloses Panorama der historischen Unterhaltungsmeile von Los Angeles mit allen Fassaden auf beiden Straßenseiten, nun übertragen auf den Strip von Las Vegas, lässt sich als eine Hommage an Ruschas Arbeit lesen. Das Forschungsstudio nutzte für seine Aufnahmen eine auf der Haube eines Autos befestigte Filmkamera, so wie man es von Kinodrehs kennt, sowie eine aus dem Fenster gehaltene Motorkamera. Eine weitere Fotosequenz, aufgenommen durch die Frontscheibe, folgt in Fahrtrichtung der Strip-Architektur. Motorhaube und Armaturenbrett als künstlicher Horizont gibt inmitten einer turbulenten Stadtlandschaft dem Auge Halt.
Das von Scott Brown konzipierte, von Venturi architekturhistorisch unterfütterte und von Izenour grafisch begleitete Studioprogamm für dreizehn Studierende arbeitete auf der Basis von fünftausend Farbdias, dreitausend Filmmetern sowie einer Fülle von prä-digital gefertigten Dokumenten, Karten und Tabellen die konzeptuelle Analyse von strip und sprawl sowie einer aus Neonlicht und Zeichen geschaffenen Symbol-Architektur heraus. Die unreine Erscheinung der Strip-Realität wird im Mix der Medien geordnet: Vielleicht ist ja das Bild der aktuellen Stadt nur mehr als visuelles Narrativ in Film, Bildserie oder Collage fassbar?
„Das Zurückhalten des Urteils kann als ein Werkzeug verwendet werden, um ein späteres Urteil empfindlicher zu machen. So lernt man von allem.“ Ein US-amerikanischer Architekt mit einem Faible für das klassische Rom und eine baltisch-jüdische Südafrikanerin mit einem Faible für US-Pop-Art erkunden scheinbar unbekümmert eine autogerechte Casino-Stadt in der Wüste. Das Buch zielt auf eine neue Art der Erkenntnis, was Bauen und Stadt im späten Kapitalismus denn sei, und weniger auf die direkte architektonische Realisierung. Lernen von „Learning From Las Vegas“ hieße demnach, künstlerische Mittel und stadtplanerische sowie soziologische Darstellungsmethoden neuartig zu verknüpfen. Seither hat das Architektenbüro Venturi Scott Brown allerdings bewiesen, dass mit diesem Rüstzeug überzeugende Bauten entstehen können.
JOCHEN BECKER
Man nennt es Zersiedlung,
weil das neue Muster
noch nicht verstanden ist
Robert Venturi, Denise Scott Brown, Steven Izenour: Learning From Las Vegas, Facsimile Edition. MIT Press 2017. 216 Seiten, ca. 70 Euro
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Der Stadtplanungs-Klassiker „Learning from Las Vegas“ in neuer Edition
Die 1972 veröffentlichte Studie „Learning from Las Vegas“ von Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour entfaltete rasch große Wirkung. Das großformatige Buch mit goldgeprägtem Titel, transparentem Umschlag und zahlreichen Kartierungen, Fotos, Skizzen führte neue Kategorien des Gewöhnlichen und Hässlichen in die Debatte ein, beförderte einen Paradigmenwechsel in Architektur und Urbanismus.
Auch banal wirkende Erscheinungsformen des Urbanen wurden beachtet, das Feld des Architektonischen weitete sich auf den real existierenden Alltag und seine ökonomischen Bedingungen aus: „Der Las Vegas Strip ist keine chaotische Zersiedelung, sondern eine Reihe von Aktivitäten, deren Muster wie in anderen Städten von der Technologie der Bewegung und dem wirtschaftlichen Wert des Landes abhängt.“ Daran, dass Automobilität und Spekulation die Stadtentwicklung vor sich hertreiben, hat sich bis heute wenig geändert.
Das „heroische“ Original wurde zweitausendmal gedruckt und wird heutzutage teuer gehandelt. Über Jahrzehnte bekämpften die Autoren vehement die Verbreitung der Erstausgabe. Jetzt wurde sie doch noch möglich. Zum Entsetzen der Autoren hatte die legendäre MIT-Press-Grafikerin Muriel Cooper damals das Buch mit allen Mitteln einer Grafikkunst der späten und längst weichgespülten Moderne ausgestattet. Um die zahlreichen Bilder auszubreiten, musste der Text mit viel Durchschuss gestreckt werden. „Das Buch war groß, schwer, kaum auf einem Bibliothekstisch handhabbar und unmöglich im Bus zu lesen oder in der Jeanstasche zu tragen“, grantelt Denise Scott Brown im Vorwort noch heute.
Die Erstausgabe lag bis zur jüngst erschienenen Facsimile Edition nahezu unsichtbar in Bibliotheken, Sammlungen oder Vitrinen, während die seit 1977 weltweit vertriebene Taschenbuchausgabe als Klassiker gilt. In der massiv umgestalteten Neuauflage kam eine Bibliografie hinzu, doch wurde die prächtige Ausstattung stark reduziert. Zudem strich man die Notiz zur Autorenschaft, worin der damals schon prominente Architekt Robert Venturi betont, dass er seine Projekte nicht alleine geschaffen hat. Ebenso fehlten im Taschenbuch über siebzig kompakt gesetzte Seiten mit konkreten Beispielen des Lernens von Las Vegas, etwa das South Street Project, welches sich engagiert gegen die Zerstörung eines Armutsquartiers in Philadelphia durch eine Stadtautobahn wandte.
Gerade in den Erkundungen, welche von akut Betroffenen 1968 in Auftrag gegeben wurde, zeigt sich die Kraft der durch die Las-Vegas-Studie gewonnenen Perspektiven.
Was macht „Learning From Las Vegas“ bis heute so haltbar? Das vielfach übersetzte Buch prägte die Wahrnehmung der modernen, kommerzialisierten Stadt und beeinflusst mit seinen innovativen Methoden bis heute urbanistische Forschungsprojekte sowie deren Kommunikation: Rem Koolhaas ist ohne die dort erprobte Bildkraft aus Karten, Referenzen und Collagen kaum denkbar. Das Projekt LLV gilt als Schlüssel der reflexiven Postmoderne und ist zugleich ein 68er-Projekt. Entwickelt hatten die Architekten Robert Venturi und Denise Scott Brown mit Steven Izenour ihre Bildsprache durch die Gründung des legendären „Learning from Las Vegas Research Studio“ an der Yale University. Sie brachen gemeinsam mit den Studierenden Richtung Westküste auf, um das Phänomen des urban sprawl am Beispiel der Wüsten- und Spielerstadt Las Vegas zu studieren: „Wir bezeichnen es als Zersiedelung, weil es ein neues Muster ist, das wir noch nicht verstanden haben.“
Ihr Studio ist nicht nur Ort für Lehrveranstaltungen und Wissensvermittlung, sondern formuliert sich als Bild-Produktionsstätte für ein neues Stadtverständnis. Das „Learning from“-Prinzip überträgt Erkenntnisse aus dem einen Feld auf ein anderes im Sinne struktureller Ähnlichkeiten. Sie bedienten sich dabei vor allem dem methodischen und darstellerischen Arsenal der zeitgenössischen Künste wie auch der urban studies. Der Schweizer Kunsthistoriker Martino Stierli beschreibt ihre Erkundungen als eine „Methode der Analyse und Darstellung der Stadt im Medium des Bildes”.
Bei „Learning from Las Vegas“ stand ein heute berühmter Fotograf und Maler Pate. Schon auf dem Weg nach Las Vegas besuchte die Forschungsgruppe neben Disneyland auch das Studio von Ed Ruscha in Los Angeles. Der methodische Transfer seiner lang gestreckten Fotoserie „Every Building on the Sunset Strip“ als lückenloses Panorama der historischen Unterhaltungsmeile von Los Angeles mit allen Fassaden auf beiden Straßenseiten, nun übertragen auf den Strip von Las Vegas, lässt sich als eine Hommage an Ruschas Arbeit lesen. Das Forschungsstudio nutzte für seine Aufnahmen eine auf der Haube eines Autos befestigte Filmkamera, so wie man es von Kinodrehs kennt, sowie eine aus dem Fenster gehaltene Motorkamera. Eine weitere Fotosequenz, aufgenommen durch die Frontscheibe, folgt in Fahrtrichtung der Strip-Architektur. Motorhaube und Armaturenbrett als künstlicher Horizont gibt inmitten einer turbulenten Stadtlandschaft dem Auge Halt.
Das von Scott Brown konzipierte, von Venturi architekturhistorisch unterfütterte und von Izenour grafisch begleitete Studioprogamm für dreizehn Studierende arbeitete auf der Basis von fünftausend Farbdias, dreitausend Filmmetern sowie einer Fülle von prä-digital gefertigten Dokumenten, Karten und Tabellen die konzeptuelle Analyse von strip und sprawl sowie einer aus Neonlicht und Zeichen geschaffenen Symbol-Architektur heraus. Die unreine Erscheinung der Strip-Realität wird im Mix der Medien geordnet: Vielleicht ist ja das Bild der aktuellen Stadt nur mehr als visuelles Narrativ in Film, Bildserie oder Collage fassbar?
„Das Zurückhalten des Urteils kann als ein Werkzeug verwendet werden, um ein späteres Urteil empfindlicher zu machen. So lernt man von allem.“ Ein US-amerikanischer Architekt mit einem Faible für das klassische Rom und eine baltisch-jüdische Südafrikanerin mit einem Faible für US-Pop-Art erkunden scheinbar unbekümmert eine autogerechte Casino-Stadt in der Wüste. Das Buch zielt auf eine neue Art der Erkenntnis, was Bauen und Stadt im späten Kapitalismus denn sei, und weniger auf die direkte architektonische Realisierung. Lernen von „Learning From Las Vegas“ hieße demnach, künstlerische Mittel und stadtplanerische sowie soziologische Darstellungsmethoden neuartig zu verknüpfen. Seither hat das Architektenbüro Venturi Scott Brown allerdings bewiesen, dass mit diesem Rüstzeug überzeugende Bauten entstehen können.
JOCHEN BECKER
Man nennt es Zersiedlung,
weil das neue Muster
noch nicht verstanden ist
Robert Venturi, Denise Scott Brown, Steven Izenour: Learning From Las Vegas, Facsimile Edition. MIT Press 2017. 216 Seiten, ca. 70 Euro
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