Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2013Seine Augenbrauen sagen mehr als tausend Worte
In seinem gewitzten Debütroman "Abschied von Atocha" erzählt Ben Lerner von einem Lügner, der auszog, ein Poet zu werden
Mit seinen Augenbrauen kann Adam Gordon fast alles sagen. Wenn er in einer Bar in Madrid fragen will, ob noch jemand ein Getränk möchte, zeigt der amerikanische Stipendiat bloß auf ein Glas und hebt dabei die Brauen. Auf der Autobahn hält er Busreisende für amerikanische Touristen, Kamera in der Hand, und lässt sie beim Überholen seine Verachtung wissen, "was ich mit meinen Augenbrauen ohne weiteres schaffte". Mit den Worten dagegen tut sich dieser angehende Dichter schwer. Die Spanischprüfung in Amerika hat Adam dank einer auswendig gelernten Antwort überstanden, doch wirklich unterhalten kann er sich auf Spanisch nicht. In den ersten Gesprächen in Madrid muss er raten, wovon überhaupt die Rede ist, stets in Sorge, als Hochstapler entlarvt zu werden.
Von einer namhaften Stiftung gefördert, ist Adam eigentlich nach Madrid gekommen, um ein langes Gedicht über das literarische Erbe des Spanischen Bürgerkriegs zu schreiben. Dass das nichts wird, liegt nicht allein an mangelnden Sprachkenntnissen: Adam, immerhin Absolvent einer Ivy-League-Universität, weiß auch nichts über die Geschichte des Bürgerkriegs und hat von den meisten spanischen Autoren noch nie gehört. Statt sich dem vorgeblichen Projekt zu widmen, klettert er morgens erst mal von seiner Mansardenwohnung aus mit einem Joint auf das Hausdach, geht dann in den Prado, später in den Park, hält daheim Siesta, liest ein wenig Tolstoi auf Englisch oder schaut Greuelvideos im Netz.
Adam Gordon ist der Ich-Erzähler in "Abschied von Atocha", dem gewitzten ersten Roman des Amerikaners Ben Lerner. Wie seine Hauptfigur stammt auch Lerner, Jahrgang 1979, aus Topeka im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, zog zum Studium nach Providence im Ostküstenstaat Rhode Island und lebte schließlich als Stipendiat in Madrid. Lerner spielt mit den Ähnlichkeiten zwischen Figur und Autor, sah aber, anders als etwa Thomas Glavinic in "Das bin doch ich", davon ab, der Figur obendrein den eigenen Namen zu geben. Allerdings borgt er Adam ein Gedicht aus "The Lichtenberg Figures" (2004), dem ersten seiner bislang drei Lyrikbände. Für die zweisprachige Fassung dieser Sonett-Sammlung wurden Lerner und sein deutscher Übersetzer, der Lyriker Steffen Popp, vor zwei Jahren mit dem Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie geehrt.
Da er in Madrid niemanden kennt, verbringt Adam seine Wochenenden zunächst mit seinem Spanischlehrer und dessen Freunden. Wegen Adams sprachlicher Unzulänglichkeiten kommt es zu einem Streit, der Spanier Miguel verpasst ihm einen Schlag, Adam sinkt theatralisch zu Boden und beißt sich auf die Lippe, um schlimmer verletzt zu wirken. Isabel, eine junge Frau aus der Gruppe, wäscht ihm am See das Blut vom Gesicht und will ihn trösten. Er versteht sie aber nicht: "Dann sagte sie entweder etwas über den Mond, den Effekt, den der Mond auf das Wasser hatte, oder sie führte den Vollmond als Entschuldigung für Miguels Verhalten oder das allgemeine Drama des Abends an, obwohl der Mond gar nicht voll war."
Die beiden werden ein Paar; nur vermutet Adam, die Beziehung basiere vor allem auf seinem schlichten Spanisch, weil es Isabel ermögliche, die Lücken seiner Sätze durch ihre Deutungen aufzuladen. "Ein Gemälde zu fotografieren ...", sagt er vor Picassos "Guernica" beim Anblick der Touristen und beobachtet dann Isabels Gesicht, "während diese Bemerkung sich zu einer Betrachtung über Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit ausweitete." Der Anklang an Walter Benjamin ist kein Zufall: Der Reiz des Aufspürens solcher Bezüge trägt beträchtlich zu dem intellektuellen Vergnügen bei, das "Abschied von Atocha" bereitet.
Adam lernt in Madrid außerdem die Geschwister Arturo und Teresa kennen, hält Isabel aber von ihnen fern, damit alle drei denken, er habe einen großen Freundeskreis, obwohl es sonst niemanden gibt. Lerner legt seinen Protagonisten als unzuverlässigen Erzähler an, der immer neue Lügen und Selbstinszenierungen braucht - vom hochstaplerischen Bürgerkriegsprojekt über die verschlimmerte Verletzung nach Miguels Schlag bis zur dreisten Behauptung, dass seine Mutter gestorben sei. Das sagt Adam erst zu Teresa, hat Schuldgefühle, sagt es auch zu Isabel, "vielleicht um meine Schuldgefühle zu einer Art Buße zu vertiefen", und als die Lüge auffliegt, rettet er sich in eine neue: Seine Mutter sei krank, also habe er schon einmal von ihrem Tod gesprochen, um weniger Angst davor zu haben.
In der Liebe schwankt Adam lange zwischen Isabel und Teresa. Nach einer letzten Nacht mit Isabel explodieren Bomben am Madrider Bahnhof Atocha. Es ist der 11. März 2004, der Tag der Zuganschläge islamistischer Terroristen, kurz vor den spanischen Wahlen. In der Zeit der Trauer und des Protests sagt sich Adam, "dass gerade Geschichte geschrieben wurde und dass ich mit Spaniern zusammen sein musste, um das zu erleben". Andererseits erklärt er sogleich, dass er sich nur einen Vorwand dafür zurechtlege, Teresa aufzusuchen. Adams Ehrlichkeit ist so schonungslos wie seine Lügen.
Bei aller moralischen Ambivalenz der Figur gelingt Lerner jedoch auch ein äußerst amüsanter Antiheld, der herrlich spotten kann, wenn er die Lesung eines pathetischen Dichterdarstellers schildert, der ständig sein schulterlanges Haar mit einstudierter Geste zurückstreicht und sich an seinem Pult festhält, "als könnten ihn die über ihn hereinbrechenden Wellen der Emotion umreißen". Wobei der Witz bisweilen auf Adams Kosten geht, ohne dass er es merkt. Adam vertritt nämlich gern die These, "dass Gedichte von überhaupt nichts handelten". Als er aber ein Notizbuch mit Teresas Gedichten findet, schaut er, ob vielleicht sein eigener Name oder der eines Nebenbuhlers darin auftaucht.
Wie klug das Buch konstruiert ist, zeigt sich an den Doppelfiguren und Wiederholungen. Nehmen wir Isabel und Teresa. Mit jeder von beiden unternimmt Adam spontan eine Reise, die unglücklich endet, und in beiden Beziehungen leidet er unter der Konkurrenz zu einem anderen Mann. Adam selbst ist in das Doppelmotiv ebenfalls einbezogen, wenn er auf dem Hausdach sitzt, Flugzeuge sieht und sich vorstellt, er wäre "ein Passagier, der mich dabei sehen könnte, wie ich zu mir Herabschauendem hinaufschaute". Dieses Bild wird uns noch einmal begegnen - in einem von Adams Gedichten.
Denn "Abschied von Atocha" lässt sich zwar auf viele Weisen lesen - als die Bekenntnisse des Hochstaplers Adam Gordon, als Spiel mit Biographie und Fiktion, als Abschlussbericht eigener Art über einen stipendienfinanzierten Auslandsaufenthalt, nicht zuletzt als Leitfaden zur Verständigung mit nonverbalen Mitteln (Augenbrauen!) -, aber es ist eben vor allem ein Künstlerroman. Das große Werk zum Bürgerkrieg bleibt Adam schuldig, doch am Ende hält er tatsächlich sein kleines, von Teresa übersetztes Lyrikbändchen in der Hand. Oder erliegen wir, wenn wir das glauben, einer weiteren seiner Lügen?
THORSTEN GRÄBE.
Ben Lerner: "Abschied von Atocha". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 256 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In seinem gewitzten Debütroman "Abschied von Atocha" erzählt Ben Lerner von einem Lügner, der auszog, ein Poet zu werden
Mit seinen Augenbrauen kann Adam Gordon fast alles sagen. Wenn er in einer Bar in Madrid fragen will, ob noch jemand ein Getränk möchte, zeigt der amerikanische Stipendiat bloß auf ein Glas und hebt dabei die Brauen. Auf der Autobahn hält er Busreisende für amerikanische Touristen, Kamera in der Hand, und lässt sie beim Überholen seine Verachtung wissen, "was ich mit meinen Augenbrauen ohne weiteres schaffte". Mit den Worten dagegen tut sich dieser angehende Dichter schwer. Die Spanischprüfung in Amerika hat Adam dank einer auswendig gelernten Antwort überstanden, doch wirklich unterhalten kann er sich auf Spanisch nicht. In den ersten Gesprächen in Madrid muss er raten, wovon überhaupt die Rede ist, stets in Sorge, als Hochstapler entlarvt zu werden.
Von einer namhaften Stiftung gefördert, ist Adam eigentlich nach Madrid gekommen, um ein langes Gedicht über das literarische Erbe des Spanischen Bürgerkriegs zu schreiben. Dass das nichts wird, liegt nicht allein an mangelnden Sprachkenntnissen: Adam, immerhin Absolvent einer Ivy-League-Universität, weiß auch nichts über die Geschichte des Bürgerkriegs und hat von den meisten spanischen Autoren noch nie gehört. Statt sich dem vorgeblichen Projekt zu widmen, klettert er morgens erst mal von seiner Mansardenwohnung aus mit einem Joint auf das Hausdach, geht dann in den Prado, später in den Park, hält daheim Siesta, liest ein wenig Tolstoi auf Englisch oder schaut Greuelvideos im Netz.
Adam Gordon ist der Ich-Erzähler in "Abschied von Atocha", dem gewitzten ersten Roman des Amerikaners Ben Lerner. Wie seine Hauptfigur stammt auch Lerner, Jahrgang 1979, aus Topeka im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, zog zum Studium nach Providence im Ostküstenstaat Rhode Island und lebte schließlich als Stipendiat in Madrid. Lerner spielt mit den Ähnlichkeiten zwischen Figur und Autor, sah aber, anders als etwa Thomas Glavinic in "Das bin doch ich", davon ab, der Figur obendrein den eigenen Namen zu geben. Allerdings borgt er Adam ein Gedicht aus "The Lichtenberg Figures" (2004), dem ersten seiner bislang drei Lyrikbände. Für die zweisprachige Fassung dieser Sonett-Sammlung wurden Lerner und sein deutscher Übersetzer, der Lyriker Steffen Popp, vor zwei Jahren mit dem Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie geehrt.
Da er in Madrid niemanden kennt, verbringt Adam seine Wochenenden zunächst mit seinem Spanischlehrer und dessen Freunden. Wegen Adams sprachlicher Unzulänglichkeiten kommt es zu einem Streit, der Spanier Miguel verpasst ihm einen Schlag, Adam sinkt theatralisch zu Boden und beißt sich auf die Lippe, um schlimmer verletzt zu wirken. Isabel, eine junge Frau aus der Gruppe, wäscht ihm am See das Blut vom Gesicht und will ihn trösten. Er versteht sie aber nicht: "Dann sagte sie entweder etwas über den Mond, den Effekt, den der Mond auf das Wasser hatte, oder sie führte den Vollmond als Entschuldigung für Miguels Verhalten oder das allgemeine Drama des Abends an, obwohl der Mond gar nicht voll war."
Die beiden werden ein Paar; nur vermutet Adam, die Beziehung basiere vor allem auf seinem schlichten Spanisch, weil es Isabel ermögliche, die Lücken seiner Sätze durch ihre Deutungen aufzuladen. "Ein Gemälde zu fotografieren ...", sagt er vor Picassos "Guernica" beim Anblick der Touristen und beobachtet dann Isabels Gesicht, "während diese Bemerkung sich zu einer Betrachtung über Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit ausweitete." Der Anklang an Walter Benjamin ist kein Zufall: Der Reiz des Aufspürens solcher Bezüge trägt beträchtlich zu dem intellektuellen Vergnügen bei, das "Abschied von Atocha" bereitet.
Adam lernt in Madrid außerdem die Geschwister Arturo und Teresa kennen, hält Isabel aber von ihnen fern, damit alle drei denken, er habe einen großen Freundeskreis, obwohl es sonst niemanden gibt. Lerner legt seinen Protagonisten als unzuverlässigen Erzähler an, der immer neue Lügen und Selbstinszenierungen braucht - vom hochstaplerischen Bürgerkriegsprojekt über die verschlimmerte Verletzung nach Miguels Schlag bis zur dreisten Behauptung, dass seine Mutter gestorben sei. Das sagt Adam erst zu Teresa, hat Schuldgefühle, sagt es auch zu Isabel, "vielleicht um meine Schuldgefühle zu einer Art Buße zu vertiefen", und als die Lüge auffliegt, rettet er sich in eine neue: Seine Mutter sei krank, also habe er schon einmal von ihrem Tod gesprochen, um weniger Angst davor zu haben.
In der Liebe schwankt Adam lange zwischen Isabel und Teresa. Nach einer letzten Nacht mit Isabel explodieren Bomben am Madrider Bahnhof Atocha. Es ist der 11. März 2004, der Tag der Zuganschläge islamistischer Terroristen, kurz vor den spanischen Wahlen. In der Zeit der Trauer und des Protests sagt sich Adam, "dass gerade Geschichte geschrieben wurde und dass ich mit Spaniern zusammen sein musste, um das zu erleben". Andererseits erklärt er sogleich, dass er sich nur einen Vorwand dafür zurechtlege, Teresa aufzusuchen. Adams Ehrlichkeit ist so schonungslos wie seine Lügen.
Bei aller moralischen Ambivalenz der Figur gelingt Lerner jedoch auch ein äußerst amüsanter Antiheld, der herrlich spotten kann, wenn er die Lesung eines pathetischen Dichterdarstellers schildert, der ständig sein schulterlanges Haar mit einstudierter Geste zurückstreicht und sich an seinem Pult festhält, "als könnten ihn die über ihn hereinbrechenden Wellen der Emotion umreißen". Wobei der Witz bisweilen auf Adams Kosten geht, ohne dass er es merkt. Adam vertritt nämlich gern die These, "dass Gedichte von überhaupt nichts handelten". Als er aber ein Notizbuch mit Teresas Gedichten findet, schaut er, ob vielleicht sein eigener Name oder der eines Nebenbuhlers darin auftaucht.
Wie klug das Buch konstruiert ist, zeigt sich an den Doppelfiguren und Wiederholungen. Nehmen wir Isabel und Teresa. Mit jeder von beiden unternimmt Adam spontan eine Reise, die unglücklich endet, und in beiden Beziehungen leidet er unter der Konkurrenz zu einem anderen Mann. Adam selbst ist in das Doppelmotiv ebenfalls einbezogen, wenn er auf dem Hausdach sitzt, Flugzeuge sieht und sich vorstellt, er wäre "ein Passagier, der mich dabei sehen könnte, wie ich zu mir Herabschauendem hinaufschaute". Dieses Bild wird uns noch einmal begegnen - in einem von Adams Gedichten.
Denn "Abschied von Atocha" lässt sich zwar auf viele Weisen lesen - als die Bekenntnisse des Hochstaplers Adam Gordon, als Spiel mit Biographie und Fiktion, als Abschlussbericht eigener Art über einen stipendienfinanzierten Auslandsaufenthalt, nicht zuletzt als Leitfaden zur Verständigung mit nonverbalen Mitteln (Augenbrauen!) -, aber es ist eben vor allem ein Künstlerroman. Das große Werk zum Bürgerkrieg bleibt Adam schuldig, doch am Ende hält er tatsächlich sein kleines, von Teresa übersetztes Lyrikbändchen in der Hand. Oder erliegen wir, wenn wir das glauben, einer weiteren seiner Lügen?
THORSTEN GRÄBE.
Ben Lerner: "Abschied von Atocha". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 256 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.12.2013Der Joint unter der Haut
Der amerikanische Lyriker Ben Lerner hat seinen ersten Roman geschrieben: „Abschied von Atocha“
In ihrem Buch "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" von 1796 entwickeln Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck eine Idee von Kunst, die ganz auf Begeisterung und Gefühl setzt. Eine "göttliche" Kunst sei die wahre "Blume der Empfindung" - und kein größeres Glück denkbar, als ein Kunstwerk mit ganzer Seele in sich aufzunehmen. Wir wissen nicht, was genau der Erzähler in Ben Lerners erstem Roman "Abschied von Atocha" unter einer "tiefgehenden Kunsterfahrung" versteht. Aber seine Skepsis gegenüber Menschen, die staunend vor einem Bild stehen oder beim Lesen in Tränen ausbrechen, ist immens: "Am nächsten kam ich einer tiefgehenden Kunsterfahrung noch mit der Erfahrung einer Distanz, einer tiefgehenden Erfahrung fehlender Tiefe".
Auch wenn dem amerikanischen Schriftsteller Ben Lerner nichts ferner sein dürfte als die Vorstellungen der beiden Frühromantiker Wackenroder und Tieck – „Erfahrung“ ist doch einer der wichtigsten Begriffe in seinem Roman. Man könnte „Abschied von Atocha“ einen Adoleszenz-, vielleicht auch einen Schelmenroman nennen, würde Lerners Erzähler nicht jeden Begriff, ja, überhaupt die Frage, was denn so etwas wie ein Begriff sei, fortwährend in Frage stellen und in ein ironisch angehauchtes Zusammenspiel von Sätzen umbauen.
Schon in seinen bislang drei Gedichtbänden verstand es Lerner, der 1979 in Kansas geboren wurde, der Verbindung von Sprache und Leben nachzutasten. Der Lyriker Steffen Popp hat Lerners Erstling „The Lichtenberg Figures“ (2004) vor kurzem in ein vibrierendes Deutsch verwandelt: „Hupen Sie, wenn Sie wünschten, alle schwierigen Gedichte wären tief.“ Jetzt hat Lerner einen feinen, überaus witzigen und klugen Roman über die Suche nach dem vermeintlich Wirklichen geschrieben, einen Roman, der dem Möglichkeitssinn huldigt und der am Ende sogar die Idee der Suche ad absurdum führt.
Wie eine Studie in Selbstfindung hat Lerner seinen Roman angelegt. Und als ein solches „Forschungsprojekt“ versteht auch die Hauptfigur ihre Erlebnisse. Adam Gordon ist Mitte 20 und gerade mit einem Stipendium für ein Jahr aus den USA nach Madrid gekommen. Weil man für jede Bewerbung eine Berufsbezeichnung und ein Projekt benötigt, nennt er sich Lyriker und formuliert eine veritable Aufgabe: ein langes Gedicht „über die literarische Reaktion auf den Bürgerkrieg“ zu verfassen und darin der Frage nachzugehen, „was ein solcher Moment uns über ,Literatur heute' lehren könnte“.
Tatsächlich aber vermag er an seine Studie ebenso wenig zu glauben wie an die eigene Rolle als Dichter. Im Grunde gibt es für Adam keinen Zugang zur Welt jenseits von Deutungen. Alles ist immer schon Projektion, vermittelt durch Zeichen, aufgehoben in einer erzählerischen Struktur. Oder in Adams Worten: „Es war die Inkommensurabilität von Sprache und Erfahrung.“
Einer von Adams Lieblingsautoren ist der große amerikanische Lyriker John Ashbery. Auch in Ashberys langen, oft flussartig über die Seiten ziehenden Gedichten gibt es kein Zurück hinter das Denken. In der „Matrix / unserer täglichen Phantasien“, wie er es einmal nennt, verfangen sich Bilder, zugleich aber Reflexionen über Politik oder den schwankenden Boden unseres Daseins.
Vielleicht ist das, was wir „Welt“ nennen, vermutet Ashbery, ja nichts anderes als ein Gewebe aus sinnfreien Zeichen. Seine Denkweise jedenfalls ermöglicht es ihm, ganz unterschiedliche Vorstellungen zusammenzubringen. Ashbery spielt geradezu mit Assoziationen, die für den Leser zu einer Welle werden können, oder bietet kleine Stücke eines Puzzles, die er wieder und wieder variiert.
So anspruchsvoll und theorielastig diese Überlegungen auch klingen mögen, Ben Lerners Roman ist doch angenehm frei von überdehnten postmodernen Begriffen. Vielmehr lagert er die Ideen in Szenen und ironisch unterfütterte Gedanken seines Ich-Erzählers ein. Was Adam einmal über sein eigenes Denken schreibt, gilt auch für Ben Lerners Sätze: „Ich dachte das alles weniger, als dass ich es auf meiner Haut spürte, während ich die Stadt durchstreifte.“ Auf und unter seiner Haut spürt Adam vor allem die Wirkung der Joints und der vielen Tranquilizer, mit deren Hilfe er sich die Realität seines spanischen Forschungsziels in Spannung hält. Der Effekt der Drogen wird noch verstärkt durch die fremde Sprache, die Adam nur schlecht beherrscht. Nicht nur kann er aus den Äußerungen seiner spanischen Freunde, weil er sie bloß halb versteht, immer mehrere Geschichten destillieren, auch die Lücken seines eigenen Spanisch vermag er so zu inszenieren, dass die anderen sie für Momente ungeheurer geistiger und ästhetischer Kraft halten.
Er selbst indes bezeichnet seine Inszenierungen geradewegs als „Hochstapelei“. Doch immerhin, diese Hochstapelei erlaubt es ihm, einige Menschen für sich zu interessieren, Isabel etwa, die eine Affäre mit ihm beginnt, oder die junge Teresa, die seine Gedichte übersetzt. Als Adam und Teresa einmal durch Barcelona streifen, wird deutlich, dass Adam sich die Erfahrung der „Wirklichkeit“ ähnlich denkt wie jene eines Gedicht: als „reine Potenzialität, die der Artikulation harrt“. Dass ein Gedicht etwas bewirken könnte, einen Wechsel der Regierung oder gar ihrer Sprache, kann er sich nicht einmal vorstellen.
So wie Lerner mit dem Muster des Entwicklungsromans spielt, gibt es in seiner Geschichte von Gordon Adam auch die Idee einer Wende. Die Zuganschläge im Madrider Hauptbahnhof Atocha am 11. März 2004 baut Lerner so in den Roman ein, dass sie ein Umschlagspunkt für seinen Helden sein könnten. Zum Glück widerfährt Adam aber keine Reinigung oder die Umkehr seiner fließenden Sichtweise. In gewisser Weise haben ihn die anderen längst als Hochstapler durchschaut oder erweisen sich selbst als Meister der subtilen Hochstapelei. Statt Pointen oder gar einer wie auch immer gearteten Lösung lässt Lerner seinen Helden allenfalls ein bewussteres Verhältnis zu seinem Schreiben ausmachen.
Nikolaus Stingl hat Lerners Bilder und die Bewegung seiner Sätze, jene Doppelung aus „Bogen und Stimmung des Denkens“, gut im Deutschen nachgebildet. Wer sie liest, mag mit ein wenig Glück Ähnliches verspüren wie Adam, als er zum ersten Mal Übersetzungen seiner Gedichte hört: „Ich hatte das Gefühl, als würde ein empfindliches, verspiegeltes Ding einen tückischen Pfad entlanggetragen.“
NICO BLEUTGE
„Hupen Sie, wenn Sie
wünschten, alle schwierigen
Gedichte wären tief.“
Gordon Adam mag ein
Hochstapler sein, aber er ist ein
Hochstapler unter Hochstaplern
Ben Lerner: Abschied
von Atocha. Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013.
256 Seiten, 19,95 Euro, E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der amerikanische Lyriker Ben Lerner hat seinen ersten Roman geschrieben: „Abschied von Atocha“
In ihrem Buch "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" von 1796 entwickeln Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck eine Idee von Kunst, die ganz auf Begeisterung und Gefühl setzt. Eine "göttliche" Kunst sei die wahre "Blume der Empfindung" - und kein größeres Glück denkbar, als ein Kunstwerk mit ganzer Seele in sich aufzunehmen. Wir wissen nicht, was genau der Erzähler in Ben Lerners erstem Roman "Abschied von Atocha" unter einer "tiefgehenden Kunsterfahrung" versteht. Aber seine Skepsis gegenüber Menschen, die staunend vor einem Bild stehen oder beim Lesen in Tränen ausbrechen, ist immens: "Am nächsten kam ich einer tiefgehenden Kunsterfahrung noch mit der Erfahrung einer Distanz, einer tiefgehenden Erfahrung fehlender Tiefe".
Auch wenn dem amerikanischen Schriftsteller Ben Lerner nichts ferner sein dürfte als die Vorstellungen der beiden Frühromantiker Wackenroder und Tieck – „Erfahrung“ ist doch einer der wichtigsten Begriffe in seinem Roman. Man könnte „Abschied von Atocha“ einen Adoleszenz-, vielleicht auch einen Schelmenroman nennen, würde Lerners Erzähler nicht jeden Begriff, ja, überhaupt die Frage, was denn so etwas wie ein Begriff sei, fortwährend in Frage stellen und in ein ironisch angehauchtes Zusammenspiel von Sätzen umbauen.
Schon in seinen bislang drei Gedichtbänden verstand es Lerner, der 1979 in Kansas geboren wurde, der Verbindung von Sprache und Leben nachzutasten. Der Lyriker Steffen Popp hat Lerners Erstling „The Lichtenberg Figures“ (2004) vor kurzem in ein vibrierendes Deutsch verwandelt: „Hupen Sie, wenn Sie wünschten, alle schwierigen Gedichte wären tief.“ Jetzt hat Lerner einen feinen, überaus witzigen und klugen Roman über die Suche nach dem vermeintlich Wirklichen geschrieben, einen Roman, der dem Möglichkeitssinn huldigt und der am Ende sogar die Idee der Suche ad absurdum führt.
Wie eine Studie in Selbstfindung hat Lerner seinen Roman angelegt. Und als ein solches „Forschungsprojekt“ versteht auch die Hauptfigur ihre Erlebnisse. Adam Gordon ist Mitte 20 und gerade mit einem Stipendium für ein Jahr aus den USA nach Madrid gekommen. Weil man für jede Bewerbung eine Berufsbezeichnung und ein Projekt benötigt, nennt er sich Lyriker und formuliert eine veritable Aufgabe: ein langes Gedicht „über die literarische Reaktion auf den Bürgerkrieg“ zu verfassen und darin der Frage nachzugehen, „was ein solcher Moment uns über ,Literatur heute' lehren könnte“.
Tatsächlich aber vermag er an seine Studie ebenso wenig zu glauben wie an die eigene Rolle als Dichter. Im Grunde gibt es für Adam keinen Zugang zur Welt jenseits von Deutungen. Alles ist immer schon Projektion, vermittelt durch Zeichen, aufgehoben in einer erzählerischen Struktur. Oder in Adams Worten: „Es war die Inkommensurabilität von Sprache und Erfahrung.“
Einer von Adams Lieblingsautoren ist der große amerikanische Lyriker John Ashbery. Auch in Ashberys langen, oft flussartig über die Seiten ziehenden Gedichten gibt es kein Zurück hinter das Denken. In der „Matrix / unserer täglichen Phantasien“, wie er es einmal nennt, verfangen sich Bilder, zugleich aber Reflexionen über Politik oder den schwankenden Boden unseres Daseins.
Vielleicht ist das, was wir „Welt“ nennen, vermutet Ashbery, ja nichts anderes als ein Gewebe aus sinnfreien Zeichen. Seine Denkweise jedenfalls ermöglicht es ihm, ganz unterschiedliche Vorstellungen zusammenzubringen. Ashbery spielt geradezu mit Assoziationen, die für den Leser zu einer Welle werden können, oder bietet kleine Stücke eines Puzzles, die er wieder und wieder variiert.
So anspruchsvoll und theorielastig diese Überlegungen auch klingen mögen, Ben Lerners Roman ist doch angenehm frei von überdehnten postmodernen Begriffen. Vielmehr lagert er die Ideen in Szenen und ironisch unterfütterte Gedanken seines Ich-Erzählers ein. Was Adam einmal über sein eigenes Denken schreibt, gilt auch für Ben Lerners Sätze: „Ich dachte das alles weniger, als dass ich es auf meiner Haut spürte, während ich die Stadt durchstreifte.“ Auf und unter seiner Haut spürt Adam vor allem die Wirkung der Joints und der vielen Tranquilizer, mit deren Hilfe er sich die Realität seines spanischen Forschungsziels in Spannung hält. Der Effekt der Drogen wird noch verstärkt durch die fremde Sprache, die Adam nur schlecht beherrscht. Nicht nur kann er aus den Äußerungen seiner spanischen Freunde, weil er sie bloß halb versteht, immer mehrere Geschichten destillieren, auch die Lücken seines eigenen Spanisch vermag er so zu inszenieren, dass die anderen sie für Momente ungeheurer geistiger und ästhetischer Kraft halten.
Er selbst indes bezeichnet seine Inszenierungen geradewegs als „Hochstapelei“. Doch immerhin, diese Hochstapelei erlaubt es ihm, einige Menschen für sich zu interessieren, Isabel etwa, die eine Affäre mit ihm beginnt, oder die junge Teresa, die seine Gedichte übersetzt. Als Adam und Teresa einmal durch Barcelona streifen, wird deutlich, dass Adam sich die Erfahrung der „Wirklichkeit“ ähnlich denkt wie jene eines Gedicht: als „reine Potenzialität, die der Artikulation harrt“. Dass ein Gedicht etwas bewirken könnte, einen Wechsel der Regierung oder gar ihrer Sprache, kann er sich nicht einmal vorstellen.
So wie Lerner mit dem Muster des Entwicklungsromans spielt, gibt es in seiner Geschichte von Gordon Adam auch die Idee einer Wende. Die Zuganschläge im Madrider Hauptbahnhof Atocha am 11. März 2004 baut Lerner so in den Roman ein, dass sie ein Umschlagspunkt für seinen Helden sein könnten. Zum Glück widerfährt Adam aber keine Reinigung oder die Umkehr seiner fließenden Sichtweise. In gewisser Weise haben ihn die anderen längst als Hochstapler durchschaut oder erweisen sich selbst als Meister der subtilen Hochstapelei. Statt Pointen oder gar einer wie auch immer gearteten Lösung lässt Lerner seinen Helden allenfalls ein bewussteres Verhältnis zu seinem Schreiben ausmachen.
Nikolaus Stingl hat Lerners Bilder und die Bewegung seiner Sätze, jene Doppelung aus „Bogen und Stimmung des Denkens“, gut im Deutschen nachgebildet. Wer sie liest, mag mit ein wenig Glück Ähnliches verspüren wie Adam, als er zum ersten Mal Übersetzungen seiner Gedichte hört: „Ich hatte das Gefühl, als würde ein empfindliches, verspiegeltes Ding einen tückischen Pfad entlanggetragen.“
NICO BLEUTGE
„Hupen Sie, wenn Sie
wünschten, alle schwierigen
Gedichte wären tief.“
Gordon Adam mag ein
Hochstapler sein, aber er ist ein
Hochstapler unter Hochstaplern
Ben Lerner: Abschied
von Atocha. Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013.
256 Seiten, 19,95 Euro, E-Book 16,99 Euro.
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