Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2013Seine Augenbrauen sagen mehr als tausend Worte
In seinem gewitzten Debütroman "Abschied von Atocha" erzählt Ben Lerner von einem Lügner, der auszog, ein Poet zu werden
Mit seinen Augenbrauen kann Adam Gordon fast alles sagen. Wenn er in einer Bar in Madrid fragen will, ob noch jemand ein Getränk möchte, zeigt der amerikanische Stipendiat bloß auf ein Glas und hebt dabei die Brauen. Auf der Autobahn hält er Busreisende für amerikanische Touristen, Kamera in der Hand, und lässt sie beim Überholen seine Verachtung wissen, "was ich mit meinen Augenbrauen ohne weiteres schaffte". Mit den Worten dagegen tut sich dieser angehende Dichter schwer. Die Spanischprüfung in Amerika hat Adam dank einer auswendig gelernten Antwort überstanden, doch wirklich unterhalten kann er sich auf Spanisch nicht. In den ersten Gesprächen in Madrid muss er raten, wovon überhaupt die Rede ist, stets in Sorge, als Hochstapler entlarvt zu werden.
Von einer namhaften Stiftung gefördert, ist Adam eigentlich nach Madrid gekommen, um ein langes Gedicht über das literarische Erbe des Spanischen Bürgerkriegs zu schreiben. Dass das nichts wird, liegt nicht allein an mangelnden Sprachkenntnissen: Adam, immerhin Absolvent einer Ivy-League-Universität, weiß auch nichts über die Geschichte des Bürgerkriegs und hat von den meisten spanischen Autoren noch nie gehört. Statt sich dem vorgeblichen Projekt zu widmen, klettert er morgens erst mal von seiner Mansardenwohnung aus mit einem Joint auf das Hausdach, geht dann in den Prado, später in den Park, hält daheim Siesta, liest ein wenig Tolstoi auf Englisch oder schaut Greuelvideos im Netz.
Adam Gordon ist der Ich-Erzähler in "Abschied von Atocha", dem gewitzten ersten Roman des Amerikaners Ben Lerner. Wie seine Hauptfigur stammt auch Lerner, Jahrgang 1979, aus Topeka im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, zog zum Studium nach Providence im Ostküstenstaat Rhode Island und lebte schließlich als Stipendiat in Madrid. Lerner spielt mit den Ähnlichkeiten zwischen Figur und Autor, sah aber, anders als etwa Thomas Glavinic in "Das bin doch ich", davon ab, der Figur obendrein den eigenen Namen zu geben. Allerdings borgt er Adam ein Gedicht aus "The Lichtenberg Figures" (2004), dem ersten seiner bislang drei Lyrikbände. Für die zweisprachige Fassung dieser Sonett-Sammlung wurden Lerner und sein deutscher Übersetzer, der Lyriker Steffen Popp, vor zwei Jahren mit dem Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie geehrt.
Da er in Madrid niemanden kennt, verbringt Adam seine Wochenenden zunächst mit seinem Spanischlehrer und dessen Freunden. Wegen Adams sprachlicher Unzulänglichkeiten kommt es zu einem Streit, der Spanier Miguel verpasst ihm einen Schlag, Adam sinkt theatralisch zu Boden und beißt sich auf die Lippe, um schlimmer verletzt zu wirken. Isabel, eine junge Frau aus der Gruppe, wäscht ihm am See das Blut vom Gesicht und will ihn trösten. Er versteht sie aber nicht: "Dann sagte sie entweder etwas über den Mond, den Effekt, den der Mond auf das Wasser hatte, oder sie führte den Vollmond als Entschuldigung für Miguels Verhalten oder das allgemeine Drama des Abends an, obwohl der Mond gar nicht voll war."
Die beiden werden ein Paar; nur vermutet Adam, die Beziehung basiere vor allem auf seinem schlichten Spanisch, weil es Isabel ermögliche, die Lücken seiner Sätze durch ihre Deutungen aufzuladen. "Ein Gemälde zu fotografieren ...", sagt er vor Picassos "Guernica" beim Anblick der Touristen und beobachtet dann Isabels Gesicht, "während diese Bemerkung sich zu einer Betrachtung über Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit ausweitete." Der Anklang an Walter Benjamin ist kein Zufall: Der Reiz des Aufspürens solcher Bezüge trägt beträchtlich zu dem intellektuellen Vergnügen bei, das "Abschied von Atocha" bereitet.
Adam lernt in Madrid außerdem die Geschwister Arturo und Teresa kennen, hält Isabel aber von ihnen fern, damit alle drei denken, er habe einen großen Freundeskreis, obwohl es sonst niemanden gibt. Lerner legt seinen Protagonisten als unzuverlässigen Erzähler an, der immer neue Lügen und Selbstinszenierungen braucht - vom hochstaplerischen Bürgerkriegsprojekt über die verschlimmerte Verletzung nach Miguels Schlag bis zur dreisten Behauptung, dass seine Mutter gestorben sei. Das sagt Adam erst zu Teresa, hat Schuldgefühle, sagt es auch zu Isabel, "vielleicht um meine Schuldgefühle zu einer Art Buße zu vertiefen", und als die Lüge auffliegt, rettet er sich in eine neue: Seine Mutter sei krank, also habe er schon einmal von ihrem Tod gesprochen, um weniger Angst davor zu haben.
In der Liebe schwankt Adam lange zwischen Isabel und Teresa. Nach einer letzten Nacht mit Isabel explodieren Bomben am Madrider Bahnhof Atocha. Es ist der 11. März 2004, der Tag der Zuganschläge islamistischer Terroristen, kurz vor den spanischen Wahlen. In der Zeit der Trauer und des Protests sagt sich Adam, "dass gerade Geschichte geschrieben wurde und dass ich mit Spaniern zusammen sein musste, um das zu erleben". Andererseits erklärt er sogleich, dass er sich nur einen Vorwand dafür zurechtlege, Teresa aufzusuchen. Adams Ehrlichkeit ist so schonungslos wie seine Lügen.
Bei aller moralischen Ambivalenz der Figur gelingt Lerner jedoch auch ein äußerst amüsanter Antiheld, der herrlich spotten kann, wenn er die Lesung eines pathetischen Dichterdarstellers schildert, der ständig sein schulterlanges Haar mit einstudierter Geste zurückstreicht und sich an seinem Pult festhält, "als könnten ihn die über ihn hereinbrechenden Wellen der Emotion umreißen". Wobei der Witz bisweilen auf Adams Kosten geht, ohne dass er es merkt. Adam vertritt nämlich gern die These, "dass Gedichte von überhaupt nichts handelten". Als er aber ein Notizbuch mit Teresas Gedichten findet, schaut er, ob vielleicht sein eigener Name oder der eines Nebenbuhlers darin auftaucht.
Wie klug das Buch konstruiert ist, zeigt sich an den Doppelfiguren und Wiederholungen. Nehmen wir Isabel und Teresa. Mit jeder von beiden unternimmt Adam spontan eine Reise, die unglücklich endet, und in beiden Beziehungen leidet er unter der Konkurrenz zu einem anderen Mann. Adam selbst ist in das Doppelmotiv ebenfalls einbezogen, wenn er auf dem Hausdach sitzt, Flugzeuge sieht und sich vorstellt, er wäre "ein Passagier, der mich dabei sehen könnte, wie ich zu mir Herabschauendem hinaufschaute". Dieses Bild wird uns noch einmal begegnen - in einem von Adams Gedichten.
Denn "Abschied von Atocha" lässt sich zwar auf viele Weisen lesen - als die Bekenntnisse des Hochstaplers Adam Gordon, als Spiel mit Biographie und Fiktion, als Abschlussbericht eigener Art über einen stipendienfinanzierten Auslandsaufenthalt, nicht zuletzt als Leitfaden zur Verständigung mit nonverbalen Mitteln (Augenbrauen!) -, aber es ist eben vor allem ein Künstlerroman. Das große Werk zum Bürgerkrieg bleibt Adam schuldig, doch am Ende hält er tatsächlich sein kleines, von Teresa übersetztes Lyrikbändchen in der Hand. Oder erliegen wir, wenn wir das glauben, einer weiteren seiner Lügen?
THORSTEN GRÄBE.
Ben Lerner: "Abschied von Atocha". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 256 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In seinem gewitzten Debütroman "Abschied von Atocha" erzählt Ben Lerner von einem Lügner, der auszog, ein Poet zu werden
Mit seinen Augenbrauen kann Adam Gordon fast alles sagen. Wenn er in einer Bar in Madrid fragen will, ob noch jemand ein Getränk möchte, zeigt der amerikanische Stipendiat bloß auf ein Glas und hebt dabei die Brauen. Auf der Autobahn hält er Busreisende für amerikanische Touristen, Kamera in der Hand, und lässt sie beim Überholen seine Verachtung wissen, "was ich mit meinen Augenbrauen ohne weiteres schaffte". Mit den Worten dagegen tut sich dieser angehende Dichter schwer. Die Spanischprüfung in Amerika hat Adam dank einer auswendig gelernten Antwort überstanden, doch wirklich unterhalten kann er sich auf Spanisch nicht. In den ersten Gesprächen in Madrid muss er raten, wovon überhaupt die Rede ist, stets in Sorge, als Hochstapler entlarvt zu werden.
Von einer namhaften Stiftung gefördert, ist Adam eigentlich nach Madrid gekommen, um ein langes Gedicht über das literarische Erbe des Spanischen Bürgerkriegs zu schreiben. Dass das nichts wird, liegt nicht allein an mangelnden Sprachkenntnissen: Adam, immerhin Absolvent einer Ivy-League-Universität, weiß auch nichts über die Geschichte des Bürgerkriegs und hat von den meisten spanischen Autoren noch nie gehört. Statt sich dem vorgeblichen Projekt zu widmen, klettert er morgens erst mal von seiner Mansardenwohnung aus mit einem Joint auf das Hausdach, geht dann in den Prado, später in den Park, hält daheim Siesta, liest ein wenig Tolstoi auf Englisch oder schaut Greuelvideos im Netz.
Adam Gordon ist der Ich-Erzähler in "Abschied von Atocha", dem gewitzten ersten Roman des Amerikaners Ben Lerner. Wie seine Hauptfigur stammt auch Lerner, Jahrgang 1979, aus Topeka im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, zog zum Studium nach Providence im Ostküstenstaat Rhode Island und lebte schließlich als Stipendiat in Madrid. Lerner spielt mit den Ähnlichkeiten zwischen Figur und Autor, sah aber, anders als etwa Thomas Glavinic in "Das bin doch ich", davon ab, der Figur obendrein den eigenen Namen zu geben. Allerdings borgt er Adam ein Gedicht aus "The Lichtenberg Figures" (2004), dem ersten seiner bislang drei Lyrikbände. Für die zweisprachige Fassung dieser Sonett-Sammlung wurden Lerner und sein deutscher Übersetzer, der Lyriker Steffen Popp, vor zwei Jahren mit dem Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie geehrt.
Da er in Madrid niemanden kennt, verbringt Adam seine Wochenenden zunächst mit seinem Spanischlehrer und dessen Freunden. Wegen Adams sprachlicher Unzulänglichkeiten kommt es zu einem Streit, der Spanier Miguel verpasst ihm einen Schlag, Adam sinkt theatralisch zu Boden und beißt sich auf die Lippe, um schlimmer verletzt zu wirken. Isabel, eine junge Frau aus der Gruppe, wäscht ihm am See das Blut vom Gesicht und will ihn trösten. Er versteht sie aber nicht: "Dann sagte sie entweder etwas über den Mond, den Effekt, den der Mond auf das Wasser hatte, oder sie führte den Vollmond als Entschuldigung für Miguels Verhalten oder das allgemeine Drama des Abends an, obwohl der Mond gar nicht voll war."
Die beiden werden ein Paar; nur vermutet Adam, die Beziehung basiere vor allem auf seinem schlichten Spanisch, weil es Isabel ermögliche, die Lücken seiner Sätze durch ihre Deutungen aufzuladen. "Ein Gemälde zu fotografieren ...", sagt er vor Picassos "Guernica" beim Anblick der Touristen und beobachtet dann Isabels Gesicht, "während diese Bemerkung sich zu einer Betrachtung über Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit ausweitete." Der Anklang an Walter Benjamin ist kein Zufall: Der Reiz des Aufspürens solcher Bezüge trägt beträchtlich zu dem intellektuellen Vergnügen bei, das "Abschied von Atocha" bereitet.
Adam lernt in Madrid außerdem die Geschwister Arturo und Teresa kennen, hält Isabel aber von ihnen fern, damit alle drei denken, er habe einen großen Freundeskreis, obwohl es sonst niemanden gibt. Lerner legt seinen Protagonisten als unzuverlässigen Erzähler an, der immer neue Lügen und Selbstinszenierungen braucht - vom hochstaplerischen Bürgerkriegsprojekt über die verschlimmerte Verletzung nach Miguels Schlag bis zur dreisten Behauptung, dass seine Mutter gestorben sei. Das sagt Adam erst zu Teresa, hat Schuldgefühle, sagt es auch zu Isabel, "vielleicht um meine Schuldgefühle zu einer Art Buße zu vertiefen", und als die Lüge auffliegt, rettet er sich in eine neue: Seine Mutter sei krank, also habe er schon einmal von ihrem Tod gesprochen, um weniger Angst davor zu haben.
In der Liebe schwankt Adam lange zwischen Isabel und Teresa. Nach einer letzten Nacht mit Isabel explodieren Bomben am Madrider Bahnhof Atocha. Es ist der 11. März 2004, der Tag der Zuganschläge islamistischer Terroristen, kurz vor den spanischen Wahlen. In der Zeit der Trauer und des Protests sagt sich Adam, "dass gerade Geschichte geschrieben wurde und dass ich mit Spaniern zusammen sein musste, um das zu erleben". Andererseits erklärt er sogleich, dass er sich nur einen Vorwand dafür zurechtlege, Teresa aufzusuchen. Adams Ehrlichkeit ist so schonungslos wie seine Lügen.
Bei aller moralischen Ambivalenz der Figur gelingt Lerner jedoch auch ein äußerst amüsanter Antiheld, der herrlich spotten kann, wenn er die Lesung eines pathetischen Dichterdarstellers schildert, der ständig sein schulterlanges Haar mit einstudierter Geste zurückstreicht und sich an seinem Pult festhält, "als könnten ihn die über ihn hereinbrechenden Wellen der Emotion umreißen". Wobei der Witz bisweilen auf Adams Kosten geht, ohne dass er es merkt. Adam vertritt nämlich gern die These, "dass Gedichte von überhaupt nichts handelten". Als er aber ein Notizbuch mit Teresas Gedichten findet, schaut er, ob vielleicht sein eigener Name oder der eines Nebenbuhlers darin auftaucht.
Wie klug das Buch konstruiert ist, zeigt sich an den Doppelfiguren und Wiederholungen. Nehmen wir Isabel und Teresa. Mit jeder von beiden unternimmt Adam spontan eine Reise, die unglücklich endet, und in beiden Beziehungen leidet er unter der Konkurrenz zu einem anderen Mann. Adam selbst ist in das Doppelmotiv ebenfalls einbezogen, wenn er auf dem Hausdach sitzt, Flugzeuge sieht und sich vorstellt, er wäre "ein Passagier, der mich dabei sehen könnte, wie ich zu mir Herabschauendem hinaufschaute". Dieses Bild wird uns noch einmal begegnen - in einem von Adams Gedichten.
Denn "Abschied von Atocha" lässt sich zwar auf viele Weisen lesen - als die Bekenntnisse des Hochstaplers Adam Gordon, als Spiel mit Biographie und Fiktion, als Abschlussbericht eigener Art über einen stipendienfinanzierten Auslandsaufenthalt, nicht zuletzt als Leitfaden zur Verständigung mit nonverbalen Mitteln (Augenbrauen!) -, aber es ist eben vor allem ein Künstlerroman. Das große Werk zum Bürgerkrieg bleibt Adam schuldig, doch am Ende hält er tatsächlich sein kleines, von Teresa übersetztes Lyrikbändchen in der Hand. Oder erliegen wir, wenn wir das glauben, einer weiteren seiner Lügen?
THORSTEN GRÄBE.
Ben Lerner: "Abschied von Atocha". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 256 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main