Noch einmal meldet sich Grete Weil - 91jährig - zu Wort: eine der wichtigsten literarischen Zeitzeuginnen im deutschsprachigen Raum.
Das Buch ist ein Rückblick auf ihr Leben, auf ihre Herkunft. Eine Geschichte, die zurückgreift bis ins letzte Jahrhundert, als ihren Vorfahren das Bürgerrecht verliehen wurde. Noch einmal entfaltet Grete Weil die Lebenswelt des jüdischen Großbürgertums, das Deutschland als Heimat empfand, schildert sie die Zeit von Verfolgung und Exil, die Ermordung ihres Mannes Edgar Weil im KZ Mauthausen, die illegale Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1947. Das Buch ergänzt, was die veröffentlichten Romane und Erzählungen ausgespart hatten. Es ist ein Werk, das bewegt und berührt. Es vermittelt, was auch das beste Geschichtswerk nicht darzustellen vermag: das persönliche Erleben, den Schmerz, die Auseinandersetzung mit Schuld, vor allem aber das nicht überlieferte Detail.
Das Buch ist ein Rückblick auf ihr Leben, auf ihre Herkunft. Eine Geschichte, die zurückgreift bis ins letzte Jahrhundert, als ihren Vorfahren das Bürgerrecht verliehen wurde. Noch einmal entfaltet Grete Weil die Lebenswelt des jüdischen Großbürgertums, das Deutschland als Heimat empfand, schildert sie die Zeit von Verfolgung und Exil, die Ermordung ihres Mannes Edgar Weil im KZ Mauthausen, die illegale Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1947. Das Buch ergänzt, was die veröffentlichten Romane und Erzählungen ausgespart hatten. Es ist ein Werk, das bewegt und berührt. Es vermittelt, was auch das beste Geschichtswerk nicht darzustellen vermag: das persönliche Erleben, den Schmerz, die Auseinandersetzung mit Schuld, vor allem aber das nicht überlieferte Detail.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.1998Von Flucht und Rettung
Zur Zeugenschaft verpflichtet: Die Autobiographie von Grete Weil
Der Stoff ihrer Erzählungen und Romane ist die Diskriminierung und Vertreibung der Juden. Sie hat sie selbst erlitten; der Deportation in ein Todeslager entging sie nur, weil sie untertauchen konnte. Grete Weil, 1906 geboren als Tochter eines angesehenen Münchner Anwalts, hat die letzten zwei Kriegsjahre, hinter einer Schrankwand versteckt, in Amsterdam überlebt. Bis die Gefahr zu groß war, hatte sie, um ihre Mutter und sich selbst zu retten, als Fotografin und Sekretärin beim Judenrat in der berüchtigten Schouwburg gearbeitet. Ihren Mann Edgar Weil, Dramaturg an den Münchner Kammerspielen, konnte sie nicht vor der Deportation bewahren; er wurde auf offener Straße gefaßt und in Mauthausen ermordet.
Grete Weil fühlt sich als "Zeugin des Schmerzes", zugehörig einer "Gemeinschaft des Leidens". Leben mit einer solchen unaufhebbaren Last bedeutet für sie die Verpflichtung, Zeitzeugin zu sein. Deshalb meldet sich die Einundneunzigjährige noch einmal zu Wort. Unverschlüsselt hat sie nun ihre Autobiographie geschrieben, eine Nachlese, Erinnerungen an Menschen, die ihr viel bedeutet haben, an die ungeheuerlichen Erlebnisse der Flucht, an Tod und Rettung.
Auf die sorglose Jugend in einem nicht religiösen, kultivierten Elternhaus fallen bald Schatten. Doch den wachsenden Antisemitismus nimmt die Familie noch nicht ernst. Auch die junge Grete will lange nicht begreifen, daß es im Dritten Reich "lebensgefährlich ist, Jude oder Jüdin zu sein". Aber was ist das: "Jude"?, fragt sie noch heute und weiß für sich keine überzeugende Antwort. Sie hat sich wie ihre Familie als Deutsche, als Bayerin gefühlt, in die jüdische Schicksalsgemeinschaft wurde sie gezwungen.
Schon im Jahre 1947 kehrte sie, als Staatenlose über die grüne Grenze, in die zerstörte Heimat zurück, was viele nicht verstanden. Sie selbst hatte das ungute Gefühl, "daß für die meisten ein lebender Jude sechs Millionen toter aufwiegt". Niemand wollte damals etwas von Auschwitz wissen. Selbst die Überlebenden vermieden das Wort "Mord"; sie sprachen vom "Verlust" ihrer Familien und Freunde.
Grete Weil heiratete in zweiter Ehe ihren Jugendfreund Walter Jokisch, der von Anfang an ein Gegner der Nationalsozialisten war, sich aber dem Militärdienst nicht entziehen konnte. Als Regisseur fand er bald neue Aufgaben im zerstörten Frankfurt und in Darmstadt. Über diese ersten Nachkriegsjahre hätte man gerne mehr erfahren, auch über die Versuche, von denen Grete Weil schreibt, "im kleinsten Kreis zu wirken, zu versöhnen".
Ihre Bücher waren zunächst kein Erfolg; nur wenige wollten damals die Wahrheit wissen, wie sie in den Erzählungsbänden "Ans Ende der Welt" oder "Tramhalte Beethovenstraat" zu lesen ist. Erst mit ihrem Roman "Meine Schwester Antigone", 1980 erschienen, konnte sie sich durchsetzen. Antigone ist für sie die Starke, die nein sagen kann und bis zum Letzten Widerstand leistet. Grete Weil dagegen wirft sich vor, Kompromisse eingegangen zu sein, ein Schuldkomplex, unter dem sie noch heute leidet. Aber ist Überleben Schuld? Ihre späte Autobiographie ist zumindest für ihre Leser eine Antwort auf die immer wiederkehrende Frage: "Warum habe ich überlebt?" MARIA FRISÉ
Grete Weil: "Leb ich denn, wenn andere leben". Verlag Nagel & Kimche, Zürich/ Frauenfeld 1998. 256 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zur Zeugenschaft verpflichtet: Die Autobiographie von Grete Weil
Der Stoff ihrer Erzählungen und Romane ist die Diskriminierung und Vertreibung der Juden. Sie hat sie selbst erlitten; der Deportation in ein Todeslager entging sie nur, weil sie untertauchen konnte. Grete Weil, 1906 geboren als Tochter eines angesehenen Münchner Anwalts, hat die letzten zwei Kriegsjahre, hinter einer Schrankwand versteckt, in Amsterdam überlebt. Bis die Gefahr zu groß war, hatte sie, um ihre Mutter und sich selbst zu retten, als Fotografin und Sekretärin beim Judenrat in der berüchtigten Schouwburg gearbeitet. Ihren Mann Edgar Weil, Dramaturg an den Münchner Kammerspielen, konnte sie nicht vor der Deportation bewahren; er wurde auf offener Straße gefaßt und in Mauthausen ermordet.
Grete Weil fühlt sich als "Zeugin des Schmerzes", zugehörig einer "Gemeinschaft des Leidens". Leben mit einer solchen unaufhebbaren Last bedeutet für sie die Verpflichtung, Zeitzeugin zu sein. Deshalb meldet sich die Einundneunzigjährige noch einmal zu Wort. Unverschlüsselt hat sie nun ihre Autobiographie geschrieben, eine Nachlese, Erinnerungen an Menschen, die ihr viel bedeutet haben, an die ungeheuerlichen Erlebnisse der Flucht, an Tod und Rettung.
Auf die sorglose Jugend in einem nicht religiösen, kultivierten Elternhaus fallen bald Schatten. Doch den wachsenden Antisemitismus nimmt die Familie noch nicht ernst. Auch die junge Grete will lange nicht begreifen, daß es im Dritten Reich "lebensgefährlich ist, Jude oder Jüdin zu sein". Aber was ist das: "Jude"?, fragt sie noch heute und weiß für sich keine überzeugende Antwort. Sie hat sich wie ihre Familie als Deutsche, als Bayerin gefühlt, in die jüdische Schicksalsgemeinschaft wurde sie gezwungen.
Schon im Jahre 1947 kehrte sie, als Staatenlose über die grüne Grenze, in die zerstörte Heimat zurück, was viele nicht verstanden. Sie selbst hatte das ungute Gefühl, "daß für die meisten ein lebender Jude sechs Millionen toter aufwiegt". Niemand wollte damals etwas von Auschwitz wissen. Selbst die Überlebenden vermieden das Wort "Mord"; sie sprachen vom "Verlust" ihrer Familien und Freunde.
Grete Weil heiratete in zweiter Ehe ihren Jugendfreund Walter Jokisch, der von Anfang an ein Gegner der Nationalsozialisten war, sich aber dem Militärdienst nicht entziehen konnte. Als Regisseur fand er bald neue Aufgaben im zerstörten Frankfurt und in Darmstadt. Über diese ersten Nachkriegsjahre hätte man gerne mehr erfahren, auch über die Versuche, von denen Grete Weil schreibt, "im kleinsten Kreis zu wirken, zu versöhnen".
Ihre Bücher waren zunächst kein Erfolg; nur wenige wollten damals die Wahrheit wissen, wie sie in den Erzählungsbänden "Ans Ende der Welt" oder "Tramhalte Beethovenstraat" zu lesen ist. Erst mit ihrem Roman "Meine Schwester Antigone", 1980 erschienen, konnte sie sich durchsetzen. Antigone ist für sie die Starke, die nein sagen kann und bis zum Letzten Widerstand leistet. Grete Weil dagegen wirft sich vor, Kompromisse eingegangen zu sein, ein Schuldkomplex, unter dem sie noch heute leidet. Aber ist Überleben Schuld? Ihre späte Autobiographie ist zumindest für ihre Leser eine Antwort auf die immer wiederkehrende Frage: "Warum habe ich überlebt?" MARIA FRISÉ
Grete Weil: "Leb ich denn, wenn andere leben". Verlag Nagel & Kimche, Zürich/ Frauenfeld 1998. 256 S., geb., 39,80 DM.
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"Aber erst die als eine Art Epilog verfaßte Autobiographie macht den Zusammenhang zwischen der erlebten Geschichte und ihrer Spiegelung in erzählten Geschichten in aller Schärfe sichtbar. Es geht darum, Rechenschaft abzulegen. Sie schließt die Absicht, Zeugnis zu geben, und das Verlangen nach Abrechnung ein, hebt aber beide Impulse zugleich auf, weil Rechenschaft auch vor der eigenen Verstrickung in das zum (stummen) Himmel schreiende Geschehen nicht haltmacht." Albert von Schirnding, Süddeutsche Zeitung, 11.04.1998