Ein melancholischer Abgesang auf eine verlorene Welt: Kosmopolitisch, libertin, glamourös und dekadent - mit fotografischer Präzision erfasst Christopher Isherwood die letzten Tage der Weimarer Republik in Berlin und zeichnet unvergessliche Porträts der Menschen, die seinen Weg kreuzen und unterschiedlicher nicht sein könnten: zwei junge Männer, die in fataler Weise voneinander abhängen, eine vermögende jüdische Familie, die das nahende Unglück nicht wahrhaben will, und zahlreiche Mitglieder der Halbwelt, unter ihnen die hinreißend leichtsinnige Sally Bowles, die in der Literatur ihresgleichen sucht. Im Hintergrund der Szenerie marschieren bereits die Nazis auf. Isherwoods Figuren aber verschließen die Augen vor der drohenden Katastrophe und feiern sich um den Verstand.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019Jut jesehen, Herr Issiwu
„Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss, ganz passiv, ich nehme auf, ich denke nicht.“
Ein Hörspiel nach Christopher Isherwoods Roman „Leb wohl, Berlin“
VON JENS BISKY
Jeder kennt Sally Bowles aus dem Film „Cabaret“. Liza Minelli hat die kess egozentrische Schauspielerin, die im Berlin der frühen Dreißigerjahre ihren Weg durchs Leben sucht, so berühmt gemacht, dass sie seitdem die anderen Figuren aus Christopher Isherwoods „Leb wohl, Berlin“ verschattet. Sie wieder ans Licht zu holen und die Geschichten aus der freizügigen, verrückten Stadt am Vorabend ihrer Selbstzerstörung neu zu intonieren, Isherwoods Text jenseits von „Cabaret“ zu seinem Recht zu verhelfen, ist das Ziel eines Hörspiels des Hessischen Rundfunks. Das Ergebnis ist auf beglückende Art ernüchternd.
Der 1939 auf Englisch erschienene Roman umfasst sechs lose miteinander verknüpfte Teile: „Ein Berliner Tagebuch (Herbst 1930)“, „Sally Bowles“, „Auf Rügen (Sommer 1931)“, „Die Nowaks“, „Die Landauers“ und „Ein Berliner Tagebuch (Winter 1932/33). Die beiden mittleren Kapitel hat Heinz Sommer für die Hörspieladaption gestrichen, dafür die Stadt Berlin und ihre überforderten Benutzer ins Zentrum gestellt.
Ein junger Schriftsteller, der sich Christopher Isherwood nennt, kommt an die Spree, um dort einen Roman zu vollenden. Er mietet ein Zimmer in der Pension des Fräulein Schröder, Schöneberg, Nollendorfstraße, und er hat ein literarisch strenges Programm: „Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss“ heißt es in der Übersetzung von Kathrin Passig und Gerhard Henschel, „ganz passiv, ich nehme auf, ich denke nicht. Ich nehme den Mann auf, der sich gegenüber am Fenster rasiert, und die Frau im Kimono, die sich die Haare wäscht. Eines Tages muss das alles entwickelt werden, sorgfältig abgezogen, fixiert.“
Der Regisseur Leonhard Koppelmann hat sich für einen doppelten Anfang entscheiden. Eine Schreibmaschine klappert, der Erzähler verkündet sein Programm in Englisch und Deutsch, Musik erklingt, als gelte es, davonzutanzen aus Raum und Zeit. Dann hört man Silvestertrubel, Musikfetzen, Kinder spielen auf dem Hof, rufen: „Mit dem kleinen Hackebeilchen macht er Schabefleisch aus dir“, ein Frau keift, sie sollten Ruhe geben, eine Zeitungsschlagzeile wird verlesen. Der Erzähler charakterisiert das seltsame Viertel „mit Häusern wie riesige schäbige Geldschränke, vollgestopft mit den vergilbten Wertsachen eines bankrotten Mittelstands und seinen Möbeln aus zweiter Hand“. So entsteht Atmosphäre. Die Welt, in der die jungen Leute ihren Aufbruch wagen, hat einen Bankrott hinter und einen Untergang vor sich. Eine Hauptattraktion im Pensionszimmer ist ein Fleck auf dem Teppich, ein Andenken, das der Vormieter hinterlassen hat. Er musste „nach seiner Geburtstagsfeier brechen“. Und es gibt noch mehr Flecken, über die Fräulein Schroeder in nie enden wollendem Wortschwall zu berichten weiß.
Dass man beim Hören nicht gleich an Mascara, „Willkommen, Bienvenue, Welcome“, Verruchtheit, nächtliche Eskapaden denkt, dass eine Stimmung, eine Lebensgefühl neu entsteht, ist vor allem den Schauspielern zu verdanken. Mathieu Carrière spricht den Erzähler mit Wärme, klingt viel wissend, obwohl er doch nur registrieren will. Dem kontrastiert Christopher Nell als junger Isherwood – naiv, freundlich, bestimmt. Barbara Philipp als Fräulein Schroeder spricht ihn auf sehr verschiedene Weise als „Herrn Issiwu““ an. Daniela Kiefers Fräulein Mayer bringt einen bayerischen Tonfall ins Spiel, man glaubt ihre fleischigen Arme zu hören: „Wenn Du einen Bayern beleidigst, der vergisst dir das nie“.
Und Sally? Sie ist, Verfilmung hin, Klischee her, auch im Roman eine der aufregenden, einprägsamsten Figuren. Laura Maire spielt gekonnt mit dem Schillernden im Charakter der Schauspielerin, die eine Schwäche für Männerbekanntschaften hat, wenn nur die Männer „furchtbar reich“ sind. Sie ist begeisternd und abstoßend, gierig und verrückt nach Glück. Ob Bobby, Fritz, Natalia, Bernhard Landauer oder Herr Landauer – alle Figuren sind so klar profiliert, scharf gezeichnet, als stünden jeder und jede von ihnen für eine eigene, den anderen unzugängliche Welt. Die Großstadt erscheint als Bühne, auf der man sich begegnet, kennenlernt und trotz allen Bemühens unverstanden auf Nimmerwiedersehen wieder trennt.
Die besondere Situation, den historischen Augenblick verdeutlichen Nachrichten, Schlagzeilen, Sequenzen aus Fritz Langs „M- Eine Stadt sucht einen Mörder“ oder aus Georg Wilhelm Pabsts Verfilmung der „Dreigroschenoper“, Originaltöne, Auszüge aus Reden, etwa des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun oder des Joseph Goebbels.
Eine weitere Bedeutungsebene stiftet die Musik von Jörg Achim Kellers, die mal illustriert, mal Assoziationen aufruft, meist aber das Geschehen kommentiert. Auf CD 4, die ganz der Musik vorbehalten ist, kann man die Kompositionen und Titel, gespielt von der HR-Bigband, nachhören. Es beginnt mit der Wochenschau-Fanfare und endet mit einem Drehorgel-Lied.
Als Hitler schon Reichskanzler ist, reist der junge Schriftsteller ein letztes Mal nach Berlin, um seine Sachen abzuholen. Er fährt über Prag, wo im Lokal von der Judenverfolgung und Konzentrationslagern gesprochen wird. Zurück in Berlin, sieht Isherwood Straßenbahnen die Kleiststraße hinauf und hinunter fahren, registriert, dass Fräulein Schroeder viel vom „Führer“ spricht. „All dem eignet etwas seltsam Vertrautes, es ähnelt frappierend einem normalen, erfreulichen Anblick von einst – wie eine sehr gute Fotografie. Nein. Auch jetzt kann ich noch nicht glauben, dass sich das alles wirklich zugetragen hat …“.
Dem Hörspiel fehlt das Aufpeitschende, packende, Wirbelnde von Musical und Film. Dafür kommt es der Prosa Christopher Isherwoods sehr nahe, die in behutsamen, keuschen Sätzen ihr Erschrecken über die Menschen verbirgt. Schon den Zeitgenossen war Ende der Zwanzigerjahre aufgefallen, dass ihr Berlin zum Stereotyp erstarrte, zum Einerlei aus Bar und Hinterhof. Diese Produktion setzt dem die Geschichten der Menschen entgegen.
Christopher Isherwood: Leb wohl, Berlin. Aus dem Englischen von Kathrin Passig und Gerhard Henschel. Bearbeitung: Heinz Sommer. Regie: Leonhard Koppelmann. Mit Mathieu Carrière, Christopher Nell, Laura Maire, Barbara Philipp, Matthias Bundschuh u.v.a. Komposition: Jörg Achim Keller. Musik: HR-Bigband. Der Hörverlag, München 2019. 4 CDs, 4 Stunden , 47 Minuten. 24 Euro.
Die Häuser stehen herum
wie „riesige schäbige
Geldschränke“
„Es ähnelt frappierend
einem normalen, erfreulichen
Anblick von einst“
Das „Hessische Literaturforum im Mousonturm“ trägt den Ort, an dem es residiert, im Namen.
Der Mousonturm ist der renovierte Überrest einer Fabrikanlage aus den Zwanzigerjahren. Wie in anderen Großstädten zog die Kultur
in ehemalige Industriearchitektur ein. Seit 2016 ist Björn Jager Programmleiter und Geschäftsführer des Literaturforums.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss, ganz passiv, ich nehme auf, ich denke nicht.“
Ein Hörspiel nach Christopher Isherwoods Roman „Leb wohl, Berlin“
VON JENS BISKY
Jeder kennt Sally Bowles aus dem Film „Cabaret“. Liza Minelli hat die kess egozentrische Schauspielerin, die im Berlin der frühen Dreißigerjahre ihren Weg durchs Leben sucht, so berühmt gemacht, dass sie seitdem die anderen Figuren aus Christopher Isherwoods „Leb wohl, Berlin“ verschattet. Sie wieder ans Licht zu holen und die Geschichten aus der freizügigen, verrückten Stadt am Vorabend ihrer Selbstzerstörung neu zu intonieren, Isherwoods Text jenseits von „Cabaret“ zu seinem Recht zu verhelfen, ist das Ziel eines Hörspiels des Hessischen Rundfunks. Das Ergebnis ist auf beglückende Art ernüchternd.
Der 1939 auf Englisch erschienene Roman umfasst sechs lose miteinander verknüpfte Teile: „Ein Berliner Tagebuch (Herbst 1930)“, „Sally Bowles“, „Auf Rügen (Sommer 1931)“, „Die Nowaks“, „Die Landauers“ und „Ein Berliner Tagebuch (Winter 1932/33). Die beiden mittleren Kapitel hat Heinz Sommer für die Hörspieladaption gestrichen, dafür die Stadt Berlin und ihre überforderten Benutzer ins Zentrum gestellt.
Ein junger Schriftsteller, der sich Christopher Isherwood nennt, kommt an die Spree, um dort einen Roman zu vollenden. Er mietet ein Zimmer in der Pension des Fräulein Schröder, Schöneberg, Nollendorfstraße, und er hat ein literarisch strenges Programm: „Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss“ heißt es in der Übersetzung von Kathrin Passig und Gerhard Henschel, „ganz passiv, ich nehme auf, ich denke nicht. Ich nehme den Mann auf, der sich gegenüber am Fenster rasiert, und die Frau im Kimono, die sich die Haare wäscht. Eines Tages muss das alles entwickelt werden, sorgfältig abgezogen, fixiert.“
Der Regisseur Leonhard Koppelmann hat sich für einen doppelten Anfang entscheiden. Eine Schreibmaschine klappert, der Erzähler verkündet sein Programm in Englisch und Deutsch, Musik erklingt, als gelte es, davonzutanzen aus Raum und Zeit. Dann hört man Silvestertrubel, Musikfetzen, Kinder spielen auf dem Hof, rufen: „Mit dem kleinen Hackebeilchen macht er Schabefleisch aus dir“, ein Frau keift, sie sollten Ruhe geben, eine Zeitungsschlagzeile wird verlesen. Der Erzähler charakterisiert das seltsame Viertel „mit Häusern wie riesige schäbige Geldschränke, vollgestopft mit den vergilbten Wertsachen eines bankrotten Mittelstands und seinen Möbeln aus zweiter Hand“. So entsteht Atmosphäre. Die Welt, in der die jungen Leute ihren Aufbruch wagen, hat einen Bankrott hinter und einen Untergang vor sich. Eine Hauptattraktion im Pensionszimmer ist ein Fleck auf dem Teppich, ein Andenken, das der Vormieter hinterlassen hat. Er musste „nach seiner Geburtstagsfeier brechen“. Und es gibt noch mehr Flecken, über die Fräulein Schroeder in nie enden wollendem Wortschwall zu berichten weiß.
Dass man beim Hören nicht gleich an Mascara, „Willkommen, Bienvenue, Welcome“, Verruchtheit, nächtliche Eskapaden denkt, dass eine Stimmung, eine Lebensgefühl neu entsteht, ist vor allem den Schauspielern zu verdanken. Mathieu Carrière spricht den Erzähler mit Wärme, klingt viel wissend, obwohl er doch nur registrieren will. Dem kontrastiert Christopher Nell als junger Isherwood – naiv, freundlich, bestimmt. Barbara Philipp als Fräulein Schroeder spricht ihn auf sehr verschiedene Weise als „Herrn Issiwu““ an. Daniela Kiefers Fräulein Mayer bringt einen bayerischen Tonfall ins Spiel, man glaubt ihre fleischigen Arme zu hören: „Wenn Du einen Bayern beleidigst, der vergisst dir das nie“.
Und Sally? Sie ist, Verfilmung hin, Klischee her, auch im Roman eine der aufregenden, einprägsamsten Figuren. Laura Maire spielt gekonnt mit dem Schillernden im Charakter der Schauspielerin, die eine Schwäche für Männerbekanntschaften hat, wenn nur die Männer „furchtbar reich“ sind. Sie ist begeisternd und abstoßend, gierig und verrückt nach Glück. Ob Bobby, Fritz, Natalia, Bernhard Landauer oder Herr Landauer – alle Figuren sind so klar profiliert, scharf gezeichnet, als stünden jeder und jede von ihnen für eine eigene, den anderen unzugängliche Welt. Die Großstadt erscheint als Bühne, auf der man sich begegnet, kennenlernt und trotz allen Bemühens unverstanden auf Nimmerwiedersehen wieder trennt.
Die besondere Situation, den historischen Augenblick verdeutlichen Nachrichten, Schlagzeilen, Sequenzen aus Fritz Langs „M- Eine Stadt sucht einen Mörder“ oder aus Georg Wilhelm Pabsts Verfilmung der „Dreigroschenoper“, Originaltöne, Auszüge aus Reden, etwa des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun oder des Joseph Goebbels.
Eine weitere Bedeutungsebene stiftet die Musik von Jörg Achim Kellers, die mal illustriert, mal Assoziationen aufruft, meist aber das Geschehen kommentiert. Auf CD 4, die ganz der Musik vorbehalten ist, kann man die Kompositionen und Titel, gespielt von der HR-Bigband, nachhören. Es beginnt mit der Wochenschau-Fanfare und endet mit einem Drehorgel-Lied.
Als Hitler schon Reichskanzler ist, reist der junge Schriftsteller ein letztes Mal nach Berlin, um seine Sachen abzuholen. Er fährt über Prag, wo im Lokal von der Judenverfolgung und Konzentrationslagern gesprochen wird. Zurück in Berlin, sieht Isherwood Straßenbahnen die Kleiststraße hinauf und hinunter fahren, registriert, dass Fräulein Schroeder viel vom „Führer“ spricht. „All dem eignet etwas seltsam Vertrautes, es ähnelt frappierend einem normalen, erfreulichen Anblick von einst – wie eine sehr gute Fotografie. Nein. Auch jetzt kann ich noch nicht glauben, dass sich das alles wirklich zugetragen hat …“.
Dem Hörspiel fehlt das Aufpeitschende, packende, Wirbelnde von Musical und Film. Dafür kommt es der Prosa Christopher Isherwoods sehr nahe, die in behutsamen, keuschen Sätzen ihr Erschrecken über die Menschen verbirgt. Schon den Zeitgenossen war Ende der Zwanzigerjahre aufgefallen, dass ihr Berlin zum Stereotyp erstarrte, zum Einerlei aus Bar und Hinterhof. Diese Produktion setzt dem die Geschichten der Menschen entgegen.
Christopher Isherwood: Leb wohl, Berlin. Aus dem Englischen von Kathrin Passig und Gerhard Henschel. Bearbeitung: Heinz Sommer. Regie: Leonhard Koppelmann. Mit Mathieu Carrière, Christopher Nell, Laura Maire, Barbara Philipp, Matthias Bundschuh u.v.a. Komposition: Jörg Achim Keller. Musik: HR-Bigband. Der Hörverlag, München 2019. 4 CDs, 4 Stunden , 47 Minuten. 24 Euro.
Die Häuser stehen herum
wie „riesige schäbige
Geldschränke“
„Es ähnelt frappierend
einem normalen, erfreulichen
Anblick von einst“
Das „Hessische Literaturforum im Mousonturm“ trägt den Ort, an dem es residiert, im Namen.
Der Mousonturm ist der renovierte Überrest einer Fabrikanlage aus den Zwanzigerjahren. Wie in anderen Großstädten zog die Kultur
in ehemalige Industriearchitektur ein. Seit 2016 ist Björn Jager Programmleiter und Geschäftsführer des Literaturforums.
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»75 Jahre nach Erscheinen der englischen Originalausgabe liest sich der Roman auch als Studie einer politischen Verfinsterung.« Anton Thuswaldner Die Furche 20141016