In Leben der kleinen Toten erzählt Pierre Michon von Menschen, die ohne ihn wohl kaum einen Biographen gefunden hätten und die mit dem Ende ihres Daseins sang- und klanglos verschwunden wären. Da ist jener an Kehlkopfkrebs erkrankte Bauer, der sich weigert, in ein Pariser Krankenhaus eingeliefert zu werden, wo er behandelt und geheilt werden könnte. Von allen Seiten bedrängt, offenbart er schließlich den Grund seiner Weigerung: "Ich bin Analphabet." Da ist jener Vorfahre des Erzählers, Antoine Peluchet, von dem in der Sammlung der Familienschätze eine ausdruckslose kleine Madonnenfigur mit Jesuskind zeugt. Als junger Mann wurde er vom Vater im Zorn des Hauses verwiesen und ist seitdem verschwunden; die unglücklichen Eltern leben von Gerüchten: Der Sohn sei in Amerika, heißt es, dann wieder will man erfahren haben, daß er als Zuchthäusler auf die Île de Re verbannt wurde. Die Mutter bittet jahrelang die kleine Porzellanmadonna um seine Rückkehr, aber Antoine Peluchet bleibt verschollen.
Auf wunderbare Weise gelingt es Pierre Michon, Menschen aus kleinen, meist bäuerlichen Verhältnissen zu porträtieren, ohne ihrem Elend auch nur eine Spur von malerischer Idylle anhaften zu lassen. Die Tragik der Schicksale, die so besonders bewegen, rührt daher, daß inmitten dieses Elends plötzlich die Ahnung von einer anderen Welt auftaucht, der Traum vom Reichtum oder vom Wissen - und aus dieser Zerrissenheit zwischen dem Erahnten und dem Gelebten entsteht eine Sehnsucht, die den Menschen, so geringfügig ihre Existenz auch sein mag, Größe verleiht.
Auf wunderbare Weise gelingt es Pierre Michon, Menschen aus kleinen, meist bäuerlichen Verhältnissen zu porträtieren, ohne ihrem Elend auch nur eine Spur von malerischer Idylle anhaften zu lassen. Die Tragik der Schicksale, die so besonders bewegen, rührt daher, daß inmitten dieses Elends plötzlich die Ahnung von einer anderen Welt auftaucht, der Traum vom Reichtum oder vom Wissen - und aus dieser Zerrissenheit zwischen dem Erahnten und dem Gelebten entsteht eine Sehnsucht, die den Menschen, so geringfügig ihre Existenz auch sein mag, Größe verleiht.
Präzisionsarbeit der Sprache: In grandiosen Erinnerungsbildern erschafft Pierre Michon eine Welt der kleinen Erfahrungen
Was wäre Hanno Buddenbrook ohne das schrille Läuten der Schulglocke am nebligen Morgen, was Julien Sorel aus Flauberts "L'Éducation sentimentale" auf dem Seine-Schiff ohne das im Morgennebel versinkende Paris? In dem hier vorliegenden Buch gehen zwei Männer mit Nebelperlen im Schnurrbart frühmorgens durch den Wald, schieben ein paar störrische Schweine vor sich her, machen Witze, sind beinahe glücklich und werden bald in Mourioux auf dem Markt stehen. Im Unterschied zu den Jünglingen bei Thomas Mann und Flaubert wird sich der Nebel für diese Männer nie wirklich auflösen - auch wenn die Sonne manchmal in ihr Leben hineinscheint. Eher noch wird er sich melancholisch verdichten.
Einer der beiden Männer wird auf dem Markt von Mourioux erfahren, daß sein Sohn Antoine, der infolge eines phänomenalen Zornausbruchs des Vaters das Haus verließ und sich seit Jahren nicht mehr gemeldet hat, in Wirklichkeit nicht nach Amerika ausgewandert ist, sondern in Ketten bei der Einschiffung auf die Ile de Ré ins Strafarbeitslager gesehen wurde. Dem Vater zerreißt es das Herz, aber er wird wortlos und um so verdrossener bis ans Ende seiner Tage weiter die Wiese abmähen, jenes geliebte Stück Land, das schon seine Vorfahren durch tägliche Mühe ein Leben lang aufrecht hielt und das im Grunde mehr gehaßt als geliebt wurde.
Die acht kleinen Lebensläufe - "Vies minuscules", sagt der französische Originaltitel - sind Miniaturen nicht vom Genre her, sondern in ihrer ganzen Substanz: grandiose literarische Lebensbilder von Existenzen, die nicht fürs Erinnertwerden gemacht waren und mit dem Ableben eigentlich sang- und klanglos hätten verschwinden müssen, wäre da nicht ein Erzähler dazwischengekommen. Dieser Erzähler, der Antoine Peluchet und die übrigen Verschollenen gekannt hat, zumindest vom Hörensagen, ist eine Mischung aus Schreibhemmung, Müßiggang, Alkoholrausch, Sensibilität, Phantasie und endlosem Hypothesenaufstellen - eine Persönlichkeit hart an der Grenze zur Eigenbiographie von Pierre Michon selbst.
"Vielleicht", "möglicherweise", "wahrscheinlich", "nehmen wir an", "man hat es nie erfahren" - das sind die narrativen Grundimpulse dieser Porträts: nicht als kombinatorisch vergnügliches Spiel der Hypothesen darüber, was aus den Verschollenen geworden sein könnte, sondern als Brennspiegel ihrer Lebensläufe aus der endgültigen Abwesenheit, die nur noch über einen Namen oder einen beiläufigen Gegenstand in die Gegenwart hineinglühen. Gegenstände wie etwa die unscheinbare Porzellanmadonna, die von Antoine Peluchets Mutter jahrelang um die Rückkehr des Sohnes angefleht wird, oder die unangerührte Tüte Kaffee von dem nach Afrika ausgewanderten Stallknecht, auf den die Großmutter beim Aufräumen des Schranks manchmal stößt - "Sieh an, der Kaffee von Dufourneau, er ist bestimmt noch gut" - und der nie gekostet wird.
Diese Lebensgeschichten aus dem französischen Landleben sind so scharf in Michons kompakte Sprache der Partizipialattribute und abrupten Satzenden geschliffen, daß fürs Pittoreske oder Sentimentale kein Platz bleibt. Das Bescheidene, Praktische, Erdnahe dieser Figuren wird nicht poetisch überhöht, sondern so tief ins Detail der Beschreibung getrieben, bis jeder Satz steht wie ein Grabstein im Feld. Vom strahlenden Kindergesicht über den an der Schürze glänzend geriebenen Apfel bis zum blitzenden Buschmesser, das der Existenz Antoine Peluchets irgendwo in Afrika ein Ende setzt, reicht es gerade für die paar notwendigen Gesten, um "aus diesem Überleben ein Leben zu machen". Oder in den Worten der sanften, nach Höherem strebenden Claudette gesagt, die den schreibgehemmten Erzähler-Schriftsteller einst bei sich in der Normandie aufnahm und später dann, enttäuscht, irgendeinen Hochschuldozenten heiratet, um dessen endlose Welterklärungen anzuhören: "Auch das ergibt ein Leben, in Ermangelung eines anderen Lebens."
Für den Hauch des Tragischen sind diese Geschichten zu klein. Das vereinsamte Großelternpaar Eugène und Clara, auf deren Möbeln Tote in Bildrahmen Tote betrauern, oder der alte Bauer mit dem Kehlkopfkrebs, der, anstatt zur Behandlung nach Paris zu gehen, unbelehrbar bis zuletzt auf die Linden vor dem Fenster des Landkrankenhauses starrt, weil er, so seine Erklärung, "doch Analphabet ist" und im Einklang mit seinem Unwissen sterben möchte; schließlich der versoffene Dorfpfarrer, der einst mit Motorrad, cigarettes blondes, Mätressen und Sonntagspredigten die Bauern wirr machte - all diese Figuren sind nicht einfach in die schick gewordene Kategorie der neuen Bescheidenheit einzureihen. Erstens, weil Pierre Michons Buch im französischen Original schon vor zwanzig Jahren erschienen ist, als das Provinzielle und Einfache alles andere als Mode war. Und zweitens, weil diese Erzählwelt der kleinen Erfahrungen zwischen Feldweg, Kirchhof und in der Hosentasche betasteter Roßkastanie hoch artistisch daherkommt. Die zahlreichen literarischen Anspielungen sind nie aufgesetzt. Denn im Fluchtpunkt dieser Geschichten steht immer der Vorgang des Schreibens, mit dem der Erzähler sich abmüht - nicht die theoriegurgelnde "écriture" des Strukturalismus, in dessen Bann Pierre Michon und seine Ich-Figur in den siebziger Jahren groß wurde, sondern die schwierige Präzisionsarbeit an der Sprache, die den kleinen Toten aus ihrer flüchtigen Ewigkeit hilft. Es ist der Überlebenskampf der durch die acht Geschichten sich bewegenden neunten Figur, des Erzählers, der bald amphetamingesättigt im weltlosen Glück der schon nicht mehr aufgeschriebenen Worte schwelgt, bald frühmorgens auf der Flucht in die Inspiration neben dem Velosolex am Straßenrand die in den Schlamm gefallenen Bücher verflucht.
Die offensichtliche Erkenntnis, daß die schöne Sprache den kleinen Menschen nicht Größe, sondern Sehnsucht nach Größe verleiht, kommt in diesem Erstlingswerk Pierre Michons ohne jede Sozialpatina aus. Der heute knapp sechzigjährige Autor gehört mit seinen aufs Essentielle verkürzten Romanen zum Besten, was die französischen Gegenwartsliteratur zu bieten hat: vorbei an exportfreundlichen Modewirbeln, setzt sein Werk die große emblematische Erzählkunst Flauberts oder Marguerite Yourcenars fort.
Nach ersten Anläufen beim Manholt-Verlag gibt diese Neuübersetzung deutschen Lesern nun die Gelegenheit, eine längst überfällige Bekanntschaft mit diesem großen Autor zu machen, zumal die enormen Schwierigkeiten von Michons dichter Sprache von Anne Weber im Ganzen treffend gemeistert sind. Nur einen letzten Arbeitsdurchgang hätte die Übersetzung verdient, um unglückliche Bildverhedderungen zu vermeiden. Was soll ein "Säulenheiliger im Schlaraffenland"? Kann ein Schlachthaus wirklich "in der Luft" liegen? Vielleicht, wenn das körperliche Ringen um die störrischen Worte den Schreibtisch zu einer Art Schlachttisch, gar Opfertisch macht, auf dem kleine Tote großartig von ihrem Totsein befreit werden.
Pierre Michon: "Leben der kleinen Toten". Aus dem Französischen übersetzt von Anne Weber. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 244 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Thomas Laux stellt uns Pierre Michon als einen Autor vor, der in Frankreich lange Zeit ein "Geheimtipp" war und dessen im Original bereits 1984 erschienenes Buch "Kultstatus" erlangt hatte. Michon entfaltet acht Porträts einfacher Leute vom Land, die - und darin liegt für Laux der "unvergleichliche Reiz" des Buches - in "pointierten stilistischen Reflexionen" eingefangen werden. Nicht das "idyllische" Landleben, sondern Langeweile, Stillstand und Niederlagen werden in diesen Geschichten von Michon beschrieben, der auch "autobiografisch relevante Bemerkungen" einstreut, wie der Rezensent bemerkt. Ohne jede Sentimentalität oder nostalgische Verklärung wird das "kärgliche Leben" der Menschen geschildert, denen der französische Autor mit seinem typischen "Michon-Sound" etwas "Dokumentarisches, Mythisches, leicht Fatalistisches" gibt, schreibt Laux. Seine Begeisterung für dieses Buch wird durch eine "makellose" Übersetzung ins Deutsche von Anne Weber noch verstärkt. Laux lobt nachdrücklich ihr "verblüffendes Gespür" für die Rhythmik und die "Satzmelodie" des französischen Originals, die sie gelungen in die deutsche Fassung übertragen hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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