Persönlich, anschaulich, fesselnd: ein Leben wie ein Roman! Es ist ein einzigartiges Leben, und es ist die Geschichte einer ganzen Generation: eine Kindheit im Krieg, eine grausame Flucht, ein mühsamer Neuanfang, eine unvollständige Ausbildung, eine rasante Karriere - und eine große, lebenslange Liebe.
In seinen Erinnerungen macht uns Peter Härtling zu Zeugen einer Anverwandlung: Wir treffen ihn an seinem Schreibtisch und folgen ihm in die Vergangenheit, die in plastischen Bildern auftaucht, aber erst wieder zu Eigen gemacht werden muss. Der alte Mann steht dem Heranwachsenden oft staunend gegenüber, erlebt sich erneut in Rollen, die er längst abgelegt hat, und zeichnet nach, wie aus dem Flüchtlingskind und Frühwaisen ein junger Journalist, ein erfolgreicher Lektor und Verlagsleiter und schließlich ein viel gelesener und vielfach ausgezeichneter Schriftsteller wurde. Dabei stehen die Zeitumstände dem Leser unmittelbar vor Augen und werden in ihren Auswirkungen auf ein Einzelschicksal erfahrbar.
Ungemein fesselnd erzählt Härtling seinen Weg hinein in das Zentrum des kulturellen und literarischen Lebens in der jungen Bundesrepublik und von vielen Persönlichkeiten, die ihm ihren Stempel aufdrückten. Immer hat man den Eindruck, dass Peter Härtling, der selbst schnell Einfluss gewann, die neuen Aufgaben eher zufielen oder angetragen wurden, als dass er sich um sie bemühte. Seine Frau Mechthild, die ihn seit mehr als fünfzig Jahren durch das Leben begleitet, unterstützte ihn auch in dem einen großen Entschluss: sich ganz dem Schreiben zu verschreiben. Wie Recht er damit hatte, beweist gerade auch dieses ergreifende Buch, das viele Motive aus seinem literarischen Werk ins Leben zurückholt und zugleich zeigt, wie das Leben in die Literatur führt und Literatur aus dem Leben entspringt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
In seinen Erinnerungen macht uns Peter Härtling zu Zeugen einer Anverwandlung: Wir treffen ihn an seinem Schreibtisch und folgen ihm in die Vergangenheit, die in plastischen Bildern auftaucht, aber erst wieder zu Eigen gemacht werden muss. Der alte Mann steht dem Heranwachsenden oft staunend gegenüber, erlebt sich erneut in Rollen, die er längst abgelegt hat, und zeichnet nach, wie aus dem Flüchtlingskind und Frühwaisen ein junger Journalist, ein erfolgreicher Lektor und Verlagsleiter und schließlich ein viel gelesener und vielfach ausgezeichneter Schriftsteller wurde. Dabei stehen die Zeitumstände dem Leser unmittelbar vor Augen und werden in ihren Auswirkungen auf ein Einzelschicksal erfahrbar.
Ungemein fesselnd erzählt Härtling seinen Weg hinein in das Zentrum des kulturellen und literarischen Lebens in der jungen Bundesrepublik und von vielen Persönlichkeiten, die ihm ihren Stempel aufdrückten. Immer hat man den Eindruck, dass Peter Härtling, der selbst schnell Einfluss gewann, die neuen Aufgaben eher zufielen oder angetragen wurden, als dass er sich um sie bemühte. Seine Frau Mechthild, die ihn seit mehr als fünfzig Jahren durch das Leben begleitet, unterstützte ihn auch in dem einen großen Entschluss: sich ganz dem Schreiben zu verschreiben. Wie Recht er damit hatte, beweist gerade auch dieses ergreifende Buch, das viele Motive aus seinem literarischen Werk ins Leben zurückholt und zugleich zeigt, wie das Leben in die Literatur führt und Literatur aus dem Leben entspringt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Klaus Harpprecht füttert seinen Text über Peter Härtlings Lebenserzählung mit eigenen Erinnerungen. Kein Wunder, mussten sie doch als Jugendliche demselben schwäbischen Kaff entfliehen und kreuzten sich ihre Lebenswege manches Mal - früher recht oft, später weniger häufig, wie Harpprecht resümiert. Dementsprechend emotional ist sein Text eingefärbt, den er nicht Kritik, sondern "Betrachtung" nennen mag, auch wenn er Härtlings Erinnerungen nicht unwidersprochen lässt. Zunächst einmal nimmt er ihn jedoch vor der Kritik in Schutz, eine sentimental-idyllische Rückschau verfasst zu haben: "Leben lernen" sei eine Erzählung voller "bitterer Farbe" und "verhaltener Energie". Doch warum, hat sich Harpprecht bei der Lektüre von Härtlings Erinnerungen an die journalistische Zeit beim "Monat" gefragt, warum wirft er den darin Schreibenden - Lasky, Allemann, Löwenthal, Arendt und vielen mehr - Dogmatismus vor? Und warum stemme er sich so sehr gegen die Erkenntnis der ideologischen "Deformationen", die Harpprecht zufolge seinerzeit viele Linke ereilte? So ist denn der zweite Teil von Härtlings Memoiren aus seiner Sicht von einer "merkwürdigen Unbestimmtheit" gekennzeichnet. Schreibt's und wünscht dem "Gefährten" alles Gute zum 70.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Ausgesprochen gern hat Rezensent Friedmar Apel Peter Härtlings biografische Selbsterkundung gelesen. Ihre Wahrhaftigkeit beziehen diese Erinnerungen für ihn aus der Tatsache, dass er ihren Autor im Verlauf der Lektüre dabei beobachten kann, wie sich "im Prozess des erinnernden Schreibens" die "Gedankengewohnheit eines mit sich selbst identischen Ich" auflöst. Hier erkennt der Rezensent die politische und moralische Dimension, mit der der 1930 geborene Härtling sein Leben befragt: von der nationalsozialistischen Jugendpolitik über erste Erfahrungen mit dem Literaturbetrieb bis zum Aufstieg in das Innere dieses Betriebs: als mächtiger Lektor und erfolgreicher Autor. Es seien, stellt Apel fest, die Zeiten der Übergänge, an die sich Härtling am lebhaftesten erinnere. Dass Härtling fast alle, die er kennt, in seinen Erinnerungen auch erwähnt, macht die Lektüre für den Rezensenten gelegentlich etwas mühsam. Doch immer wieder beglückt sie ihn auch. Zum Beispiel wenn die berühmten Namen in den Anekdoten der Berliner Geselligkeit zu Personen werden: Wie die trunkene Ingeborg Bachmann, welcher der selbst angetrunkene Härtling zusammen mit Peter Szondi mit den Armen einst ein "Sitzchen" formte, um sie darauf zu ihrem Nachtquartier zu tragen. Ach, wie gern wäre der Apel dabei gewesen.
© Perlentaucher Medien GmbH"
© Perlentaucher Medien GmbH"
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2003Ein Sitzchen im Leben
Peter Härtling läßt sich fortreißen / Von Friedmar Apel
Ein Landgericht hat kürzlich versucht, den Rechtsfrieden durch die Behauptung zu stärken, Autobiographien seien Sachbücher, weil sie für sich in Anspruch nähmen, tatsächlich Geschehenes wiederzugeben (F.A.Z. vom 20. August). Die Literatur aber weiß, seit sie sich als Individuation versteht, spätestens seit Goethe, daß das ein "kaum Erreichbares" voraussetzt: "daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet".
Peter Härtling, Jahrgang 1933, gehört einer Generation an, die wie keine andere des 20. Jahrhunderts in Kindheit und Jugend fortgerissen wurde, gleichviel ob willig oder unwillig. Da nimmt es nicht wunder, daß Härtling der Idee einer Kontinuität des Ich zutiefst skeptisch gegenübersteht: "Es liegen fünfzig Jahre zwischen uns, ein halbes Jahrhundert, und der, mit dem ich mich fragend auseinandersetze, weiß nichts von mir, während ich viel von ihm vergessen, verdrängt habe. Manchmal muß ich ihn erfinden, wenn ich nichts finde, manchmal erzähle ich ihn um." Nicht einmal die Wahrheit des subjektiven Erlebens ist gesichert, geschweige denn die Tatsächlichkeit eines Ich. Im autobiographischen Schreiben entsteht vielmehr ein neues Erleben, in dem allenfalls das Leid eine Kontinuität hat: "Alte, vergessene Wunden beginnen wieder zu schmerzen."
Die Wahrhaftigkeit der Selbsterkundung ist für Härtling gerade darin gegeben, daß sich die Gedankengewohnheit eines mit sich selbst identischen Ich im Prozeß des erinnernden Schreibens auflöst: "Ich sage ich, und das Ich entfaltet ein Echo, aus dem ein Ich nach dem anderen springt und wieder verstummt, verschwindet. Alle meine Ichs. Mit ihnen erkunde ich meine Unrast, meine Verwandlungen, meine Verluste und Bereicherungen." Für Härtling ist das nicht lediglich eine Frage des Erinnerungsvermögens und der Erzähltechnik, sondern hat eine politische und moralische Dimension. Kaum je mußte eine Generation die früh gebildeten Ideale so schnell wieder in Frage stellen. So fragt sich Härtling, ob er es denn gewesen sein kann, der seine Freiheit darin sah, für den Führer zu sterben. Die idealistische Seite der nationalsozialistischen Jugendpolitik stellt er einläßlich und redlich dar, zu den "Überlebenslügnern" will er bei aller Einsicht in die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses nicht gehören. Das grenzt freilich im Rückblick auf die Wahrnehmung des Flüchtlingskindes von 1946 sachte an mnemotechnisches Pharisäertum: "Schon erzählte jeder seine Geschichte um, mehrten sich die Widerstandskämpfer gegen Hitler, schon baute jeder auf die vorsätzliche Vergeßlichkeit des anderen."
Aber Härtling macht ebenso deutlich, daß er die aufrechte Haltung und das Neinsagen nicht allein sich selbst und der eigenen Erfahrung der Nazizeit verdankt, sondern daß er sie an der Literatur, zunächst vor allem aus dem Pathos eines Wolfgang Borchert, erlernt und eingeübt hat. Fortan umgibt ihn selbst die Aura des Literaten und läßt ihn ruhig ertragen, was für seine bildungsbürgerlich denkende Familie "ein soziales Debakel" ist: der Abgang vom Gymnasium und die Tätigkeit als Bürobote in einer Korkenfabrik. Gerade so aber wird Härtling in der beengten schwäbischen Provinz die Literatur zur Sphäre unbegrenzter sinnlicher Erfahrung. "Ich atmete Meer ein, ließ mich von Albatrossen tragen, grub mich ins Fleisch von schwarzen Huren, las Rimbaud, Baudelaire . . ." Die Öffnung zur Welt vollzieht sich dann für den jungen Volontär der "Nürtinger Zeitung" durch Werk und Person Helmut Heißenbüttels, zugleich findet er im "Yamin" seiner frühen Gedichte ein Ich, mit dem man sich davonstehlen kann. Die Bücher der literarischen Heroengeschichte der Bundesrepublik, sie werden bei Härtling aufgestellt wie Gedenktafeln, auf denen auch das Leiden verzeichnet ist. Aus einem Brief Celans überliefert er: "Unsere Begegnung damals - wann? - in Stuttgart: unser Schmerz hat gelacht, wir haben uns verstanden."
Es sind die Zeiten der Anfänge, der Aussichten und der Übergänge, an die sich Härtling am lebhaftesten erinnert. Mit Hans Bender und Heinrich Vormweg will er bei der "Deutschen Zeitung" "das beste Feuilleton machen, ein Forum für Kenner und Leidenschaftliche". Beim "Monat" im frisch eingeschlossenen West-Berlin genießt er noch einmal die Euphorie des Anfangens, der erneuten Öffnung der Welt in den "Erinnerungen der Weitgereisten", die sich in den Sechzigern in Berlin einfinden.
Er sieht sich als einen rezeptiven Geist, aber auch als Betriebsnudel. Wo etwas losgeht, ist Härtling dabei. Er kennt sie alle, und fast alle werden erwähnt, was die Lektüre streckenweise mühselig macht, denn manche stehen da nur in der Reihe auf dem Papier herum. Zu Personen werden die berühmten Namen am besten in den Anekdoten der Berliner Geselligkeit. Wenn Härtling berichtet, wie er und Peter Szondi mit ihren Armen ein "Sitzchen" formten und, selbst vom Weine beseligt, die trunkene Ingeborg Bachmann zu ihrem Nachtquartier trugen, wäre man gern dabeigewesen. Sich einhaken ist überhaupt ein bei Härtling wiederkehrender Ausdruck des Verbindens. Dabei hat er über niemanden wirklich Böses oder Hämisches zu berichten. Fast scheint es, als hätte er die Maxime des Büroboten beibehalten: "in freundlichem Gleichmaß die Verbindung zwischen Vorgesetzten - und alle sind Vorgesetzte - aufrechtzuerhalten".
Die leitende Tätigkeit beim S. Fischer Verlag nimmt in dem Buch merkwürdig geringen Raum ein, obwohl sich Härtling gerade da eine aktivere Rolle im Kulturbetrieb zuschreibt. Sein Ich der Zeit von 1967 bis 1973 erscheint ihm "so entfernt wie nie vorher oder nachher. Es steckt so fest in seiner Rolle, die ich schon nicht mehr spielen mochte. Der Mann von fast vierzig. Ein Macher. Auch ein Mächtiger, obwohl ihm Macht nicht geheuer ist." Mechthild, seine lebenslange Liebe, die in den Aufzeichnungen auf rührendste Weise präsent ist, sagt da einmal mehr: "Versuch's." Härtling kündigt und probiert wieder Anfänge, die aber, so suggeriert zumindest das Verhältnis von Fern- und Naherinnerung, schon den Übergang zum Alter markieren. Auch in den letzten Seiten aber, in denen die Gegenwart des alten Mannes mit seinen Zipperlein und Mühseligkeiten in den Vordergrund rückt, hebt Härtling noch die Momente von Anarchie und Aufbruch hervor, wenngleich die gelegentlich nur noch als Schülertheater stattfinden. Aber auch das sind für Härtling leidenschaftliche Momente des "Noch einmal", Momente eines Lebens aus und mit der Literatur und der Liebe.
Peter Härtling: "Leben lernen". Erinnerungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. 378 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Härtling läßt sich fortreißen / Von Friedmar Apel
Ein Landgericht hat kürzlich versucht, den Rechtsfrieden durch die Behauptung zu stärken, Autobiographien seien Sachbücher, weil sie für sich in Anspruch nähmen, tatsächlich Geschehenes wiederzugeben (F.A.Z. vom 20. August). Die Literatur aber weiß, seit sie sich als Individuation versteht, spätestens seit Goethe, daß das ein "kaum Erreichbares" voraussetzt: "daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet".
Peter Härtling, Jahrgang 1933, gehört einer Generation an, die wie keine andere des 20. Jahrhunderts in Kindheit und Jugend fortgerissen wurde, gleichviel ob willig oder unwillig. Da nimmt es nicht wunder, daß Härtling der Idee einer Kontinuität des Ich zutiefst skeptisch gegenübersteht: "Es liegen fünfzig Jahre zwischen uns, ein halbes Jahrhundert, und der, mit dem ich mich fragend auseinandersetze, weiß nichts von mir, während ich viel von ihm vergessen, verdrängt habe. Manchmal muß ich ihn erfinden, wenn ich nichts finde, manchmal erzähle ich ihn um." Nicht einmal die Wahrheit des subjektiven Erlebens ist gesichert, geschweige denn die Tatsächlichkeit eines Ich. Im autobiographischen Schreiben entsteht vielmehr ein neues Erleben, in dem allenfalls das Leid eine Kontinuität hat: "Alte, vergessene Wunden beginnen wieder zu schmerzen."
Die Wahrhaftigkeit der Selbsterkundung ist für Härtling gerade darin gegeben, daß sich die Gedankengewohnheit eines mit sich selbst identischen Ich im Prozeß des erinnernden Schreibens auflöst: "Ich sage ich, und das Ich entfaltet ein Echo, aus dem ein Ich nach dem anderen springt und wieder verstummt, verschwindet. Alle meine Ichs. Mit ihnen erkunde ich meine Unrast, meine Verwandlungen, meine Verluste und Bereicherungen." Für Härtling ist das nicht lediglich eine Frage des Erinnerungsvermögens und der Erzähltechnik, sondern hat eine politische und moralische Dimension. Kaum je mußte eine Generation die früh gebildeten Ideale so schnell wieder in Frage stellen. So fragt sich Härtling, ob er es denn gewesen sein kann, der seine Freiheit darin sah, für den Führer zu sterben. Die idealistische Seite der nationalsozialistischen Jugendpolitik stellt er einläßlich und redlich dar, zu den "Überlebenslügnern" will er bei aller Einsicht in die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses nicht gehören. Das grenzt freilich im Rückblick auf die Wahrnehmung des Flüchtlingskindes von 1946 sachte an mnemotechnisches Pharisäertum: "Schon erzählte jeder seine Geschichte um, mehrten sich die Widerstandskämpfer gegen Hitler, schon baute jeder auf die vorsätzliche Vergeßlichkeit des anderen."
Aber Härtling macht ebenso deutlich, daß er die aufrechte Haltung und das Neinsagen nicht allein sich selbst und der eigenen Erfahrung der Nazizeit verdankt, sondern daß er sie an der Literatur, zunächst vor allem aus dem Pathos eines Wolfgang Borchert, erlernt und eingeübt hat. Fortan umgibt ihn selbst die Aura des Literaten und läßt ihn ruhig ertragen, was für seine bildungsbürgerlich denkende Familie "ein soziales Debakel" ist: der Abgang vom Gymnasium und die Tätigkeit als Bürobote in einer Korkenfabrik. Gerade so aber wird Härtling in der beengten schwäbischen Provinz die Literatur zur Sphäre unbegrenzter sinnlicher Erfahrung. "Ich atmete Meer ein, ließ mich von Albatrossen tragen, grub mich ins Fleisch von schwarzen Huren, las Rimbaud, Baudelaire . . ." Die Öffnung zur Welt vollzieht sich dann für den jungen Volontär der "Nürtinger Zeitung" durch Werk und Person Helmut Heißenbüttels, zugleich findet er im "Yamin" seiner frühen Gedichte ein Ich, mit dem man sich davonstehlen kann. Die Bücher der literarischen Heroengeschichte der Bundesrepublik, sie werden bei Härtling aufgestellt wie Gedenktafeln, auf denen auch das Leiden verzeichnet ist. Aus einem Brief Celans überliefert er: "Unsere Begegnung damals - wann? - in Stuttgart: unser Schmerz hat gelacht, wir haben uns verstanden."
Es sind die Zeiten der Anfänge, der Aussichten und der Übergänge, an die sich Härtling am lebhaftesten erinnert. Mit Hans Bender und Heinrich Vormweg will er bei der "Deutschen Zeitung" "das beste Feuilleton machen, ein Forum für Kenner und Leidenschaftliche". Beim "Monat" im frisch eingeschlossenen West-Berlin genießt er noch einmal die Euphorie des Anfangens, der erneuten Öffnung der Welt in den "Erinnerungen der Weitgereisten", die sich in den Sechzigern in Berlin einfinden.
Er sieht sich als einen rezeptiven Geist, aber auch als Betriebsnudel. Wo etwas losgeht, ist Härtling dabei. Er kennt sie alle, und fast alle werden erwähnt, was die Lektüre streckenweise mühselig macht, denn manche stehen da nur in der Reihe auf dem Papier herum. Zu Personen werden die berühmten Namen am besten in den Anekdoten der Berliner Geselligkeit. Wenn Härtling berichtet, wie er und Peter Szondi mit ihren Armen ein "Sitzchen" formten und, selbst vom Weine beseligt, die trunkene Ingeborg Bachmann zu ihrem Nachtquartier trugen, wäre man gern dabeigewesen. Sich einhaken ist überhaupt ein bei Härtling wiederkehrender Ausdruck des Verbindens. Dabei hat er über niemanden wirklich Böses oder Hämisches zu berichten. Fast scheint es, als hätte er die Maxime des Büroboten beibehalten: "in freundlichem Gleichmaß die Verbindung zwischen Vorgesetzten - und alle sind Vorgesetzte - aufrechtzuerhalten".
Die leitende Tätigkeit beim S. Fischer Verlag nimmt in dem Buch merkwürdig geringen Raum ein, obwohl sich Härtling gerade da eine aktivere Rolle im Kulturbetrieb zuschreibt. Sein Ich der Zeit von 1967 bis 1973 erscheint ihm "so entfernt wie nie vorher oder nachher. Es steckt so fest in seiner Rolle, die ich schon nicht mehr spielen mochte. Der Mann von fast vierzig. Ein Macher. Auch ein Mächtiger, obwohl ihm Macht nicht geheuer ist." Mechthild, seine lebenslange Liebe, die in den Aufzeichnungen auf rührendste Weise präsent ist, sagt da einmal mehr: "Versuch's." Härtling kündigt und probiert wieder Anfänge, die aber, so suggeriert zumindest das Verhältnis von Fern- und Naherinnerung, schon den Übergang zum Alter markieren. Auch in den letzten Seiten aber, in denen die Gegenwart des alten Mannes mit seinen Zipperlein und Mühseligkeiten in den Vordergrund rückt, hebt Härtling noch die Momente von Anarchie und Aufbruch hervor, wenngleich die gelegentlich nur noch als Schülertheater stattfinden. Aber auch das sind für Härtling leidenschaftliche Momente des "Noch einmal", Momente eines Lebens aus und mit der Literatur und der Liebe.
Peter Härtling: "Leben lernen". Erinnerungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. 378 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Sehr privat und politisch zugleich ... Ein immenser Erinnerungsschatz, an dem sich auch Jüngere bereichern können.« Grit Schor Aachener Nachrichten