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Ein Tuareg in Timia besitzt ca. 130 Gegenstände, ein Student in Bayreuth 3100. Für die meisten Menschen im "reichen" Norden steht außer Zweifel, dass die Tuareg arme Leute sind, bereit für die Migration ins reiche Europa. Gerd Spittler untersucht dagegen detailliert, welche Gegenstände ("Requisiten") die Tuareg besitzen, wie sie damit umgehen und wie sie sie bewerten. Armut und Reichtum stellten sich hier anders dar als aus der Sicht der Europäer. Die meisten Dinge sind lange in Gebrauch. Sie werden nicht entsorgt, wenn sie nicht mehr neu sind, sondern bleiben auch abgenutzt in Verwendung,…mehr

Produktbeschreibung
Ein Tuareg in Timia besitzt ca. 130 Gegenstände, ein Student in Bayreuth 3100. Für die meisten Menschen im "reichen" Norden steht außer Zweifel, dass die Tuareg arme Leute sind, bereit für die Migration ins reiche Europa. Gerd Spittler untersucht dagegen detailliert, welche Gegenstände ("Requisiten") die Tuareg besitzen, wie sie damit umgehen und wie sie sie bewerten. Armut und Reichtum stellten sich hier anders dar als aus der Sicht der Europäer. Die meisten Dinge sind lange in Gebrauch. Sie werden nicht entsorgt, wenn sie nicht mehr neu sind, sondern bleiben auch abgenutzt in Verwendung, werden geflickt und oft in anderen Funktionen benutzt. Die Darstellung wird vertieft durch 300 Fotos des Autors. Grundlage für diese Untersuchung ist eine Feldforschung bei den Kel Ewey Tuareg der Oase Timia über einen Zeitraum von 30 Jahren.
Autorenporträt
Geboren 1939; 1959-66 Studium der Soziologie, Ethnologie, Geschichte und Volkswirtschaft; 1966 Promotion; 1975 Habilitation; 1980-88 Professor für Soziologie an der Universität Freiburg; 1988-2004 Professor für Ethnologie an der Universität Bayreuth; Gastprofessuren in Bloomington, Basel, Niamey (Niger) und Sousse (Tunesien); 2004 Pensionierung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2023

Altern müssen die Dinge

Ein Tuareg in Timia in Niger besitzt ungefähr 130 Gegenstände, ein Studierender in Bayreuth hingegen 3100. Es scheint daher auf der Hand zu liegen, dass die Tuareg arm sind und nur allzu gerne ins reiche Europa auswandern wollen. Aber solche Zuschreibungen von Armut und Reichtum sollte man nicht allzu schnell vornehmen, wie Gerd Spittler in seiner Studie über die Kel Ewey in der westafrikanischen Sahelregion zeigt ("Leben mit wenigen Dingen - Der Umgang der Kel Ewey Tuareg mit ihren Requisiten", Mohr Siebeck Verlag. Tübingen 2023). Für die Tuareg, so der emeritierte Ethnologe der Universität Bayreuth, besteht Reichtum primär nicht im Anhäufen von Konsumgütern, sondern von Viehbesitz. Der Besitz vieler Konsumgüter gelte hingegen als Überfluss oder Üppigkeit.

Spittler geht es keineswegs darum, reale Armut zu romantisieren oder den Umgang der Kel Ewey mit ihren wenigen Requisiten als Vorbild für Kritiker der westlichen Konsumgesellschaft zu preisen. Auch ist es ihm nicht darum zu tun, eine Alterität der Tuareg zu konstruieren. Vielmehr sucht er mit den Mitteln der ethnologischen Feldforschung und des genauen Hinsehens differenziert darzulegen, wie alltägliche Gegenstände, etwa Mörser, Teekannen oder Matten, einen wichtigen Teil ihrer Lebenswelt konstituieren. Bei allen Unterschieden haben diese Dinge gemeinsam, "dass sie sich in der Nähe der Menschen befinden, sie besitzen sie. Sie sind in Sichtweite, sie können bzw. müssen angefasst und benutzt werden."

Dass diese Gegenstände auf westliche Beobachter ärmlich wirken, hänge nicht zuletzt damit zusammen, dass sie fast alle alt und abgenutzt aussehen. Die Tuareg empfänden dies jedoch nicht als Mangel. Die Tatsache, dass diese Utensilien täglich gebraucht werden, weise zunächst darauf hin, dass sie nützlich sind. Eine Hirtin etwa "kennt sich mit ihnen aus, sie kann mit ihnen praktisch umgehen und kennt ihre Tücken". Reparatur und Recycling kommen eine wichtige Bedeutung zu. Viele Gegenstände werden, nachdem sie Schäden aufweisen, nicht entsorgt, sondern für eine gleichsam mindere Tätigkeit verwendet. Ein alter Aluminiumtopf, dem ein Griff fehlt, dient nun etwa zum Tränken der Ziegen.

Das verbreitete Fehlen von Tischen, Stühlen und Sesseln, bedeute weder Armut noch bewussten Minimalismus, sondern verweise auf einen anderen Lebensstil. Auf dem Boden zu sitzen sei für die Tuareg keineswegs unbequem und kein Zeichen für mangelnden Komfort. Wenn es in Timia Stühle und Tische gibt, dann im Zusammenhang mit dem modernen Staat. Ein Entwicklungsprojekt stiftete beispielsweise einen Tisch mit Bürostühlen für den Gemeinderat. Als Spittler einen Ladenbesitzer fragte, warum er als Einziger in Timia eine Bank in seinem Geschäft habe, erhielt er zur Antwort: "Ich will nicht, dass Besucher, die nichts kaufen, bei mir herumsitzen. Die Bank ist unbequem. Wenn ich eine Matte hinlegen würde, dann würden sie viel länger bleiben."

"Leben mit wenigen Dingen" stellt die Bilanz einer mehr als dreißigjährigen Forschungstätigkeit in Niger dar. Seit den Siebzigerjahren kehrte Spittler regelmäßig für längere Aufenthalte in die Region zurück. Zahlreiche Fotos, die er während dieser Forschungen machte, sind im Buch abgedruckt. Der Autor zeigte viele der Aufnahmen den Fotografierten und bat diese um Kommentare, die er wiedergibt. Dabei interessierte ihn vor allem: Was ist für sie wichtig? Was sehen sie? Was finden sie schön und was hässlich? Vor diesem Hintergrund wählt er auch nicht das in der Ethnologie übliche Verfahren, Personen mit fiktiven Namen zu bezeichnen. Die Betroffenen "würden das nicht nur nicht verstehen, sondern sich sogar darüber empören. Sie wollen für den Leser in einer anderen Welt als echte Personen erkennbar sein."

Seinen Weg zur Ethnologie fand Spittler über die Soziologie. Bei Heinrich Popitz in Freiburg schrieb er vor fast sechzig Jahren seine Dissertation zum Thema "Norm und Sanktion", für die er ein halbes Jahr teilnehmende Beobachtung in einer Restaurantküche in München absolvierte. Schon früh begann er sich nicht allein für die sozialen Beziehungen der Menschen zu interessieren, sondern für die Beziehung der Menschen zu den Dingen, die er fortan vor allem im afrikanischen Kontext untersuchte.

Feldforschung könne man gar nicht detailliert und intensiv genug betreiben, lautet sein Motto. Zugleich verbindet er sie unaufdringlich mit theoretischen Erwägungen. Die Studie zu den Kel Ewey zeigt, wie daraus eine eindringliche, von großem, aber nicht unkritischem Respekt für seine Protagonisten geprägte Darstellung wird. ANDREAS ECKERT

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