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"Nur Leben sammeln. Eindrücke, Wissen, Lektüre, Geschehenes, alles. Und nicht fragen wozu und warum. Ob ein Buch daraus wird oder Memoiren oder gar nichts, ob es in meinem Gedächtnis haftet oder verdirbt wie eine schlechte photographische Platte. Nicht fragen, nur sammeln." In der brillanten Verbindung von Persönlichem und Historischem, die Klemperers Tagebücher auszeichnen, beschreibt die vorliegende Edition die Zeit der Weimarer Republik bis zu den Vorboten kommender Katastrophen.

Produktbeschreibung
"Nur Leben sammeln. Eindrücke, Wissen, Lektüre, Geschehenes, alles. Und nicht fragen wozu und warum. Ob ein Buch daraus wird oder Memoiren oder gar nichts, ob es in meinem Gedächtnis haftet oder verdirbt wie eine schlechte photographische Platte. Nicht fragen, nur sammeln." In der brillanten Verbindung von Persönlichem und Historischem, die Klemperers Tagebücher auszeichnen, beschreibt die vorliegende Edition die Zeit der Weimarer Republik bis zu den Vorboten kommender Katastrophen.
Autorenporträt
Victor Klemperer wurde 1881 in Landsberg/Warthe als achtes Kind eines Rabbiners geboren. 1890 übersiedelte die Familie nach Berlin, wo der Vater zweiter Prediger einer Reformgemeinde wurde. Er studierte von 1902 bis 1905 Philosophie, Romanistik und Germanistik in München, Genf, Paris, Berlin. Bis er 1912 das Studium in München wieder aufnahm, lebte er in Berlin als Journalist und Schriftsteller.
1940 erfolgte eine Zwangseinweisung in ein Dresdener Judenhaus. Nach seiner Flucht aus Dresden im Februar 1945 kehrte Klemperer im Juni aus Bayern nach Dresden zurück. 1950 wurde Abgeordneter des Kulturbundes in der Volkskammer der DDR und erhielt 1952 Nationalpreis III. Klasse. 1960 verstarb Victor Klemperer in Dresden.
Geschwister-Scholl-Preis 1995.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Das Closett scheuern und Ordinarius sein
Victor Klemperers weitere Tagebücher / Von Frank-Rutger Hausmann

Wie ein wahrhaft Gläubiger jeden Tag seines Lebens mit einer eingehenden Prüfung seines Gewissens beschließt, bringt auch der dem Transzendenten völlig entfremdete Romanistikprofessor Victor Klemperer (1881 bis 1960) lebenslang seinen Tagesablauf in einem "journal intim" zu Papier, zumeist in sehr ausführlichen Eintragungen. Die in über sechzig Heften enthaltenen Aufzeichnungen umspannen das letzte Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts und reichen weit über die Mitte unseres Jahrhunderts hinaus. Vier unterschiedliche politische Systeme - Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich, SBZ/DDR - bilden ihren Hintergrund. Diese Abertausende von Seiten sind inhaltlich wie sprachlich von höchst unterschiedlichem Gewicht, ergeben jedoch in ihrer Gesamtheit ein einmaliges "document humain".

Der Autor ist kein Gesellschaftslöwe: Nur wenn er am Schreibtisch oder in einer Bibliothek sitzt, fühlt er sich wohl. "Nulla dies sine linea" lautet eine alte Maxime, die für ihn in besonderem Maße gilt. Klemperer ist nicht nur der Verfasser seiner Tagebücher, sondern auch ihr wichtigster Protagonist, und dieses Wechselspiel von höchster subjektiver Betroffenheit und möglichst objektiver Darstellung ergibt eine brisante Mischung, die den Leser nie gleichgültig lassen kann.

Nach "Curriculum vitae" und "Ich will Zeugnis ablegen" gibt der Aufbau Verlag nun noch einmal Tagebuchaufzeichnungen Victor Klemperers heraus, diesmal im Umfang von über zweitausend Seiten. Auch diese beiden Bände sind eine bedrückende Lektüre, allerdings weniger wegen des zeitgenössischen Hintergrunds wie die ersten vier als wegen der Depressivität des Verfassers. Hier schreibt ein permanent Zukurzgekommener, der mit allem und jedem hadert und dafür vorzugsweise seine Umwelt verantwortlich macht: die Ehefrau, die Familie, die Kollegen und Nachbarn, die Verleger, die Tücke der Objekte. Und daraus ergeben sich auch die eher banalen Hauptthemen dieser Aufzeichnungen: Gesundheit und Krankheit, Wohnung und Nahrung, Einkommen und Schulden, Karriere und Hochschulämter, Lektüren und wissenschaftliche Publikationen und, leider recht unsystematisch, politische Beobachtungen. Die entsprechenden Beobachtungen zu Räterepublik, Kapp-Putsch, Freicorpskämpfen, Oberschlesienabstimmung, Reichstagswahlen, Danziger Sonderstatus sind eher sporadisch. Immerhin wird die bedrohliche Atmosphäre von Revolution, Reaktion und Bürgerkriegsgefahr evoziert.

Klemperer ist ein Stadtmensch, seine bevorzugten Orte sind München, Leipzig, Berlin und Dresden. Zwischen ihnen reist er wie ein moderner Ahasver hin und her, sucht Ärzte, Anwälte, Verwandte, Freunde und Kollegen auf, und man mag den präzisen Blick für die ständig steigende Geschwindigkeit der Züge, ihren wachsenden Komfort und eine daraus resultierende größere Mobilität der Gesellschaft bewundern. Dann, gegen Mitte der zwanziger Jahre, weitet sich der Horizont: Die farbigen Schilderungen zahlreicher Seereisen sind lesenswert und bringen endlich etwas Farbe in die Tagebücher. Das Ehepaar verreist jedoch mehr aus mondänen Anwandlungen als aus Neugierde auf das Fremde, denn Klemperer liebt die Franzosen, Spanier, Portugiesen, Südamerikaner und Italiener nicht besonders, deren Literatur doch sein Berufsleben füllt. So heißt es beispielsweise: "Und eine reine Freude haben wir beide nicht in Spanien, u. die ganze Reise ist eine Heuchelei." Mussolinis neue Ordnung macht einen "wahrhaft königlichen Eindruck" auf ihn.

Der Autor ist noch ganz ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts, für das Elektrizität, Radio, Füllfederhalter, Dampfheizung und Kinematographie faszinierende Entdeckungen sind, die ihren Benutzer zunächst verwirren, ihm dann aber, wenn er ihren Gebrauch erlernt hat, das Leben ungemein erleichtern. Leser, die sich für Alltagsgeschichte, die neuphilologische Res publica litterarum und den Kulturbetrieb der Weimarer Republik, das neue Medium Kino, die Stadt Dresden mit ihren Kunstsammlungen, den Wissenschaftsbetrieb an einer Technischen Hochschule oder die allgemeinen Lebensbedingungen der Mittelschicht interessieren, werden auf ihre Kosten kommen. Dennoch: Von den bisher veröffentlichten Tagebüchern und autobiographischen Schriften sind die hier zu besprechenden die ermüdendsten, gelegentlich sind sie sogar abstoßend.

Klemperer ist Vernunftrepublikaner mit stark antifranzösischen Ressentiments; er liebt seine Frau, behandelt sie aber oft harsch, da er sie wegen ihres musikalischen Talents beneidet. Als Gelehrter ist er nicht besser als die intrigierenden Rivalen, die er kritisiert. Er ergibt sich bei Berufungsfragen einem "Machtrausch" und urteilt über die Schriften anderer, ohne sie gelesen zu haben: "Frau Bühler Chutzbegonie will sich habilitieren. Für Ästhetik und Literaturpsychologie . . . Ich urteile oft über Leute, ohne ihre Bücher u. eigentlichen Leistungen zu kennen (zum Beispiel Walzel und Bühlerin). Stolz: Mein Urteil trifft aber meist zu. Ich habe die Witterung."

Um keine falsche Legendenbildung aufkommen zu lassen, muß eine zentrale Frage gestellt werden, von deren Beantwortung die Einschätzung dieser Aufzeichnungen ganz wesentlich abhängt: Wurde Klemperer in seiner Karriere als Jude hintangesetzt, obwohl er ein tüchtiger Romanist war und einen bedeutenderen Lehrstuhl verdient hätte als den an der TU Dresden, die sich zur Weiterbildung ihrer Ingenieure nur eine Kulturwissenschaftliche Abteilung hielt? Wenn man diese Frage bejaht, dann wären diese Tagebücher als Beleg eines virulenten, gegen Klemperer und andere "Juden" zielenden Antisemitismus nicht minder bewegend und signifikativ als jene über das Dritte Reich, lieferten sie doch sozusagen dessen Vorgeschichte. Klemperer scheint selbst an eine gegen ihn gerichtete Antisemitismusfront geglaubt zu haben: "Es gibt reactionäre u. liberale Universitäten. Die reactionären nehmen keinen Juden; die liberalen haben immer schon zwei Juden und nehmen keinen dritten." Oder, wenig später: "Es ist so unendlich bitter. Zumal ich mich immer wieder frage, ob es wirklich die force majeure des Antisemitismus ist oder ob man doch die anderen für bedeutender hält als mich."

Indes hat man Anlaß zur Vermutung, daß sich Klemperer bis auf wenige "lucida intervalla" über sich selbst täuscht. Angesichts seiner bisherigen Leistungsnachweise ist die Berufung nach Dresden in der Tat ein "märchenhaftes Glück . . . märchenhaft und unverdient, wenigstens im Punkte des Fachwissens unverdient". Als Klemperer sich 1914 in München bei Vossler habilitiert, hat er von der damaligen Romanistik keine große Ahnung. Ein Ordinarius soll, und das ist "communis opinio", Sprach- und Literaturwissenschaftler zugleich sein, vorzugsweise Sprachwissenschaftler, ein Bereich, der Klemperer nie interessiert hat und auch nie interessieren wird. Gelegentlich blitzt bei Klemperer Selbsterkenntnis über seine Defizite auf: "Letzten Dienstag im Seminar war ich abgespannt, radebrechte französisch, blamierte mich ein wenig. Die Zügel entglitten mir, zwei Gänse plauderten und lachten zusammen." Oder: "Am Dienstag griff ich im Spanischen wieder einmal daneben u. übersetzte feo mit treu statt mit häßlich." Seine präzisen Lektürelisten belegen, daß er sich den Überblick über die wichtigsten romanischen Autoren erst im Laufe der Jahre langsam anliest.

Überraschender noch ist, daß seine rastlose Buchproduktion weniger auf Erkenntnisdrang und Forscherlust zurückzuführen ist als auf Erwerbsstreben. Damals, als es noch ein lesendes Bildungsbürgertum gab, zahlten die Verleger selbst für fachgeschichtliche Publikationen recht gut, wenn sie nur faßlich geschrieben waren, und gaben sich auch mit der drucktechnischen Gestaltung der Bücher große Mühe. Klemperer verdient an seinen Gesamtdarstellungen und Synthesen, die er vielfach noch für Vorträge in Bildungswerken, Volkshochschulen oder Handwerkerverbänden nutzt, nicht schlecht, aber das Geld rinnt ihm durch die Finger. Als Ordinarius reklamiert er durchaus einen sozialen Status, zu dem eine große Wohnung mit Zentralheizung und modernen sanitären Einrichtungen, Arbeitszimmer für beide Ehepartner sowie Dienstmädchen gehört, was damals als Privileg der Oberschicht galt.

"Das Closett scheuern und Ordinarius sein" (5. 5. 1922), ist sein empörter Ausruf, als er nicht sofort eine Aufwärterin findet. Balzac könnte diesen "ordinarius in partibus", eine Mischung aus David Séchard und Père Goriot, der nicht an einer Technischen Hochschule, sondern nach eigenem Zeugnis an einer "geistigen Tiefschule" lehrt, erfunden haben: "[. . .] 26000 M. Lehrergehalt, 1200 Colleggelder (nach neuer Regelung), allerlei vom Verleger - u. ich gehe im Gehrock u. zu Haus in Uniform, weil ich keinen Jackettanzug mehr habe. Fraglos kostet der Haushalt mehr, als ich erwerbe - wieviel mehr weiß ich noch immer nicht genau, da Gasrechnung aussteht u. Überblick überhaupt fehlt. Das Mädchen wirtschaftet ziemlich verschwenderisch u. ich bin froh, wenn ich Tatsachen u. Zahlen nicht erfahre . . ."

Seine zahlreichen, manchmal überhasteten Publikationen tragen ihm den Vorwurf des Journalismus ein, den insbesondere sein eigener Lehrer Vossler gegen ihn erhebt. Hinzu kommt, daß sich Klemperer auf dem Neuphilologentag in Halle im Oktober 1920 in den Augen der etablierten positivistischen Fachgenossen als idealistischer Modernist kompromittiert hat, der in Schriften und Rezensionen eine allzu offene Sprache spricht und Gegner wie Ernst Robert Curtius hart angreift.

Dabei hätte Klemperer in Dresden durchaus zufrieden sein können: An der Hochschule saß er in allen wichtigen Kommissionen und hatte endlich den stets ersehnten Einfluß: "Das ist nun höchster Triumph für mich: jetzt habe ich selber etwas mitzuvergeben, habe activ die Hand im Spiel." Die wenigen Studenten und Prüfungen ließen ihm genügend Zeit für seine Forschungen und Publikationen, und zunächst erkennt er dies auch in weiser Selbstbescheidung an: "Das ist das Schöne an meiner Berufung: ich bin auf alle Fälle im Hafen, u. doch liegt alles vor mir, fange ich jetzt erst so recht eigentlich an. Es kann mir nichts Übles mehr geschehen, und noch viel Gutes - ich meine in sozialer, wissenschaftlicher, finanzieller Hinsicht." Doch schon bald will er mehr Ruhm und Macht. Als der um elf Jahre jüngere Erich Auerbach, der Autor des Jahrhundertwerks "Mimesis", 1931 als Nachfolger Spitzers nach Marburg berufen wird, schreibt Klemperer verbittert: "Ein junger Mann, der wissenschaftlich noch nicht existierte, als ich schon Professor war. Ein Jude, ein Aesthet - u. ihm ist es geglückt, u. ich bin ein alternder Mann, bin ,vorige Generation', u. bin auf untergeordnetem Posten sitzen geblieben, endgültig. Ich sage mir immer wieder, daß dieser Schmerz der Eitelkeit unsinnig ist, daß Ruhm, selbst großer, immer nur in einem kleinen Kreis u. für kurze Zeit Geltung hat; aber aller philosophische Trost verfängt nicht."

Klemperer hatte seine Herkunft übrigens immer verborgen und selbst jüdischen Bekannten gegenüber behauptet, sein Vater sei Philologe, nicht Rabbiner. In seinem Assimilationsstreben ging er so weit, nicht getaufte Juden verächtlich als "östliches Volk, Kinder wie aus dem Ghetto, Judenweiber, galizisches Häufchen Judenunglück" zu titulieren. Oder soll man besser von Selbsthaß sprechen? Als Curtius nach Leipzig berufen werden soll, faßt Klemperer sein ganzes Elend in die folgenden Worte: "Curtius ist kein ,Literat' u. ,Synthetiker' u. ,Journalist' u. Entsteller des Tatsächlichen - aber ich bin das alles. Der Sohn eines Rabbiners bin ich, u. er ist der Sohn des Präsidenten der preuß.-evangel. Landessynode. Und er ist von Anfang an mein Concurrent gewesen, u. immer der Sieger."

Klemperers Aufzeichnungen aus der Zeit der Weimarer Republik bestechen durch ihre Einlässigkeit wie die Insistenz der Beschreibungen, die Wiederholung der angesprochenen Leitthemen und die erstaunliche Offenheit des Diaristen, der sogar "durch mehrere erste Ehejahre auf dem Jahreskalenderblatt, das die Zeitungen liefern, jeden Tag sexueller Freuden anstrich". Allerdings fehlt in den vorliegenden Bänden der unermüdliche Wille zur Zeugenschaft, die das Besondere der bisher publizierten Tagebücher ausmacht. Statt dessen kreist der Schreiber immer um sich selbst, es dominieren gestörter Realitätssinn, Minderwertigkeitsgefühle, nörglerische Hypochondrie und berufliche Frustration.

Der Herausgeber Walter Nowojski, der auch die übrigen Bände ediert hat - leider nicht besonders sachkundig, wenn man die vielen Lesefehler, überflüssigen Angaben und fehlenden wirklich wichtigen Informationen in den Anmerkungen betrachtet -, schützt den Leser insofern vor allzu starker Redundanz und gelegentlicher Geschwätzigkeit dieser Aufzeichnungen dadurch, daß er sie um die Hälfte kürzt. Leider wird dem Leser vorenthalten, was und warum gekürzt wird. Klemperer selbst hat wohl nicht an ihre Publikation gedacht.

Victor Klemperer: "Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum". Tagebücher 1918 bis 1933. 2 Bände. Aufbau Verlag, Berlin 1996. 1880 S., geb., Subskr.-Preis 98,- DM; ab 1. 3. 1997 128,- DM.

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