Schreiben heißt für Doris Dörrie, das eigene Leben bewusst wahrzunehmen. Wirklich zu sehen, was vor unseren Augen liegt. Oder wiederzufinden, was wir verloren oder vergessen haben. Es ist Trost, Selbstvergewisserung, Anklage, Feier des Lebens. Doris Dörrie denkt in diesem einzigartigen Buch über das autobiographische Schreiben nach, gibt Tipps und kreative Anleitungen. Und sie legt gleich selbst los und erzählt hinreißend ehrlich von ihrem eigenen Leben.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.09.2019Poesie der Einkaufsliste
Doris Dörries neues Buch verführt zum autobiografischen Schreiben
München – Um dem Buch gerecht zu werden, um das es hier geht, müsste der Rezensent über das Essen in seiner Kindheit schreiben, er müsste über Verlorenes nachdenken, den ersten Schwarm, Lügen und den Mond, wenigstens Assoziationen zu seiner jüngsten Einkaufsliste müsste er offenbaren. Selbstverständlich verkneift er sich das alles, obwohl es ihm in den Fingern juckt, inspiriert durch ebenjenes Buch, das genau das zum Ziel hat. Doris Dörrie hat eine „Einladung zum Schreiben“ verfasst, wie der Untertitel so schön verspricht. Und genau das ist „Leben, schreiben, atmen“, jüngst erschienen bei Diogenes: kein Schreibratgeber im herkömmlichen Sinn, keine Anleitung zum Bestseller („Ich habe keine Ahnung, wie man etwas schreibt, das sich verkauft“), sondern ein Musenkuss für alle, die das autobiografische Schreiben für sich entdecken oder perfektionieren möchten.
Die Romanautorin und Filmemacherin, die als Professorin an der Hochschule für Fernsehen und Film München (HFF) Creative Writing unterrichtet (eine Bezeichnung, die sie nicht leiden kann, weil Schreiben an sich kreativ sei), bringt bestes Know-how aus Theorie und Praxis mit. Die Sehnsucht nach dem vom Leben Inspirierten erörterte die Wahlmünchnerin bereits vor zwei Jahren beim Literaturfest, als sie das „forum:autoren“ kuratierte und unter das Motto stellte: „Alles Echt. Alles Fiktion“.
In dem hübschen Büchlein nun funkeln Musensätze wie diese: „Schreiben ist wie mit der Vergangenheit zu telefonieren und sie in die Gegenwart zu holen“ oder: „Schreiben ist Unterwassertätigkeit, ein Abtauchen in Regionen, die einem unbekannt sind oder die man vergessen hat.“ Die Autorin plädiert für die Handschrift, für das regelmäßige Tun, das Schreiben ohne Nachdenken. Immer im Fluss bleiben. Mal in der ersten Person, mal in der dritten, mal im Präsens, mal in der Vergangenheit. Flanieren und notieren. „Der Schreibmuskel ist ein Muskel, der verkümmert, wenn man ihn nicht trainiert.“
Dörrie gibt den Workout-Coach und auch die Vorturnerin. Das führt zur besonderen Struktur des Buches. Die thematisch befeuerten 50 Kapitel heißen zum Beispiel „Verliebt“, „Süchte“ und „Magic Soap“; sie bestehen jeweils aus einem erzählerischen Text und dazu passenden Aufgabenstellungen („Schreib über deinen eigenen Körper. Über deinen Bauchnabel“). Mit ergänzenden Fragen wie „Welche Wörter kennst du, die sonst niemand gebraucht?“ oder der wunderbaren Zen-Weisheit „Wer bist du, wenn dir keiner zuschaut?“ setzt die Autorin Impulse, die unerfahrene wie erfahrene Schreiber inspirieren dürften.
Gleichzeitig kann man in „Leben, schreiben, atmen“ wie in einer Autobiografie der 1955 in Hannover geborenen Doris Dörrie lesen. Die unaufdringliche Sammlung offenherziger Miniatur-Memoiren handelt von Drogen („Ich nehme alles, aber von allem nur ein kleines bisschen“), davon, wie sie über Nacht Kommunistin wurde („weil der Junge, der mich geküsst hat, Kommunist ist“), von dem Verlobungsring, den sie ablehnte, und dem Ehering, den sie sich anstecken ließ, einem Schmuck der Zuni-Indianer. Es geht ums Studieren in Kalifornien und New York, um Dreharbeiten in Fukushima, um ihre beste Freundin und die große Liebe („Ich stehe auf der Chinesischen Mauer und sehe nur ihn“), es geht um Krankheit, Verlust und das Sterben, auch um eigene Fehler. Schwächen zeigen, ein ganz wichtiger Punkt auf dieser Reise.
Bei der Lesung im Literaturhaus wird es auch ein Gespräch mit Dörries Lektorin Margaux de Weck geben, das sich unter anderem um den Schreibprozess der Erfolgsautorin dreht. Zunächst aber zurück zum Selberschreiben. „Ruhig weiteratmen! Weiterschreiben. Weitermachen.“ So endet das Buch mit den Worten: „Jeder Tag ist ein guter Tag. Ha!“
BERNHARD BLÖCHL
Doris Dörrie: Leben, schreiben, atmen – Eine Einladung zum Schreiben, Dienstag, 10. September, 20 Uhr, Literaturhaus, Salvatorpl. 1, ausverkauft
„Wenn man schreibt, schreibt man immer über sich selbst“: Romanautorin, Dozentin und Filmemacherin Doris Dörrie.
Foto: 2012 Constantin Film Verleih GmbH/Dieter Mayr
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Doris Dörries neues Buch verführt zum autobiografischen Schreiben
München – Um dem Buch gerecht zu werden, um das es hier geht, müsste der Rezensent über das Essen in seiner Kindheit schreiben, er müsste über Verlorenes nachdenken, den ersten Schwarm, Lügen und den Mond, wenigstens Assoziationen zu seiner jüngsten Einkaufsliste müsste er offenbaren. Selbstverständlich verkneift er sich das alles, obwohl es ihm in den Fingern juckt, inspiriert durch ebenjenes Buch, das genau das zum Ziel hat. Doris Dörrie hat eine „Einladung zum Schreiben“ verfasst, wie der Untertitel so schön verspricht. Und genau das ist „Leben, schreiben, atmen“, jüngst erschienen bei Diogenes: kein Schreibratgeber im herkömmlichen Sinn, keine Anleitung zum Bestseller („Ich habe keine Ahnung, wie man etwas schreibt, das sich verkauft“), sondern ein Musenkuss für alle, die das autobiografische Schreiben für sich entdecken oder perfektionieren möchten.
Die Romanautorin und Filmemacherin, die als Professorin an der Hochschule für Fernsehen und Film München (HFF) Creative Writing unterrichtet (eine Bezeichnung, die sie nicht leiden kann, weil Schreiben an sich kreativ sei), bringt bestes Know-how aus Theorie und Praxis mit. Die Sehnsucht nach dem vom Leben Inspirierten erörterte die Wahlmünchnerin bereits vor zwei Jahren beim Literaturfest, als sie das „forum:autoren“ kuratierte und unter das Motto stellte: „Alles Echt. Alles Fiktion“.
In dem hübschen Büchlein nun funkeln Musensätze wie diese: „Schreiben ist wie mit der Vergangenheit zu telefonieren und sie in die Gegenwart zu holen“ oder: „Schreiben ist Unterwassertätigkeit, ein Abtauchen in Regionen, die einem unbekannt sind oder die man vergessen hat.“ Die Autorin plädiert für die Handschrift, für das regelmäßige Tun, das Schreiben ohne Nachdenken. Immer im Fluss bleiben. Mal in der ersten Person, mal in der dritten, mal im Präsens, mal in der Vergangenheit. Flanieren und notieren. „Der Schreibmuskel ist ein Muskel, der verkümmert, wenn man ihn nicht trainiert.“
Dörrie gibt den Workout-Coach und auch die Vorturnerin. Das führt zur besonderen Struktur des Buches. Die thematisch befeuerten 50 Kapitel heißen zum Beispiel „Verliebt“, „Süchte“ und „Magic Soap“; sie bestehen jeweils aus einem erzählerischen Text und dazu passenden Aufgabenstellungen („Schreib über deinen eigenen Körper. Über deinen Bauchnabel“). Mit ergänzenden Fragen wie „Welche Wörter kennst du, die sonst niemand gebraucht?“ oder der wunderbaren Zen-Weisheit „Wer bist du, wenn dir keiner zuschaut?“ setzt die Autorin Impulse, die unerfahrene wie erfahrene Schreiber inspirieren dürften.
Gleichzeitig kann man in „Leben, schreiben, atmen“ wie in einer Autobiografie der 1955 in Hannover geborenen Doris Dörrie lesen. Die unaufdringliche Sammlung offenherziger Miniatur-Memoiren handelt von Drogen („Ich nehme alles, aber von allem nur ein kleines bisschen“), davon, wie sie über Nacht Kommunistin wurde („weil der Junge, der mich geküsst hat, Kommunist ist“), von dem Verlobungsring, den sie ablehnte, und dem Ehering, den sie sich anstecken ließ, einem Schmuck der Zuni-Indianer. Es geht ums Studieren in Kalifornien und New York, um Dreharbeiten in Fukushima, um ihre beste Freundin und die große Liebe („Ich stehe auf der Chinesischen Mauer und sehe nur ihn“), es geht um Krankheit, Verlust und das Sterben, auch um eigene Fehler. Schwächen zeigen, ein ganz wichtiger Punkt auf dieser Reise.
Bei der Lesung im Literaturhaus wird es auch ein Gespräch mit Dörries Lektorin Margaux de Weck geben, das sich unter anderem um den Schreibprozess der Erfolgsautorin dreht. Zunächst aber zurück zum Selberschreiben. „Ruhig weiteratmen! Weiterschreiben. Weitermachen.“ So endet das Buch mit den Worten: „Jeder Tag ist ein guter Tag. Ha!“
BERNHARD BLÖCHL
Doris Dörrie: Leben, schreiben, atmen – Eine Einladung zum Schreiben, Dienstag, 10. September, 20 Uhr, Literaturhaus, Salvatorpl. 1, ausverkauft
„Wenn man schreibt, schreibt man immer über sich selbst“: Romanautorin, Dozentin und Filmemacherin Doris Dörrie.
Foto: 2012 Constantin Film Verleih GmbH/Dieter Mayr
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»Heute streiten sich die Feuilletonisten, ob sie besser Bücher schreiben kann oder besser Filme dreht. Die Antwort ist einfach: Doris Dörrie kann beides.« Janet Schayan / Deutschland Deutschland