Anna Haags 'Lebensgeschichten' spannen einen weiten Bogen vom Ende des 19. bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts. In Stimmungsbildern und Alltagserlebnissen gibt sie Aufschluss über eine Epoche großen Wandels der Lebensführung und der Weltanschauungen, über eine Epoche großer Erschütterungen, die vom Ersten Weltkrieg in Inflation, Depression, in die Barbarei des 'Dritten Reiches' und in den Zweiten Weltkrieg führte. Anna Haag vermittelt Einblicke in die Jahre des Wiederaufbaus und des bundesdeutschen 'Wirtschaftswunders', dessen militärische 'Aufwertung' sie mit großem Misstrauen betrachtete. Den Lesern begegnet eine Frau von großer Anteilnahme, die mit wacher praktischer Intelligenz und unverwüstlicher Energie ungezählte Widrigkeiten überwand. Leicht verständlich und lebendig beschreibt sie gesellschaftliche Umwälzungen, Brüche und Wahnsinnstaten. Enthalten sind auch ausführliche Teile von Anna Haags Kriegstagebuch, das sie von 1940 bis 1945 im Kohlenkeller ihres Hausesversteckt hielt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2004Unkonventionelle Wege
Das Leben der württembergischen Pazifistin Anna Haag
Anna Haag: Leben und gelebt werden. Erinnerungen und Betrachtungen. Herausgegeben von Rudolf Haag. Silberburg-Verlag, Tübingen 2003. 400 Seiten, 15,90[Euro].
Anna Haag, geboren 1888, Beruf: Hausfrau, Qualifikation: Frauenrechtlerin, Pazifistin, sozialdemokratische Politikerin und Schriftstellerin. Ihr Engagement für soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Humanität ist über ihren Tod 1982 hinweg spürbar, so im Anna-Haag-Haus Stuttgart, seit 1951 Zufluchtsort für alleinstehende Mädchen und Frauen. Ihre 1947 in den Stuttgarter Landtag eingebrachte Gesetzesinitiative "Niemand darf zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden" machte sie zugleich zu einer Mitbegründerin moderner Kriegsdienstverweigerung.
Drei Bestandteile charakterisieren das vom jüngsten ihrer drei Kinder herausgegebene Buch, das neue Einsichten in die Gedanken- und Gefühlswelt Anna Haags eröffnet. Ausgangspunkt sind Teile ihrer Lebenserinnerungen, die bereits 1968 unter dem Titel "Das Glück zu leben" veröffentlicht worden waren (unveränderte Neuauflage 1978). In zahlreichen Episoden zeichnet sie darin "Annas" Biographie nach, beschreibt die Kontinuität im privaten Leben an der Seite von Ehemann Albert, der wie ihr Vater und Großvater Lehrer war und mit dem sie für damalige Vorstellungen unkonventionelle Wege ging. Stationen ihres seit 1909 gemeinsamen Lebens führten sie über Schlesien, Pommern und Rumänien 1919 zurück nach Württemberg.
Den Alltag in Zeiten großer politischer, kultureller und wirtschaftlicher Veränderungen zu meistern fiel nicht immer leicht. So erlebte sie den Ersten Weltkrieg in Bukarest. Dort verdiente die junge Frau den Unterhalt für sich und ihre beiden kleinen Töchter im Dienst der deutschen Militärverwaltung. Während Albert einem ungewissen Schicksal als Soldat entgegenging, begegnete Anna dem Elend des Krieges mit der Organisation von Flüchtlingsheimen. Diese Erfahrungen formten aus der einst "unpolitischen Anna" jene Pazifistin, die sich später in der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit engagierte und in den dreißiger Jahren Antikriegsplakate vertrieb. Nach einem weiteren Krieg machte sie den Pazifismus "salonfähig", um sich jedoch dann angesichts der Wiederaufrüstung in der Bundesrepublik resigniert aus der Politik zurückzuziehen.
Durch eigenständige Kapitel des Herausgebers erfahren Frau Haags Lebenserinnerungen Nuancierungen. Ihre Sicht wird, Wiederholungen dabei in Kauf nehmend, durch die Eindrücke der Kinder reflektiert. Natürlich werden dabei auch die sich zwischen Generationen wiederholenden Differenzen in Erziehungsfragen kolportiert. Anna Haag hat Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und den Aufbau der Bundesrepublik Deutschland bewußt miterlebt. Jede dieser Epochen deutscher Geschichte wird in ihrer Darstellung und aus der Sicht einer bis ins hohe Alter selbstbewußten, engagierten und emanzipierten Frau zum Leben erweckt. Ihre nur in Auszügen veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen - zwischen Mai 1940 und Mai 1945 entstanden - stellen den bedeutendsten Abschnitt des Buches dar. Frau Haag soll diese Notizen im Sommer 1945 zu einem 500 Seiten umfassenden Typoskript ausgearbeitet haben. Ob sie nachträglich Veränderungen vornahm, bleibt offen. Die Auswahl enthält Eintragungen über besondere persönliche Ereignisse und streift nahezu alle wichtigen Themen aus der Geschichte des "Dritten Reiches": die Mythen um die Rolle des "Lebensborns", Euthanasie, Judenverfolgung, Sondergerichte, Widerstand, Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung, Schuld und Sühne. Orientiert am Verlauf des Krieges, beobachtet sie Veränderungen in der Gesellschaft und bei sich selbst, welche sie behutsam, mit wachem Geist und Zwischentönen aufzeichnet. Man möchte mehr davon lesen.
BABETTE HEUSTERBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Leben der württembergischen Pazifistin Anna Haag
Anna Haag: Leben und gelebt werden. Erinnerungen und Betrachtungen. Herausgegeben von Rudolf Haag. Silberburg-Verlag, Tübingen 2003. 400 Seiten, 15,90[Euro].
Anna Haag, geboren 1888, Beruf: Hausfrau, Qualifikation: Frauenrechtlerin, Pazifistin, sozialdemokratische Politikerin und Schriftstellerin. Ihr Engagement für soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Humanität ist über ihren Tod 1982 hinweg spürbar, so im Anna-Haag-Haus Stuttgart, seit 1951 Zufluchtsort für alleinstehende Mädchen und Frauen. Ihre 1947 in den Stuttgarter Landtag eingebrachte Gesetzesinitiative "Niemand darf zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden" machte sie zugleich zu einer Mitbegründerin moderner Kriegsdienstverweigerung.
Drei Bestandteile charakterisieren das vom jüngsten ihrer drei Kinder herausgegebene Buch, das neue Einsichten in die Gedanken- und Gefühlswelt Anna Haags eröffnet. Ausgangspunkt sind Teile ihrer Lebenserinnerungen, die bereits 1968 unter dem Titel "Das Glück zu leben" veröffentlicht worden waren (unveränderte Neuauflage 1978). In zahlreichen Episoden zeichnet sie darin "Annas" Biographie nach, beschreibt die Kontinuität im privaten Leben an der Seite von Ehemann Albert, der wie ihr Vater und Großvater Lehrer war und mit dem sie für damalige Vorstellungen unkonventionelle Wege ging. Stationen ihres seit 1909 gemeinsamen Lebens führten sie über Schlesien, Pommern und Rumänien 1919 zurück nach Württemberg.
Den Alltag in Zeiten großer politischer, kultureller und wirtschaftlicher Veränderungen zu meistern fiel nicht immer leicht. So erlebte sie den Ersten Weltkrieg in Bukarest. Dort verdiente die junge Frau den Unterhalt für sich und ihre beiden kleinen Töchter im Dienst der deutschen Militärverwaltung. Während Albert einem ungewissen Schicksal als Soldat entgegenging, begegnete Anna dem Elend des Krieges mit der Organisation von Flüchtlingsheimen. Diese Erfahrungen formten aus der einst "unpolitischen Anna" jene Pazifistin, die sich später in der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit engagierte und in den dreißiger Jahren Antikriegsplakate vertrieb. Nach einem weiteren Krieg machte sie den Pazifismus "salonfähig", um sich jedoch dann angesichts der Wiederaufrüstung in der Bundesrepublik resigniert aus der Politik zurückzuziehen.
Durch eigenständige Kapitel des Herausgebers erfahren Frau Haags Lebenserinnerungen Nuancierungen. Ihre Sicht wird, Wiederholungen dabei in Kauf nehmend, durch die Eindrücke der Kinder reflektiert. Natürlich werden dabei auch die sich zwischen Generationen wiederholenden Differenzen in Erziehungsfragen kolportiert. Anna Haag hat Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und den Aufbau der Bundesrepublik Deutschland bewußt miterlebt. Jede dieser Epochen deutscher Geschichte wird in ihrer Darstellung und aus der Sicht einer bis ins hohe Alter selbstbewußten, engagierten und emanzipierten Frau zum Leben erweckt. Ihre nur in Auszügen veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen - zwischen Mai 1940 und Mai 1945 entstanden - stellen den bedeutendsten Abschnitt des Buches dar. Frau Haag soll diese Notizen im Sommer 1945 zu einem 500 Seiten umfassenden Typoskript ausgearbeitet haben. Ob sie nachträglich Veränderungen vornahm, bleibt offen. Die Auswahl enthält Eintragungen über besondere persönliche Ereignisse und streift nahezu alle wichtigen Themen aus der Geschichte des "Dritten Reiches": die Mythen um die Rolle des "Lebensborns", Euthanasie, Judenverfolgung, Sondergerichte, Widerstand, Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung, Schuld und Sühne. Orientiert am Verlauf des Krieges, beobachtet sie Veränderungen in der Gesellschaft und bei sich selbst, welche sie behutsam, mit wachem Geist und Zwischentönen aufzeichnet. Man möchte mehr davon lesen.
BABETTE HEUSTERBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Beeindruckt zeigt sich Babette Heusterberg von den Erinnerungen Anna Haags, 1888 - 1982, die sich von der unpolitischen Hausfrau zur Frauenrechtlerin, Pazifistin, Politikerin und Schriftstellerin wandelte. Der von ihrem Sohn Rudolf Haag herausgegebene Band eröffnet zur Freude der Rezensentin "neue Einsichten in die Gedanken- und Gefühlswelt" von Anna Haag. Neben Teilen ihrer bereits 1968 unter dem Titel "Das Glück zu leben" erschienenen Lebenserinnerungen bietet der Band Heusterberg zufolge auch ein eigenständiges Kapitel des Herausgebers, das Haags Lebenserinnerungen nuanciere: Haags Sicht werde darin durch die Eindrücke der Kinder reflektiert. Den "bedeutendsten Abschnitt" des Buches sieht Heusterberg aber in den Auszügen aus Haags zwischen Mai 1940 und Mai 1945 entstandenen Tagebuchaufzeichnungen. Diese Auswahl enthalte Eintragungen über besondere persönliche Ereignisse und streife nahezu alle wichtigen Themen aus der Geschichte des "Dritten Reiches". Das Resümee der Rezensentin: "Man möchte mehr davon lesen."
© Perlentaucher Medien GmbH
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