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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998

Von Stühlen lassen wir uns nicht duzen
Amédée Ozenfant sah auf die Formen / Von Wolfgang Pehnt

Es war ein bißchen früh für die Bilanz. Noch kein Drittel des Säkulums war verstrichen, als der französische Maler und Kunstschriftsteller Amédée Ozenfant unter dem lapidaren Titel "Art" das Resümee des zwanzigsten Jahrhunderts zog. Offenkundig war Ozenfant im Jahre 1928 der Meinung, die Strukturen der Moderne seien inzwischen so ausgeprägt, daß man sie bereits bilanzieren könne. Für die deutschsprachige Ausgabe, die 1931 bei Müller & Kiepenheuer erschien, notierte er befriedigt, seit der französischen Originalausgabe - also seit knapp drei Jahren! - sei kein neuer Gedanke mehr aufgetreten. Daraus zog der Autor den verwegenen Schluß, auch während des restlichen Jahrhunderts werde es weitergehen wie bisher.

Ozenfants Immobilismus hängt mit dem statischen Kunstbegriff zusammen, zu dem er in den zwanziger Jahren fand. An ihm maß er die Leistungen der Kollegen. Kunst ist gediegene Präzisionsarbeit, eine Art Hochleistungssport. Den vorbedachten Plan hat der Künstler mit Autorität und Meisterschaft umzusetzen. Ziel ist die "Erhebung" des Betrachters, seine Entlastung von Leben, Chaos und Tod. Anders als Mondrian oder Malewitsch glaubte Ozenfant nicht, auf Dinge als Sujets verzichten zu können. Deren Verlust hatte er bereits 1918 in der gemeinsam mit Le Corbusier verfaßten Schrift "Après le Cubisme" beklagt: "Ein schöner Gegenstand hat nie einem Maler geschadet."

Le Corbusier, zeitweiser Weggefährte Ozenfants und Architekt von dessen Pariser Atelierhaus an der Avenue Reille, hat es besser als der Freund verstanden, die Gunst der Medien zu gewinnen. Wer heute die gemeinsam herausgegebene Zeitschrift "L'Esprit Nouveau" durchblättert, tut es wegen Le Corbusier, nicht wegen Ozenfant. "L'Esprit Nouveau" war Aufbruch, Fanal, Programm, ein Akt der Reinigung. Ozenfants sieben Jahre später erschienenes "Art", in der deutschen Ausgabe "Leben und Gestaltung", distanzierte sich bereits von früheren Positionen. Viele Anhänger des "Neuen Geistes" seien inzwischen dem schnöden Zweckdenken verfallen.

Bildvergleiche, die den Parthenon neben den Delage-Sportwagen stellen, den strengen Faltenfall eines antiken Gewandes neben das Aluminiumgerippe eines Luftschiffes, finden sich bei Le Corbusier wie auch bei Ozenfant. Aber während sie dem agilen Architekten dazu dienten, zeitgenössische Erzeugnisse polemisch aufzuwerten, halfen sie Ozenfant, das Ewig-Wahre aller menschlichen Produktion zu behaupten.

Bei Ozenfant gehorcht die altägyptische Tonfigur den "Konstanten des Lebens" ebenso wie die Kosmetikreklame Josephine Bakers, die Ritzzeichnung aus dem Magdalénien ebenso wie das Bauschema eines modernen Tachometers. In diesem Wechselspiel der Gleichsetzungen wird alles eins. Der Zylinderträger der feinen Gesellschaft erweckt, laut Ozenfant, genauso feierliche Gefühle wie der kultische Maskentänzer. Solche Eingemeindungsstrategien haben auch andere Autoren wie Herbert Read oder André Malraux verfolgt. Es ist das Erkennungszeichen derer, die aus der Moderne eine Akademie machen wollten.

So war auch der Purismus, dem Ozenfant anhing, nicht als eine von anderen Ästhetiken gemeint, sondern als eine Überästhetik: etwas, das nicht zur Verhandlung stand, weil es selbst der Zeit enthoben war. Endlich war die Moderne auf der Höhe des Unvergänglich-Immergültigen angekommen. Zugleich sah sich der Akademiker Ozenfant zu Abgrenzungen gezwungen, die seine apollinische Position sichern sollten. Die Neuerungssucht seiner Zeitgenossen fand er ebenso verwerflich wie die vermeintlichen Inkonsequenzen einstiger Vorbilder und Weggefährten. An Picasso, dessen klassizistische Phase in den zwanziger Jahren ihm hätte naheliegen müssen, irritierten ihn die immer neuen Wendungen, die Rhetorik, die Bizarrerien. Sogar Le Corbusiers Entwurf für den Völkerbundpalast in Genf war ihm nicht poetisch genug.

Zwiespältig erschien dem selbsternannten Gralshüter der ewigen Moderne die Entwicklung des zeitgenössischen Designs. Einerseits: Eine exakt gearbeitete Autokarosserie, wie er selbst welche entwarf, war ihm lieber als unexakte Kunst. Andererseits: Man vergießt Tränen in Beethovens "Fidelio". Aber wer weint schon über die Schönheit eines Fahrrads? So mußte es darauf ankommen, Rhythmus, Kontur und Genauigkeit vor den "mechanischen Dekorateuren" der Alltagsprodukte zu bewahren und sie den großen Kunstwerken vorzubehalten. Eines schickt sich nicht für alle. Wer in den untergeordneten Gattungen jeden Gestaltungsehrgeiz erlaubt, wird "bald erleben, daß die Stühle uns duzen". Zum Akademiker und also auch zu Ozenfant gehört, auf Hierarchien zu achten.

Ozenfants Plädoyer für eine Konvention der Moderne wäre langweilige Lektüre, wenn sie seinen eigenen theoretischen Ansprüchen folgte. Paradoxerweise ist dieser Text alles andere als klar, logisch und überschaubar. Für einen Klassizisten ist er grandios mißraten; eine surreale Rumpelkammer, die vor Anekdoten, Lesefrüchten, Kalauern und Tautologien zu bersten droht. Zu Elektromagnetismus, Ethnologie, Psychoanalyse, Relativitätstheorie, Graphologie, Zoomorphologie, Astronomie, Paläontologie und Dutzenden anderer Disziplinen verhält sich der Autor wie Flauberts wissenschaftsgläubige Narren Bouvard und Pécuchet. Alles und jedes soll zur Synthese gezwungen werden, aber nichts will sich fügen.

Atemlos wechseln auch die literarischen Formen: Exkurs, fiktiver Dialog, Zitat, Aphorismus, Reportage, Selbstkorrektur. Manchmal sind Tabellen mit absurden Ergebnissen eingestreut: wie oft beispielsweise Rimbaud, Mallarmé, Apollinaire und siebenundvierzig andere Schriftsteller auf den ersten Seiten ihrer Werke die Worte "Nacht", "Regen" oder "rosa" verwendet haben. Selten hat die Form einer Darstellung derart dem Inhalt widersprochen. Aus der Begründung einer klassizistischen Moderne ist ein dadaistisches Manifest geworden. Gelegentlich fiel es dem Autor selbst auf.

In einem Kommentar zum deutschen Nachdruck versucht Ursula Prinz, Ozenfants Buch für die Gegenwart zu retten. Aber was soll dieser anarchische Ordnungsappell, diese Bilanz lange vor der Inventur, für Leser bedeuten, die mit ihrem Jahrhundert ganz andere Erfahrungen gemacht haben als der Autor anno 1928? So wird man dieses kurios mißlungene Werk besser als Quellenschrift und historischen Beleg für die Desaster der Moderne nehmen. Das ist auch etwas wert.

Amédée Ozenfant: "Leben und Gestaltung". Bilanz des 20. Jahrhunderts. Mit einem Nachwort zur Neuausgabe von Ursula Prinz. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1998. 318 S., 219 Abb., geb., 188,- DM.

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