Wassili Grossmans Gesellschaftsepos über die Schlacht um Stalingrad ist wie Tolstois Krieg und Frieden eines der wichtigsten Werke der russischen Literatur - ein Meisterwerk von enormer erzählerischer Kraft, von tiefer Einfühlung in die Leiden der Opfer und einer umfassenden Erkenntnis über die Mechanismen hinter der Tragödie des 20. Jahrhunderts.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.12.2009DAS HÖRBUCH
Frühling im Krieg
Grossmans Stalingrad-Roman „Leben und Schicksal”
Im Oktober 1960 legte der sowjetische Schriftsteller Wassili Grossman der Redaktion der Zeitschrift Snamja ein Manuskript seines Romans „Leben und Schicksal” vor. Zehn Jahre hatte er daran gearbeitet, hatte auf mehr als tausend Seiten die Sowjetunion im Kriege geschildert, so wie er es als Frontberichterstatter erlebt hatte. Die Handlung spielt in den Jahren 1942/43. Im Mittelpunkt stehen der Kampf um Stalingrad und die Ermordung der sowjetischen Juden. Deutsche Vernichtungslager und die Hölle des Gulag werden gleichermaßen geschildert.
Kaum hatte der Chefredakteur von Snamja begriffen, was er da in der Hand hielt, brachte er das Manuskript ins Zentralkomitee. Im Februar 1961 kamen KGB-Mitarbeiter zu Grossman, präsentierten einen Hausdurchsuchungsbefehl und beschlagnahmten Reinschrift, Urmanuskript sowie sämtliche Entwürfe zu „Leben und Schicksal”. Der Roman wurde verhaftet. Zwei Jahre zuvor hatte Boris Pasternak für seinen „Doktor Schiwago” den Literaturnobelpreis erhalten. Dergleichen sollte sich nicht wiederholen.
Der aufmerksame Soldat
Grossman bat 1962 in einem Brief an Chruschtschow um Freiheit für sein Buch. Vergeblich. „Leben und Schicksal” konnte in seiner Heimat nicht erscheinen. Kurz bevor er 1964 an Krebs starb, meinte Grossman, man habe ihn im Torweg erwürgt, still, jedes Aufsehen vermeidend, um die Ecke gebracht.
Freunden und Dissidenten mit guten Kontakten ist es zu verdanken, dass eine gerettete Abschrift des Romans in den Westen gelangte. 1980 erschien die russische Originalausgabe in der Schweiz. 2007 wurden die deutschen Leser mit einer überarbeiteten und ergänzten Ausgabe überrascht und verstanden nun erst Bedeutung und Größe dieses Romans. Er erzählt vor allem vom zaghaften Frühling der Freiheit mitten im Krieg, als nicht mehr eingebildete Faschisten und „Volksfeinde” gejagt, sondern wirkliche Feinde und Okkupanten bekriegt wurden. Ebenso eindringlich erzählt Grossman, wie der totalitäre Staat nach den kurzen Monaten der verhaltenen Entstalinisierung wieder zur gewohnten Unterdrückung zurückkehrt.
Dieses figurenreiche Panorama, das Nebeneinander von Dialog und langen, fast essayistischen Passagen in ein Hörspiel zu verwandeln, musste für unmöglich gelten, bis Helmut Peschina und Norbert Schaeffer es taten. Es ist verblüffend gut gelungen, obwohl die Geräuschkulisse zunächst übertrieben wirklichkeitsnah anmutet: Da pfeift der Wind, da rattern die Züge, da donnern Geschütze. Präzision und Wirklichkeitsfülle der Beobachtungen Grossmans beruhen auf der ungeheuer geschärften Aufmerksamkeit des Frontsoldaten, der nur dank verlässlicher Sinne überleben kann. Die aufwendigen Klanginszenierungen setzen das in Szene. Der Erzähler – Jürgen Hentsch mit unglaublich sonorer Stimme – beschränkt sich meist auf knappe Informationen über Schauplatz und Handelnde. Vorangetrieben wird die Handlung durch die vielen, meist kurzen Gespräche.
Mehr als 50 Namen stehen im Personenverzeichnis, und dass man beim Hören dennoch den Überblick nicht verliert, spricht für die Sorgfalt der Sprecher. Sie gewinnen dem Roman eine neue Dimension ab. Man erfährt hörend, wie die Figuren ihr Leben gegen den Zugriff der Geschichte, der „Gewalthaber” Hitler und Stalin behaupten müssen: Manche fallen dabei ins Gemeine, in Verrat oder Mitläufertum, andere wandeln sich zu Helden, die meisten schwanken zwischen Größe und Kleinheit. JENS BISKY
WASSILI GROSSMAN: Leben und Schicksal. Hörspielbearbeitung: Helmut Peschina. Regie: Norbert Schaeffer. Mit Jürgen Hentsch, Dietmar Mues, Astrid Meyerfeldt, Margarita Lounis u.v.a. Der Hörverlag, München 2009. 4 CDs, 327 Minuten, 29,95 Euro.
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Frühling im Krieg
Grossmans Stalingrad-Roman „Leben und Schicksal”
Im Oktober 1960 legte der sowjetische Schriftsteller Wassili Grossman der Redaktion der Zeitschrift Snamja ein Manuskript seines Romans „Leben und Schicksal” vor. Zehn Jahre hatte er daran gearbeitet, hatte auf mehr als tausend Seiten die Sowjetunion im Kriege geschildert, so wie er es als Frontberichterstatter erlebt hatte. Die Handlung spielt in den Jahren 1942/43. Im Mittelpunkt stehen der Kampf um Stalingrad und die Ermordung der sowjetischen Juden. Deutsche Vernichtungslager und die Hölle des Gulag werden gleichermaßen geschildert.
Kaum hatte der Chefredakteur von Snamja begriffen, was er da in der Hand hielt, brachte er das Manuskript ins Zentralkomitee. Im Februar 1961 kamen KGB-Mitarbeiter zu Grossman, präsentierten einen Hausdurchsuchungsbefehl und beschlagnahmten Reinschrift, Urmanuskript sowie sämtliche Entwürfe zu „Leben und Schicksal”. Der Roman wurde verhaftet. Zwei Jahre zuvor hatte Boris Pasternak für seinen „Doktor Schiwago” den Literaturnobelpreis erhalten. Dergleichen sollte sich nicht wiederholen.
Der aufmerksame Soldat
Grossman bat 1962 in einem Brief an Chruschtschow um Freiheit für sein Buch. Vergeblich. „Leben und Schicksal” konnte in seiner Heimat nicht erscheinen. Kurz bevor er 1964 an Krebs starb, meinte Grossman, man habe ihn im Torweg erwürgt, still, jedes Aufsehen vermeidend, um die Ecke gebracht.
Freunden und Dissidenten mit guten Kontakten ist es zu verdanken, dass eine gerettete Abschrift des Romans in den Westen gelangte. 1980 erschien die russische Originalausgabe in der Schweiz. 2007 wurden die deutschen Leser mit einer überarbeiteten und ergänzten Ausgabe überrascht und verstanden nun erst Bedeutung und Größe dieses Romans. Er erzählt vor allem vom zaghaften Frühling der Freiheit mitten im Krieg, als nicht mehr eingebildete Faschisten und „Volksfeinde” gejagt, sondern wirkliche Feinde und Okkupanten bekriegt wurden. Ebenso eindringlich erzählt Grossman, wie der totalitäre Staat nach den kurzen Monaten der verhaltenen Entstalinisierung wieder zur gewohnten Unterdrückung zurückkehrt.
Dieses figurenreiche Panorama, das Nebeneinander von Dialog und langen, fast essayistischen Passagen in ein Hörspiel zu verwandeln, musste für unmöglich gelten, bis Helmut Peschina und Norbert Schaeffer es taten. Es ist verblüffend gut gelungen, obwohl die Geräuschkulisse zunächst übertrieben wirklichkeitsnah anmutet: Da pfeift der Wind, da rattern die Züge, da donnern Geschütze. Präzision und Wirklichkeitsfülle der Beobachtungen Grossmans beruhen auf der ungeheuer geschärften Aufmerksamkeit des Frontsoldaten, der nur dank verlässlicher Sinne überleben kann. Die aufwendigen Klanginszenierungen setzen das in Szene. Der Erzähler – Jürgen Hentsch mit unglaublich sonorer Stimme – beschränkt sich meist auf knappe Informationen über Schauplatz und Handelnde. Vorangetrieben wird die Handlung durch die vielen, meist kurzen Gespräche.
Mehr als 50 Namen stehen im Personenverzeichnis, und dass man beim Hören dennoch den Überblick nicht verliert, spricht für die Sorgfalt der Sprecher. Sie gewinnen dem Roman eine neue Dimension ab. Man erfährt hörend, wie die Figuren ihr Leben gegen den Zugriff der Geschichte, der „Gewalthaber” Hitler und Stalin behaupten müssen: Manche fallen dabei ins Gemeine, in Verrat oder Mitläufertum, andere wandeln sich zu Helden, die meisten schwanken zwischen Größe und Kleinheit. JENS BISKY
WASSILI GROSSMAN: Leben und Schicksal. Hörspielbearbeitung: Helmut Peschina. Regie: Norbert Schaeffer. Mit Jürgen Hentsch, Dietmar Mues, Astrid Meyerfeldt, Margarita Lounis u.v.a. Der Hörverlag, München 2009. 4 CDs, 327 Minuten, 29,95 Euro.
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