Der mit den Rehen lebt
Schon als Teenager sind ihm die Tiere näher als die Menschen. Am liebsten streift Geoffroy Delorme in den Wäldern hinter seinem Elternhaus in der Normandie umher. Als er eines Tages auf einen neugierigen Rehbock trifft, der schnell Vertrauen zu ihm fasst, schließt er sich ihm an.
In den folgenden Jahren kehrt Delorme immer seltener und schließlich gar nicht mehr in die Zivilisation zurück. Ohne Decke und Zelt lebt er bei den Rehen. Er orientiert sich an ihrem Schlafrhythmus und lernt, wie man ein Revier anlegt und nährstoffreiche Pflanzen findet. Wie man sich nachts warm hält und im Wechsel der Jahreszeiten überlebt. Dabei wird er Zeuge, wie Kitze geboren werden, aber auch, wie Jäger die Tiere abrupt aus dem Leben reißen.
»Atemberaubend, bescheiden und gefühlvoll« Arte
In dem tief bewegenden Bestseller aus Frankreich erzählt der junge Autor zärtlich und voller Demut davon, wie er sich auf der Suche nach einem erfüllten Leben von der menschlichen Gesellschaft abwendet. Von der Kompromisslosigkeit und zugleich heilenden Kraft der Natur. Und von der faszinierenden, uns oftmals verborgenen Welt der Waldbewohner.
Die einzigartige Geschichte eines jungen Mannes auf der Suche nach einem erfüllten Leben
Mit seltenen Einblicken in das Leben der Rehe und anderer WaldbewohnerÜber den Wald als Kraft- und Rückzugsort
Schon als Teenager sind ihm die Tiere näher als die Menschen. Am liebsten streift Geoffroy Delorme in den Wäldern hinter seinem Elternhaus in der Normandie umher. Als er eines Tages auf einen neugierigen Rehbock trifft, der schnell Vertrauen zu ihm fasst, schließt er sich ihm an.
In den folgenden Jahren kehrt Delorme immer seltener und schließlich gar nicht mehr in die Zivilisation zurück. Ohne Decke und Zelt lebt er bei den Rehen. Er orientiert sich an ihrem Schlafrhythmus und lernt, wie man ein Revier anlegt und nährstoffreiche Pflanzen findet. Wie man sich nachts warm hält und im Wechsel der Jahreszeiten überlebt. Dabei wird er Zeuge, wie Kitze geboren werden, aber auch, wie Jäger die Tiere abrupt aus dem Leben reißen.
»Atemberaubend, bescheiden und gefühlvoll« Arte
In dem tief bewegenden Bestseller aus Frankreich erzählt der junge Autor zärtlich und voller Demut davon, wie er sich auf der Suche nach einem erfüllten Leben von der menschlichen Gesellschaft abwendet. Von der Kompromisslosigkeit und zugleich heilenden Kraft der Natur. Und von der faszinierenden, uns oftmals verborgenen Welt der Waldbewohner.
Die einzigartige Geschichte eines jungen Mannes auf der Suche nach einem erfüllten Leben
Mit seltenen Einblicken in das Leben der Rehe und anderer WaldbewohnerÜber den Wald als Kraft- und Rückzugsort
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.05.2022Ruf des
Waldes
Mowgli und seine Erben: Was fasziniert
so sehr daran, wenn Menschen
mit wilden Tieren leben?
Der Franzose Geoffroy Delorme erzählt
nun von seinem Leben unter Rehen
TEXT: CHRISTIAN WEBER; FOTOS: GEOFFROY DELORME
Sein erstes Reh hieß Daguet, doch diesen Namen kannte Geoffroy Delorme, damals 19 Jahre alt, natürlich noch nicht. Rehe stellen sich nicht vor, sie misstrauen den Menschen. Sie rennen meist einfach weg und sagen noch nicht mal Auf Wiedersehen. Doch irgendetwas musste Daguet neugierig auf Delorme gemacht haben; vielleicht hatte er schon gelegentlich den schmächtigen Jüngling in der Dämmerung durch den Bord-Louviers streifen sehen, einen 4500 Hektar großen Wald in der Normandie, anderthalb Stunden von Paris entfernt. Delorme sammelt dort regelmäßig Blätter und Beeren, so wie die Rehe auch. Und offensichtlich schultert er kein Gewehr, so wie andere Menschen, wirklich gefährliche Menschen.
So kam es zu dieser Begegnung, die fortan Delormes Leben bestimmen sollte. Daguet lief ihm an diesem Abend einfach über den Weg – und rannte nicht weg: „Ganz langsam gehe ich in die Hocke“, erinnert sich Delorme. „Ich bin fasziniert von seinen großen, schwarz glänzenden Augen. Er hebt den Kopf und richtet die Ohren in meine Richtung aus. Die weißen Haare an seinem Hinterteil sind gesträubt. Wir starren uns ein paar Minuten an, die mir wie Stunden vorkommen. Er schaut zur Seite, wie um mich zu ermuntern, den Wald zusammen mit ihm zu entdecken.“
Die Verführung gelingt. „Ich habe den Ruf des Waldes vernommen“, schreibt Delorme in Erinnerung an dieses Erlebnis. „Für mich ist nun die Zeit gekommen, die Welt der Menschen zu verlassen und unter den Rehen zu leben, um sie besser zu verstehen.“
Es folgt ein sieben Jahre dauernder Ausflug, in dem sich Delorme zunehmend von der menschlichen Gesellschaft abkoppelt und angeblich weitgehend autark im Wald lebt. Sein Buch über diese Zeit ist in Frankreich im vergangenen Jahr ein Bestseller mit vielen Zehntausend Exemplaren Auflage geworden, gerade ist es in Deutschland erschienen („Leben unter Rehen“, Malik, 244 Seiten, 22 Euro).
Es ist leicht, dieses Buch anzugreifen: Wildbiologen können die hartnäckige Vermenschlichung der wilden Tiere kritisieren, Ökologen die Verharmlosung der Schäden durch den Verbiss, bekanntlich nagen Rehe gerne an jungen Trieben. Literaturkritiker den hemmungslosen Kitsch vieler Passagen. Die ersten französischen Journalisten witterten zudem Flunkerei: Wieso gibt es eigentlich so wenige Fotos aus dieser langen Zeit von dem angeblichen Tierfotografen? Fotografen argwöhnen, das Coverfoto des Buches sei mit freundlicher Hilfe von Photoshop entstanden. Auf dem Bild legt der Autor etwas ungelenk seinen Arm auf die Schultern seines ersten Rehs Daguet, aufgenommen angeblich mit Stativ und Selbstauslöser.
Auch Delorme selber relativiert in einem Interview in der französischen Presse die Klappentext-Aussage seines Verlages, er habe wirklich sieben Jahre ausschließlich im Wald gewohnt: „Ich habe ein Jahr lang selbständig im Wald gelebt, bin aber sieben Jahre eingetaucht.“
Faktenbericht also oder zurechtlektorierte Doku-Fiction? So ganz genau lässt es sich nicht herausfinden. Und vielleicht ist auch etwas ganz anderes an Delormes Werk interessant: Was fasziniert Menschen eigentlich so daran, wenn sich andere Menschen Wesen anschließen, die nicht reden können und häufig auf vier Beinen laufen, im Wasser leben oder durch die Luft fliegen?
So werden die Geschichten von Mowgli aus dem indischen Dschungel und Tarzan aus Afrika immer wieder verfilmt. Millionen verdiente das vermeintliche Holocaustopfer Misha Defonseca mit ihrer Lügengeschichte „Überleben unter Wölfen“, wonach sie als Kind angeblich nur mit der Hilfe von Wölfen im Wald überlebt habe.
Unstrittig hingegen ist die Geschichte der Ex-Sekretärin Jane Goodall, die in der Gesellschaft von Schimpansen in Tansania bahnbrechende Entdeckungen zum Sozialverhalten nichtmenschlicher Primaten machte und, unerhört damals in der Wissenschaft, den Tieren Rufnamen gab. Tragisch ist das Schicksal des früheren Drogenfreundes und späteren Tierschützers und -filmers Timothy Treadwell und seiner Freundin Amie Huguenard, die fahrlässigerweise annahmen, man könne gut Freund mit Grizzlys sein: Sie wurden im Oktober 2003 im Katmai-Nationalpark in Alaska von einem Braunbären getötet und gefressen; Werner Herzog hat darüber den Dokumentarfilm „Grizzly Man“ gedreht.
Das ist denn auch die eigentliche Frage: Können wilde Tiere tatsächlich den Kontakt mit Menschen ersetzen, wie auch Delorme auf vielen Seiten suggeriert? Klar ist, dass die Hinwendung zu den Tieren häufig auch eine Flucht vor den Menschen ist; das gilt ja nicht nur für Grizzlys und Rehe, sondern manchmal schon bei Katzen und Hunden.
Auch Geoffrey Delorme hatte eigentlich schon im Alter von sechs Jahren mit den Menschen abgeschlossen. Nach einem traumatischen Erlebnis beim Schwimmunterricht (die Lehrerin hatte den Nichtschwimmer ins Becken gestoßen, er fürchtete zu ertrinken), wechselte der erst Sechsjährige in den Heimunterricht, Freunde hatte er nach eigenem Bekunden nie gehabt, nie fuhr er in den Sommerurlaub, Familie und Eltern tauchen in seinen Erinnerungen nur in einem Halbsatz auf. Als er die Einladung zur Abiturprüfung erhält, wirft er die Papiere in ein Maisfeld.
Was für eine Erleichterung.
Auf den für ihn richtigen Weg brachte ihn, da war er zehn Jahre alt, ein Fuchs, der regelmäßig im Garten seines Elternhauses übernachtete. Ein wenig erinnert die Geschichte an „Alice im Wunderland“, den Kinderbuchklassiker, in dem die Heldin eines Tages dem weißen Kaninchen folgt, um dann eine Wunderwelt zu entdecken. „An einem Winterabend folgte ich ihm schließlich auf seinem Weg zurück über die Felder“, schreibt er. „Nun ist es an der Zeit, den Sprung ins Unbekannte zu wagen. Hundert Meter weiter zeigte mir der junge Reineke Fuchs den Zugang zu seinem Bau. Ich habe mich noch nie so weit von meinem Zimmer entfernt.“
Und so wagt sich der junge Delorme zum ersten Mal richtig hinein in den Wald von Bord-Louviers in der Normandie, so aufregend, so geheimnisvoll, jede Nacht etwas weiter. „Und eines Nachts stehe ich auf einmal Auge in Auge einem Hirsch gegenüber“, berichtet er. „Dieser massige Körper kaum zehn Meter von mir entfernt, der Boden, der unter jedem seiner Schritte erbebt, ich fühle mich von der Kraft überwältigt.“ Ein Erweckungserlebnis, der Hirsch habe ihm die schönste Lektion seines noch kurzen Lebens erteilt: „Tiere wollen mir nichts Böses.“
Doch die wirkliche Kehrtwendung brachte dann Jahre später die Begegnung mit Daguet, dessen Name Geoffroy Delorme natürlich selber vergeben hat, er steht im Französischen für „Spießer“, einen jungen Rehbock, dessen Gehörn noch keine Gabelung aufweist. Langsam und vorsichtig muss Delorme die Scheuheit der Rehe überwinden, über Monate, wenn nicht sogar Jahre hinweg.
Dabei hilft ihm Daguet, der sich beständig aus irgendeinem Interesse in seiner Nähe hält. Könnten Rehe einfach nur neugierig sein? Jedenfalls ist es hier in dem französischen Wald nicht der Mensch, der ein Tier zähmt, schreibt Delorme, sondern er erlebe „ein Wildtier, das versucht, mich zu zähmen“.
Dabei kämpft Delorme erstmals um das eigene Überleben, was gar nicht so einfach ist. Anfangs plündert er gelegentlich noch bei kurzen nächtlichen Besuchen den elterlichen Kühlschrank, kauft manchmal Raviolidosen in den dem Wald nahe liegenden Geschäften. Doch die Eltern tauschen irgendwann die Schlösser des Hauses aus, die Dosen werden regelmäßig von Wildschweinen aufgespürt, die sie mit ihren scharfen Hauern öffnen und dann leeren. Über die Monate und Jahre schafft es Delorme deshalb, völlig autark zu leben, er lernt von den Rehen. Blätter von Brombeeren, Birken, Hainbuchen; Esskastanien, Bucheckern, Eicheln, Wegerich, Löwenzahn, das kleinblütige Weidenröschen und Ampferarten. Und her mit den Wassermelonen, Zucchini und Tomaten, die Jäger auslegen, um Wildschweine anzufüttern!
Um den Durst zu stillen, nutzt er, so wie die Rehe, den morgendlichen Tau der Blätter, Regenwasser, das sich in Baumhöhlen sammelt, Sekret aus Birkenstämmen, gelegentlich lässt sich eine freundliche Kuh auf einer dem Wald angrenzenden Weide melken. Zur Hygiene verweist Delorme darauf, dass seine Hosen von alleine stehen können, Waschen würde das Geruchsempfinden der Rehe verwirren. Über Klopapier berichtet er nicht. Am schlimmsten sei die winterliche Kälte: mehrere Schichten Wollpullover, Tannenzweige unter dem Schlaflager helfen. Aus der menschlichen Zivilisation braucht er irgendwann nur noch luftdichte Beutel, um Nahrung zu bewahren, Streichhölzer, eine kleine Pfanne, einen Topf, ein Survivalmesser, ein Solarzellengerät für die Kamera. Delorme zeigt: Es ist tatsächlich möglich, man kann in einem mittelprächtigen Wald in Europa überleben. Doch warum sollte man das tun, wenn es beheizte Dreizimmerwohnungen und Supermärkte gibt?
Geoffroy Delorme findet unter den Rehen die Sozialkontakte, die in seinem früheren Leben fehlten. Er nennt sie alle seine Freunde: Daguet, Fougère, Prunelle, Magalie, Chévy, Étoile. Langsam kommt er ihnen näher. Er erlebt die Geburt von Kitzen, hilft – so seine Geschichte – irgendwann sogar als Babysitter aus, während die Mutter nach Nahrung sucht. Er begleitet Étoile in den Tod, als sie von Jägern angeschossen wird, und begräbt sie. „Ach, verzeih mir, Étoile, ich habe dich nicht beschützen können. Ich war nicht stark genug. Verzeih mir.“ Alle Dramen des Lebens eben.
An einer anderen Stelle berichtet Delorme, wie es zum ersten Mal zum engen Kontakt mit Daguet kommt. „Zu meiner Überraschung kommt er ganz nah, schmiegt sich an mich und sieht mich zufrieden und voller Vertrauen an. Ich spüre seinen warmen Körper an meinem Bein. Er rollt sich zusammen, indem er seinen Kopf unter sein Knie legt, und ruht sich aus.“ Und ja, wenig später streichelt und liebkost Delorme sein Lieblingsreh. „Es scheint ihm zu gefallen.“ Das klingt schon fast zu kitschig, um wahr zu sein.
Man kann ihm glauben oder nicht. Aber gehen andere Menschen mit ihren Hunden oder Katzen denn so viel anders um? Es wäre zumindest eine überraschende Einsicht, dass sich auch wirklich wilde Tiere dermaßen an Menschen annähern können. Ein vielleicht interessantes Thema für Verhaltensbiologen, die sich normalerweise aber eher für unkontaktiertes Tierleben interessieren.
Irgendwie freut man sich dann aber doch, dass Geoffrey Delorme den Ausstieg aus seinem Wald schafft. Wieder so eine schicksalhafte Begegnung auf einem Pfad. Er trifft auf eine Spaziergängerin, mit der er sich freundlich unterhält und deren Geruch er nicht mehr vergessen kann. „In dem Moment ist mir klar, dass ich bei meinem Abenteuer von nun an nicht mehr allein sein werde“, schreibt Delorme am Ende seines Buches. „Am 31. Dezember stelle ich ihr Magalie, Prunelle, Espoir und Mef schließlich vor.“
Ein Tierfilmer nahm an, man
könne gut Freund mit Grizzlys
werden. Ein tragischer Irrtum
Der Hirsch erteilte ihm die
schönste Lektion seines Lebens:
„Tiere wollen mir nichts Böses.“
Wieder so eine schicksalhafte
Begegnung. Er konnte den
Geruch der Frau nicht vergessen
Die industrielle
Holzwirtschaft vertreibt die Rehe aus ihren Revieren. Umso mehr nähern sie sich den Menschen.
Die nächtliche Begegnung mit einem Hirsch rührte den Autor zutiefst an. Damals
wurde ihm klar: „Tiere
wollen mir nichts Böses.“
Delorme begegnete vielen Tieren bei nächtlichen
Streifzügen, Eichhörnchen,
Wildschweinen, gelegentlich
einem Fasan.
Geoffroy allein im Wald: Seit seinem zehnten Lebensjahr erkundete er die
heimische Wildnis.
Foto: Grimbert/Lucas/ AFP
Die von Geoffroy Delorme Chévie und Fougère
getauften Rehe sind nett zueinander. Auch Tiere
schließen Freundschaften.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Waldes
Mowgli und seine Erben: Was fasziniert
so sehr daran, wenn Menschen
mit wilden Tieren leben?
Der Franzose Geoffroy Delorme erzählt
nun von seinem Leben unter Rehen
TEXT: CHRISTIAN WEBER; FOTOS: GEOFFROY DELORME
Sein erstes Reh hieß Daguet, doch diesen Namen kannte Geoffroy Delorme, damals 19 Jahre alt, natürlich noch nicht. Rehe stellen sich nicht vor, sie misstrauen den Menschen. Sie rennen meist einfach weg und sagen noch nicht mal Auf Wiedersehen. Doch irgendetwas musste Daguet neugierig auf Delorme gemacht haben; vielleicht hatte er schon gelegentlich den schmächtigen Jüngling in der Dämmerung durch den Bord-Louviers streifen sehen, einen 4500 Hektar großen Wald in der Normandie, anderthalb Stunden von Paris entfernt. Delorme sammelt dort regelmäßig Blätter und Beeren, so wie die Rehe auch. Und offensichtlich schultert er kein Gewehr, so wie andere Menschen, wirklich gefährliche Menschen.
So kam es zu dieser Begegnung, die fortan Delormes Leben bestimmen sollte. Daguet lief ihm an diesem Abend einfach über den Weg – und rannte nicht weg: „Ganz langsam gehe ich in die Hocke“, erinnert sich Delorme. „Ich bin fasziniert von seinen großen, schwarz glänzenden Augen. Er hebt den Kopf und richtet die Ohren in meine Richtung aus. Die weißen Haare an seinem Hinterteil sind gesträubt. Wir starren uns ein paar Minuten an, die mir wie Stunden vorkommen. Er schaut zur Seite, wie um mich zu ermuntern, den Wald zusammen mit ihm zu entdecken.“
Die Verführung gelingt. „Ich habe den Ruf des Waldes vernommen“, schreibt Delorme in Erinnerung an dieses Erlebnis. „Für mich ist nun die Zeit gekommen, die Welt der Menschen zu verlassen und unter den Rehen zu leben, um sie besser zu verstehen.“
Es folgt ein sieben Jahre dauernder Ausflug, in dem sich Delorme zunehmend von der menschlichen Gesellschaft abkoppelt und angeblich weitgehend autark im Wald lebt. Sein Buch über diese Zeit ist in Frankreich im vergangenen Jahr ein Bestseller mit vielen Zehntausend Exemplaren Auflage geworden, gerade ist es in Deutschland erschienen („Leben unter Rehen“, Malik, 244 Seiten, 22 Euro).
Es ist leicht, dieses Buch anzugreifen: Wildbiologen können die hartnäckige Vermenschlichung der wilden Tiere kritisieren, Ökologen die Verharmlosung der Schäden durch den Verbiss, bekanntlich nagen Rehe gerne an jungen Trieben. Literaturkritiker den hemmungslosen Kitsch vieler Passagen. Die ersten französischen Journalisten witterten zudem Flunkerei: Wieso gibt es eigentlich so wenige Fotos aus dieser langen Zeit von dem angeblichen Tierfotografen? Fotografen argwöhnen, das Coverfoto des Buches sei mit freundlicher Hilfe von Photoshop entstanden. Auf dem Bild legt der Autor etwas ungelenk seinen Arm auf die Schultern seines ersten Rehs Daguet, aufgenommen angeblich mit Stativ und Selbstauslöser.
Auch Delorme selber relativiert in einem Interview in der französischen Presse die Klappentext-Aussage seines Verlages, er habe wirklich sieben Jahre ausschließlich im Wald gewohnt: „Ich habe ein Jahr lang selbständig im Wald gelebt, bin aber sieben Jahre eingetaucht.“
Faktenbericht also oder zurechtlektorierte Doku-Fiction? So ganz genau lässt es sich nicht herausfinden. Und vielleicht ist auch etwas ganz anderes an Delormes Werk interessant: Was fasziniert Menschen eigentlich so daran, wenn sich andere Menschen Wesen anschließen, die nicht reden können und häufig auf vier Beinen laufen, im Wasser leben oder durch die Luft fliegen?
So werden die Geschichten von Mowgli aus dem indischen Dschungel und Tarzan aus Afrika immer wieder verfilmt. Millionen verdiente das vermeintliche Holocaustopfer Misha Defonseca mit ihrer Lügengeschichte „Überleben unter Wölfen“, wonach sie als Kind angeblich nur mit der Hilfe von Wölfen im Wald überlebt habe.
Unstrittig hingegen ist die Geschichte der Ex-Sekretärin Jane Goodall, die in der Gesellschaft von Schimpansen in Tansania bahnbrechende Entdeckungen zum Sozialverhalten nichtmenschlicher Primaten machte und, unerhört damals in der Wissenschaft, den Tieren Rufnamen gab. Tragisch ist das Schicksal des früheren Drogenfreundes und späteren Tierschützers und -filmers Timothy Treadwell und seiner Freundin Amie Huguenard, die fahrlässigerweise annahmen, man könne gut Freund mit Grizzlys sein: Sie wurden im Oktober 2003 im Katmai-Nationalpark in Alaska von einem Braunbären getötet und gefressen; Werner Herzog hat darüber den Dokumentarfilm „Grizzly Man“ gedreht.
Das ist denn auch die eigentliche Frage: Können wilde Tiere tatsächlich den Kontakt mit Menschen ersetzen, wie auch Delorme auf vielen Seiten suggeriert? Klar ist, dass die Hinwendung zu den Tieren häufig auch eine Flucht vor den Menschen ist; das gilt ja nicht nur für Grizzlys und Rehe, sondern manchmal schon bei Katzen und Hunden.
Auch Geoffrey Delorme hatte eigentlich schon im Alter von sechs Jahren mit den Menschen abgeschlossen. Nach einem traumatischen Erlebnis beim Schwimmunterricht (die Lehrerin hatte den Nichtschwimmer ins Becken gestoßen, er fürchtete zu ertrinken), wechselte der erst Sechsjährige in den Heimunterricht, Freunde hatte er nach eigenem Bekunden nie gehabt, nie fuhr er in den Sommerurlaub, Familie und Eltern tauchen in seinen Erinnerungen nur in einem Halbsatz auf. Als er die Einladung zur Abiturprüfung erhält, wirft er die Papiere in ein Maisfeld.
Was für eine Erleichterung.
Auf den für ihn richtigen Weg brachte ihn, da war er zehn Jahre alt, ein Fuchs, der regelmäßig im Garten seines Elternhauses übernachtete. Ein wenig erinnert die Geschichte an „Alice im Wunderland“, den Kinderbuchklassiker, in dem die Heldin eines Tages dem weißen Kaninchen folgt, um dann eine Wunderwelt zu entdecken. „An einem Winterabend folgte ich ihm schließlich auf seinem Weg zurück über die Felder“, schreibt er. „Nun ist es an der Zeit, den Sprung ins Unbekannte zu wagen. Hundert Meter weiter zeigte mir der junge Reineke Fuchs den Zugang zu seinem Bau. Ich habe mich noch nie so weit von meinem Zimmer entfernt.“
Und so wagt sich der junge Delorme zum ersten Mal richtig hinein in den Wald von Bord-Louviers in der Normandie, so aufregend, so geheimnisvoll, jede Nacht etwas weiter. „Und eines Nachts stehe ich auf einmal Auge in Auge einem Hirsch gegenüber“, berichtet er. „Dieser massige Körper kaum zehn Meter von mir entfernt, der Boden, der unter jedem seiner Schritte erbebt, ich fühle mich von der Kraft überwältigt.“ Ein Erweckungserlebnis, der Hirsch habe ihm die schönste Lektion seines noch kurzen Lebens erteilt: „Tiere wollen mir nichts Böses.“
Doch die wirkliche Kehrtwendung brachte dann Jahre später die Begegnung mit Daguet, dessen Name Geoffroy Delorme natürlich selber vergeben hat, er steht im Französischen für „Spießer“, einen jungen Rehbock, dessen Gehörn noch keine Gabelung aufweist. Langsam und vorsichtig muss Delorme die Scheuheit der Rehe überwinden, über Monate, wenn nicht sogar Jahre hinweg.
Dabei hilft ihm Daguet, der sich beständig aus irgendeinem Interesse in seiner Nähe hält. Könnten Rehe einfach nur neugierig sein? Jedenfalls ist es hier in dem französischen Wald nicht der Mensch, der ein Tier zähmt, schreibt Delorme, sondern er erlebe „ein Wildtier, das versucht, mich zu zähmen“.
Dabei kämpft Delorme erstmals um das eigene Überleben, was gar nicht so einfach ist. Anfangs plündert er gelegentlich noch bei kurzen nächtlichen Besuchen den elterlichen Kühlschrank, kauft manchmal Raviolidosen in den dem Wald nahe liegenden Geschäften. Doch die Eltern tauschen irgendwann die Schlösser des Hauses aus, die Dosen werden regelmäßig von Wildschweinen aufgespürt, die sie mit ihren scharfen Hauern öffnen und dann leeren. Über die Monate und Jahre schafft es Delorme deshalb, völlig autark zu leben, er lernt von den Rehen. Blätter von Brombeeren, Birken, Hainbuchen; Esskastanien, Bucheckern, Eicheln, Wegerich, Löwenzahn, das kleinblütige Weidenröschen und Ampferarten. Und her mit den Wassermelonen, Zucchini und Tomaten, die Jäger auslegen, um Wildschweine anzufüttern!
Um den Durst zu stillen, nutzt er, so wie die Rehe, den morgendlichen Tau der Blätter, Regenwasser, das sich in Baumhöhlen sammelt, Sekret aus Birkenstämmen, gelegentlich lässt sich eine freundliche Kuh auf einer dem Wald angrenzenden Weide melken. Zur Hygiene verweist Delorme darauf, dass seine Hosen von alleine stehen können, Waschen würde das Geruchsempfinden der Rehe verwirren. Über Klopapier berichtet er nicht. Am schlimmsten sei die winterliche Kälte: mehrere Schichten Wollpullover, Tannenzweige unter dem Schlaflager helfen. Aus der menschlichen Zivilisation braucht er irgendwann nur noch luftdichte Beutel, um Nahrung zu bewahren, Streichhölzer, eine kleine Pfanne, einen Topf, ein Survivalmesser, ein Solarzellengerät für die Kamera. Delorme zeigt: Es ist tatsächlich möglich, man kann in einem mittelprächtigen Wald in Europa überleben. Doch warum sollte man das tun, wenn es beheizte Dreizimmerwohnungen und Supermärkte gibt?
Geoffroy Delorme findet unter den Rehen die Sozialkontakte, die in seinem früheren Leben fehlten. Er nennt sie alle seine Freunde: Daguet, Fougère, Prunelle, Magalie, Chévy, Étoile. Langsam kommt er ihnen näher. Er erlebt die Geburt von Kitzen, hilft – so seine Geschichte – irgendwann sogar als Babysitter aus, während die Mutter nach Nahrung sucht. Er begleitet Étoile in den Tod, als sie von Jägern angeschossen wird, und begräbt sie. „Ach, verzeih mir, Étoile, ich habe dich nicht beschützen können. Ich war nicht stark genug. Verzeih mir.“ Alle Dramen des Lebens eben.
An einer anderen Stelle berichtet Delorme, wie es zum ersten Mal zum engen Kontakt mit Daguet kommt. „Zu meiner Überraschung kommt er ganz nah, schmiegt sich an mich und sieht mich zufrieden und voller Vertrauen an. Ich spüre seinen warmen Körper an meinem Bein. Er rollt sich zusammen, indem er seinen Kopf unter sein Knie legt, und ruht sich aus.“ Und ja, wenig später streichelt und liebkost Delorme sein Lieblingsreh. „Es scheint ihm zu gefallen.“ Das klingt schon fast zu kitschig, um wahr zu sein.
Man kann ihm glauben oder nicht. Aber gehen andere Menschen mit ihren Hunden oder Katzen denn so viel anders um? Es wäre zumindest eine überraschende Einsicht, dass sich auch wirklich wilde Tiere dermaßen an Menschen annähern können. Ein vielleicht interessantes Thema für Verhaltensbiologen, die sich normalerweise aber eher für unkontaktiertes Tierleben interessieren.
Irgendwie freut man sich dann aber doch, dass Geoffrey Delorme den Ausstieg aus seinem Wald schafft. Wieder so eine schicksalhafte Begegnung auf einem Pfad. Er trifft auf eine Spaziergängerin, mit der er sich freundlich unterhält und deren Geruch er nicht mehr vergessen kann. „In dem Moment ist mir klar, dass ich bei meinem Abenteuer von nun an nicht mehr allein sein werde“, schreibt Delorme am Ende seines Buches. „Am 31. Dezember stelle ich ihr Magalie, Prunelle, Espoir und Mef schließlich vor.“
Ein Tierfilmer nahm an, man
könne gut Freund mit Grizzlys
werden. Ein tragischer Irrtum
Der Hirsch erteilte ihm die
schönste Lektion seines Lebens:
„Tiere wollen mir nichts Böses.“
Wieder so eine schicksalhafte
Begegnung. Er konnte den
Geruch der Frau nicht vergessen
Die industrielle
Holzwirtschaft vertreibt die Rehe aus ihren Revieren. Umso mehr nähern sie sich den Menschen.
Die nächtliche Begegnung mit einem Hirsch rührte den Autor zutiefst an. Damals
wurde ihm klar: „Tiere
wollen mir nichts Böses.“
Delorme begegnete vielen Tieren bei nächtlichen
Streifzügen, Eichhörnchen,
Wildschweinen, gelegentlich
einem Fasan.
Geoffroy allein im Wald: Seit seinem zehnten Lebensjahr erkundete er die
heimische Wildnis.
Foto: Grimbert/Lucas/ AFP
Die von Geoffroy Delorme Chévie und Fougère
getauften Rehe sind nett zueinander. Auch Tiere
schließen Freundschaften.
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»Es mag schon viele Bücher über den Wald und seine Bewohner gegeben haben, ein solches - zugleich lehrreich und amüsant, spannend und berührend - dürften Sie indes noch nicht gelesen haben.« tam.tam. Das Stadtmagazin 20220901