Produktdetails
- dtv Taschenbücher Bd.11877
- Verlag: DTV
- 1994
- Deutsch
- Abmessung: 15mm x 119mm x 191mm
- Gewicht: 237g
- ISBN-13: 9783423118774
- ISBN-10: 3423118776
- Artikelnr.: 05227518
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2001Tagebücher als Rohstoff für ein gedichtetes Leben
Besuch bei Fred Wander: Der Witwer der Autorin Maxie Wander kämpft gegen eine Biographie, die das gemeinsame Leben zum Trivialroman macht / Von Jörg Magenau
Das Gedächtnis ist das Zentralorgan der Seele. Es wälzt pausenlos Erinnerungen um, so wie das Herz Blut durch den Körper pumpt. Ohne Erinnerung und Vorstellungskraft wäre der Mensch kein Mensch. Ohne Geschichte hätte er nichts zu erzählen, und wer nichts zu erzählen hat, der hat auch nicht gelebt. So sieht es der Schriftsteller Fred Wander, der mit seinen vierundachtzig Jahren auf eine mehr als erlebnisreiche Vergangenheit zurückblicken kann. Sein Alter ist ihm nicht anzumerken. Freundlich und neugierig empfängt er den Gast in seiner Wiener Wohnung. Doch bevor er sich befragen läßt, stellt er selbst seine Fragen. Kaffee und Kekse stehen auf dem Couchtischchen bereit. Bitte sehr, nehmen Sie Platz. Eine Schrankwand, ein Bücherregal, draußen auf dem Balkon blühende Blumen und lautstarkes Vogelgezwitscher: Alles ist an seinem Ort. "Meine Frau Susanne hält hier Ordnung", sagt Fred Wander entschuldigend, als könne er sich nicht damit abfinden, irgendwo zu Hause zu sein. Seine Frau, mit der er 1983 aus der DDR nach Österreich zurückkehrte, sitzt neben ihm und ärgert sich: "Ach, Quatsch."
Weitererzählen heißt weiterleben. Vielleicht hat er aus diesem Grund nach dem Krebstod seiner zweiten Frau Maxie Wander Auszüge aus ihren Tagebüchern und Briefen veröffentlicht. Damals hatte er ein Bauernhaus in Mecklenburg gekauft, um sich zu verkriechen. Die Schriften Maxie Wanders breitete er flächendeckend auf Tischen und aufgebockten Türen aus. Einige der Tagebücher riß er auseinander, um die Texte in eine neue Ordnung zu bringen. "Er ging nicht sehr gut mit den Tagebüchern um", sagt seine Frau. Die Zusammenstellung dieser Manuskripte war seine Form der Trauerarbeit. Maxie Wanders "Leben wär' eine prima Alternative", Dokumente des Alltagslebens und des Sterbens einer Frau im Sozialismus, erschien 1979 im Osten und im Westen der geteilten Republik und wurde zu einem der größten Erfolge der DDR-Literatur.
Fred Wander, der die Deportation nach Auschwitz und Buchenwald überlebte, kennt auch die andere, zerstörerische Seite der Erinnerung, Bilder, die ihn ungeschützt überwältigen und ihn nachts immer noch aus dem Schlaf aufschrecken lassen. In seiner Autobiographie mit dem geradezu beschwörenden Titel "Das gute Leben" gab er darüber Auskunft und ging der entscheidenden Frage nach: Wie arbeitet das Gedächtnis? In seinem KZ-Roman "Der siebente Brunnen", 1971 in der DDR erschienen, hat er all denen, die um ihn herum erschlagen oder erhängt wurden, den verhungerten und erfrorenen Leidensgenossen, wenigstens das Gedächtnis gerettet. Er schrieb ihre Geschichten auf, erfand ihnen manchmal ein Leben dazu, aus dem sie herausgerissen worden waren, und ließ sie noch einmal zu Wort kommen. Indem er ihnen ihre Erinnerungen zurückgab, erhielten sie auch ihre Würde zurück. Jede dieser Erzählungen ist ein Requiem. Alles heroische Pathos ist ihnen fremd. Figuren wie den jungen Tadeusz Moll, der im Krematorium in Auschwitz arbeiten mußte, den Lagerarzt Karel, der dem Kampf um jedes einzelne Menschenleben auch unter den Extrembedingungen der "Vernichtung durch Arbeit" noch einen Sinn abgewinnt, oder den Geschichtenerzähler Mendel Teichmann vergißt kein Leser mehr.
Geboren wurde Fred Wander 1917 als Fritz Rosenblatt. Den neuen Namen legte er sich in den Jahren der Verfolgung zu. Fred klang irgendwie amerikanisch polyglott, und dem Nachnamen Wander war das Jüdische nicht so leicht abzuhorchen, auch wenn das Ahasverische damit zum Programm erhoben wurde. Mit diesem Namen wurde er seltener bespuckt als zuvor. Wovon er während der Emigration in Frankreich lebte, immer unterwegs, immer auf der Flucht, kann er heute nicht mehr sagen. Seine Erzählung "Ein Zimmer in Paris" und der 1942 in Marseille angesiedelte Roman "Hotel Baalbek", der sich mit Anna Seghers' "Transit" vergleichen läßt, verarbeiten Erinnerungen an die Jahre der Emigration. Er lernte, daß das Überleben nicht nur von Brot und Suppe abhängt, sondern auch von der Moral und vom Glauben an die Menschen. Den verlor er nicht, als ihn Schweizer Grenzer bei der Flucht über die Alpen festnahmen und ihn mit Handschellen ins französische Deportationslager zurückverfrachteten. Den ließ er sich auch im KZ nicht aus dem Leib prügeln.
Fred Wander bezeichnet sich als einen Vagabunden aus Erfahrung und Überzeugung. Daß er als Reiseschriftsteller begann, Bücher über Korsika, die Provence und Holland schrieb, ist die natürliche Folge dieses Bewegungsdrangs. Schon als Junge trieb er sich tagelang auf den Straßen Wiens herum. Wie hätte er, von klein auf geprügelt und schikaniert, nicht zum Außenseiter werden können? Er lief kreuz und quer durch die Stadt, ein Marathonläufer ohne Ziel und Zeitnahme. So kräftigte er sich und stählte die Lungen. Er ist fest davon überzeugt, daß er ohne dieses unbewußte Training die Jahre im KZ kaum überstanden hätte. Vielleicht auch nicht ohne den Koffer voller Bücher, den er auf dem Dachboden der Großeltern fand. Dostojewski, Turgenjew, Tschechow begründeten seine Leidenschaft für Literatur und lehrten ihn, daß auch das Erzählen eine Möglichkeit ist, um der Gegenwart zu entkommen. Laufen und Lesen also als Überlebensmittel: So verfestigt sich die Erinnerung zur Legende, die griffbereit herumsteht wie ein fertig gepackter Koffer.
Ein Dasein nach bürgerlichen Maßstäben, Karriere und Eigentum haben ihn nie interessiert. Jetzt aber kämpft er um seine und um Maxie Wanders Geschichte wie um einen Besitz und spricht von einem "Raubüberfall". Nein, schlimmer noch: "Einer, der dir ein Messer an die Brust setzt und Geld verlangt, ist ein ehrlicher Bursche dagegen." Aber kann man ein Leben stehlen? Wem gehören die Erinnerungen?
Die Journalistin Sabine Zurmühl hat eine Biographie über Maxie Wander geschrieben ("Das Leben, dieser Augenblick", Henschel Verlag). Das ist ein gewagtes Unterfangen, erzählt sie damit doch eine sehr private Geschichte, die mit Maxie Wanders authentischen Tagebüchern und auch mit Fred Wanders Autobiographie konkurrieren muß. Dagegen wäre sie hoffnungslos unterlegen, wenn sie sich nicht von vornherein für eine kritische Gegenlektüre entschieden hätte. Dekonstruktion eines Mythos - mit dieser durchaus trendgemäßen Formel läßt sich ihre Absicht beschreiben. Die Maxie Wander, die dabei entsteht, ist kaum als Heldin weiblicher Emanzipation zu gebrauchen. Sie ist weniger kämpferisch als depressiv und leidend, weniger Handelnde als ein Opfer der Umstände. Nicht die Autorin, die kurz vor ihrem Tod die Frauenporträts "Guten Morgen, du Schöne" veröffentlichte und damit in Ost und West berühmt wurde, steht im Mittelpunkt, sondern die überforderte Hausfrau und Mutter, die für ihren schreibenden Ehemann die Manuskripte abtippt und den Adoptivsohn verprügelt, wenn er mal wieder ins Bett gemacht hat. Es ist das tragische Leben einer Frau, die an ihrem Mann, an der DDR und an sich selbst zugrunde ging und die erst dann zu sich selbst fand, als es schon zu spät war.
Aber stimmt dieses Bild? Oder ist es nur eine neue, schlechtere Legende? Fred Wander erkennt sich und Maxie darin nicht wieder. Er bereut es, sein Einverständnis für die Biographie gegeben zu haben. Die Autorin habe nie mit ihm über seine Ehe gesprochen, was könne sie also davon wissen? Auch ihr Manuskript habe sie ihm nicht gezeigt, obwohl es so vereinbart gewesen sei. Er habe ihr vertraut - verfluchte Naivität.
Drei der zwanzig übriggebliebenen Tagebücher Maxies gaben die Wanders Sabine Zurmühl zur Einsicht. "Leider", sagt Fred Wander heute. In monomanischer Ausschließlichkeit geht es in diesen Dokumenten um die Kinder. Vielleicht erhielt dieses Thema deshalb in der Biographie eine so große Bedeutung. Nichts erfährt man dort jedoch von der liebevollen Gestaltung der Tagebücher. Maxie Wander hat immer wieder Kinderzeichnungen und andere Erinnerungsstücke eingeklebt, hat Gespräche mit den Kindern in allen Einzelheiten protokolliert, die Geschichten, die sie aus der Schule erzählen, festgehalten. Zu sehen sind auch spätere Anstriche und Randnotizen von ihrer eigenen Hand. Ihr Tagebuch war ihr eine operative Materialsammlung des eigenen Lebens, Rohstoff für die literarische Weiterverarbeitung und keineswegs ein Endprodukt. Im Nachwort erklärt Sabine Zurmühl, die in den Jahren des Sterbens und des Ruhms der Maxie Wander Redakteurin der Frauenzeitschrift "Courage" war, worum es ihr ging. Sie schreibt: "Die Biographie der Maxie Wander handelt davon, wie jemand versucht, glücklich zu werden. Und welche Stolpersteine der äußeren und inneren Art diesem Ziel entgegenstanden." Maxie Wanders Frage lautete ganz anders: Wie mache ich mein Leben produktiv und schöpferisch? Nach einem Sinn zu suchen, die eigenen Fähigkeiten zu entdecken und ausleben zu wollen ist eine andere Geschichte.
Sabine Zurmühl interessiert sich nicht für diese Suche, sondern für die Stolpersteine vor dem Glück. Das Ergebnis ist für Fred Wander ein "voyeuristischer Blick durchs Schlüsselloch". Aus dieser Perspektive, sagt er und zitiert damit Heinrich Böll, könne man den Menschen nur in seiner Gebrechlichkeit sehen, nicht als vielfältiges, schwieriges Leben. Er hat damit nicht unrecht. Denn nichts Privates ist so privat, daß es die Biographin nicht doch ans Licht zerren würde. Vom Wachstum der Brüste und der ersten Menstruation bis zum Zeugungsort der Kinder werden Details aufgelistet, die zum Verständnis der Person wenig beitragen. Als Motto ist der Biographie ein Zitat aus Maxie Wanders "Leben wär' eine prima Alternative" vorangestellt, das die Grundmelodie des Scheiterns vorgibt: "Ich habe meine Heimat in mir und mein Lebensgesetz verlassen, verraten, verwässert." Bei Maxie Wander geht der Gedanke so weiter: "Oder nicht? Kämpfe ich noch? Kämpfe ich dagegen, mir meine Quellen verschütten zu lassen . . . Aber wie schwer fällt es mir mitunter schon, aus dieser Erstarrung herauszufinden." Aus dem Selbstzweifel macht Sabine Zurmühl durch die Verkürzung eine resignative Selbstvernichtung. "Schreiben Sie das", sagt Fred Wander streng und reicht das aufgeschlagene Buch als Geschenk über den Tisch. "Das zeigt doch, wie manipulativ die Autorin arbeitet. Erst im Nachsatz erkennt man Maxie, wie sie war. Im Kämpfen. Im Widerspruch. Im Lebenswillen."
Maxie Wander schrieb diese Sätze ein paar Jahre nach dem Unfalltod der geliebten Tochter Kitty, einem Unglück, über das sie nie hinwegkam. Für Fred Wander ist ihr Krebs die Folge dieses Verlustsyndroms: eine Trauer, die sich in den Körper fraß. Sabine Zurmühl legt andere Sichtweisen nahe. Sie beschreibt die DDR als ein doktrinäres Gefängnis, in dem Maxie Wander an Heimweh zugrunde ging. Der Garten ihres Hauses in Kleinmachnow, der direkt an die Grenze zu West-Berlin mündete und durch das Vorrücken der Mauer immer kleiner wurde, ist der symbolische und der reale Ort für diese Tragödie. Fred Wander hatte, wie der Biographie zu entnehmen ist, immer einen gepackten Koffer im Flur stehen, jederzeit aufbruchsbereit. Bis in die Nacht hinein unternahm er mit Maxie ausgedehnte Spaziergänge. Endlos die Gespräche und Selbstgespräche, unbezwingbar die innere Unruhe. Auch jetzt, während des Interviews, steht er immer wieder auf, geht barfuß durch die Wohnung, sucht ein Buch, in dem er jetzt sofort unbedingt etwas nachschlagen muß: Wo hab' ich das bloß? Unterdessen kann ja Susanne weitererzählen. Sie weiß über alles, was war, so gut Bescheid wie er selbst.
Fred und Maxie Wander waren 1958 in die DDR gegangen, weil sie Kommunisten waren und glaubten, sie kämen in ein nazifreies Land. In Wien war der Judenhaß immer noch spürbar. Fred Wander erzählt von einem Juden mit Kaftan und Schläfenlocken, der verängstigt durch eine Straße im Nachkriegswien gegangen sei: "Man konnte den Angstschweiß quer über die Straße riechen!" Und während er darüber nachdachte, wo dieser Mann die Nazizeit überlebt hatte, habe ein Wiener ihm hinterhergerufen: Dich haben sie wohl auch vergessen zu vergasen! Heimisch konnte Fred Wander in der Stadt seiner Geburt nicht werden. So empfand er es als Wohltat, daß seine jüdische Abstammung in der DDR keine Rolle spielte. Die Tabuisierung des Themas störte ihn nicht - sie gab ihm Bewegungsfreiheit. Auch der Antizionismus der SED-Politik störte ihn nicht. Für ihn war Israel nie eine Alternative. Nie dachte er darüber nach, dorthin auszuwandern. Er war in der Heimatlosigkeit zu Hause und hatte in der DDR, im Haus an der Mauer, seinen Ort gefunden. Wenn Sabine Zurmühl aber schreibt, die Wanders stünden nun "auf der Seite der Privilegierten, und sie möchten sich dessen würdig erweisen und auch ein kleines Stückchen dieses Kuchens abbekommen", dann empfindet er das als eine Unverschämtheit. Privilegien seien nun wirklich das letzte, was ihn je interessiert hätte.
Auch daß er in der Biographie zum Sektions-Obmann der KP in Wien gemacht wird, will er nicht unwidersprochen lassen. Funktionär war er nie. "Nie gewesen. Undenkbar." Er antwortet darauf mit einer Geschichte: Als er 1947 in die Partei eintrat, sollte er, wie alle neuen Mitglieder, die "Volksstimme" verkaufen. Er war dazu aber völlig ungeeignet, stand stumm und schüchtern an der Ecke und verkaufte nichts. Voller Wut warf er das Zeitungsbündel über den Gartenzaun der Parteizentrale und ließ sich ein Jahr lang dort nicht mehr sehen. Er war kein Marxist, kein ideologisch geschulter Kommunist. Er war in der Partei, deren Antifaschismus er für glaubwürdig hielt. In der DDR mußte er dann aber erleben, daß ausgerechnet die kommunistische Lagergemeinschaft ehemaliger Buchenwaldhäftlinge gegen sein KZ-Buch "Der siebente Brunnen" opponierte. Er erhielt einen Brief mit dreißig Einwänden. Vor allem widersprach die Gruppe seinen Erinnerungen an eine Kinderbaracke, in der er sich in den letzten Tagen vor der Befreiung versteckte. In der Heldengeschichtsschreibung der Kommunisten durfte es seit Bruno Apitz' Roman "Nackt unter Wölfen" nur ein einziges gerettetes Kind geben. Realismus war eine literarische Kategorie und keine Disziplin der Wirklichkeit.
Warum blieb Fred Wander trotz solcher Erfahrungen bis 1983 in der DDR? Darauf gibt es mehrere Antworten: Vor allem wegen der Freunde, die ihm wichtig waren - Christa und Gerhard Wolf zum Beispiel. Aber auch weil er hier als Schriftsteller mehr als im Westen geschätzt wurde und seine ökonomische Basis hatte. Immerhin wurde er für den "Siebenten Brunnen" trotz kommunistischer Einwände mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet. Als Ausländer hatte er größere Freiräume, auch Reisefreiheit, und konnte es sich leisten, auf Distanz zu gehen und die trostlosen Parteiversammlungen zu ignorieren.
Doch dieser Freiraum hatte seinen Preis. Wie andere Ausländer auch wurde Fred Wander Ende der fünfziger Jahre vom Ministerium für Nationale Verteidigung angesprochen, Mitte der siebziger Jahre dann auch von der Stasi. Sabine Zurmühl legt nahe, daß er, und mit ihm auch Maxie Wander, fünfzehn Jahre lang als Westkundschafter tätig gewesen sei. Fred Wander leugnet die Kontakte nicht, mißt den Gesprächen aber keine große Bedeutung zu. Davon, daß er von der Stasi von 1975 bis 1977 als IM geführt wurde und angeblich "per Handschlag" verpflichtet wurde, weiß er nichts. Der junge Mann, der ihn gelegentlich besuchte, gefiel ihm, und also redete er mit ihm. Worüber? Über Kultur, Politik, die Partei, Schriftstellerei, alles mögliche. Die Akten bei der Gauck-Behörde haben ihn bisher nicht interessiert. Der grundlegenden Studie Joachim Walthers über den "Sicherungsbereich Literatur" konnte er entnehmen, daß die Stasi ihm kein gutes Zeugnis ausstellte und ihn bald als untauglich fallen ließ. Ein einziges Mal habe man versucht, ihm einen offiziellen Auftrag zu erteilen. Er sollte nach Kopenhagen fahren, sich zuvor aber, da er immer sehr nachlässig angezogen war, in West-Berlin neu einkleiden. Fred Wander lehnte dieses Angebot empört ab. Er wollte sich nicht bezahlen lassen, und verstellen und verkleiden wollte er sich schon gar nicht. Der Anwerbeversuch war gescheitert, Fred Wander trug weiter seine alten Cordhosen.
Die Quellenlage ist dürftig. Die Akten des Ministeriums für Nationale Verteidigung existieren nicht mehr. Sabine Zurmühl behilft sich deshalb mit Andeutungen und Mutmaßungen. Sie stellt Fragen, die einen Verdacht konstruieren, ohne ihn belegen zu können. Eine Fahrt Fred Wanders nach West-Berlin kommentiert sie so: "Vielleicht trifft er dort jemand, vielleicht erstattet er jemand Bericht, vielleicht kauft er wirklich nur ein, was DDR-Bürger nicht einkaufen könnten." Vielleicht. Vielleicht ging er aber auch in den Zoo. So leichtfertig sollte man über ein so heikles Thema jedenfalls nicht schreiben.
Jede Erinnerung ist eine Erfindung, jede Autobiographie ein Roman. Fred Wander weiß das und zitiert in seinem Lebensroman Martin Walser: "Das Wort Autobiografie kann nur jemand benutzen, der von der unwillkürlichen Verklärungskraft der Sprache wenig Ahnung hat. Man kann nicht etwas derart weit Zurückliegendes beschreiben, ohne zu erleben, daß es längst Fiktion ist." Noch viel stärker trifft das für eine Biographie zu, für den fremden Blick, der sich ein fremdes Leben nach der Logik des Erzählens und der Chronologie zurechtlegen muß. Sabine Zurmühl breitet die Geschehnisse jedoch mit einer Selbstgewißheit aus, als wäre sie stets dabeigewesen. Anstatt möglichst unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen zu lassen und verschiedene Sichtweisen auf Maxie Wander zu präsentieren, ebnet sie die Informationen zu einer allzu vertraulichen Geschichte ein, in der sie selbst die Rolle der allwissenden Erzählerin übernimmt. Sie kennt sogar die heimlichen Gedanken der Protagonisten und schreckt nicht davor zurück, Maxie Wanders Vater latenten Antisemitismus zu unterstellen, wenn sie ihn über den zukünftigen Schwiegersohn denken läßt: "Ein KPÖler ist er, das ist gut. Ein Jud ist er, das ist auch in Ordnung, sollen ja gut mit Geld umgehen können." Woher die Biographin solche intimen Kenntnisse besitzt, teilt sie ihren Lesern nicht mit. Fred Wander sagt: "Das sind Erfindungen." Sein Ärger ist verständlich. Wer möchte schon gerne die Hauptrolle in einem Trivialroman spielen? Da er sich nicht anders zu helfen weiß, hat er einen Brief an seine Freunde geschrieben, in dem er die "Unterstellungen, Verleumdungen, Lügen" zurechtrückt. Damit nicht genug, hat er sich entschlossen, gegen das Buch juristisch vorzugehen, um die zweite Auflage zu verhindern. Weil er glaubt, Copyrightverstöße nachweisen zu können, rechnet er sich dabei Chancen aus. Ob es klug ist, einen Rechtsstreit anzuzetteln, oder ob er der Biographie damit nur eine größere Publizität verschafft, ist ihm egal. Er kämpft noch einmal um sein Leben.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Besuch bei Fred Wander: Der Witwer der Autorin Maxie Wander kämpft gegen eine Biographie, die das gemeinsame Leben zum Trivialroman macht / Von Jörg Magenau
Das Gedächtnis ist das Zentralorgan der Seele. Es wälzt pausenlos Erinnerungen um, so wie das Herz Blut durch den Körper pumpt. Ohne Erinnerung und Vorstellungskraft wäre der Mensch kein Mensch. Ohne Geschichte hätte er nichts zu erzählen, und wer nichts zu erzählen hat, der hat auch nicht gelebt. So sieht es der Schriftsteller Fred Wander, der mit seinen vierundachtzig Jahren auf eine mehr als erlebnisreiche Vergangenheit zurückblicken kann. Sein Alter ist ihm nicht anzumerken. Freundlich und neugierig empfängt er den Gast in seiner Wiener Wohnung. Doch bevor er sich befragen läßt, stellt er selbst seine Fragen. Kaffee und Kekse stehen auf dem Couchtischchen bereit. Bitte sehr, nehmen Sie Platz. Eine Schrankwand, ein Bücherregal, draußen auf dem Balkon blühende Blumen und lautstarkes Vogelgezwitscher: Alles ist an seinem Ort. "Meine Frau Susanne hält hier Ordnung", sagt Fred Wander entschuldigend, als könne er sich nicht damit abfinden, irgendwo zu Hause zu sein. Seine Frau, mit der er 1983 aus der DDR nach Österreich zurückkehrte, sitzt neben ihm und ärgert sich: "Ach, Quatsch."
Weitererzählen heißt weiterleben. Vielleicht hat er aus diesem Grund nach dem Krebstod seiner zweiten Frau Maxie Wander Auszüge aus ihren Tagebüchern und Briefen veröffentlicht. Damals hatte er ein Bauernhaus in Mecklenburg gekauft, um sich zu verkriechen. Die Schriften Maxie Wanders breitete er flächendeckend auf Tischen und aufgebockten Türen aus. Einige der Tagebücher riß er auseinander, um die Texte in eine neue Ordnung zu bringen. "Er ging nicht sehr gut mit den Tagebüchern um", sagt seine Frau. Die Zusammenstellung dieser Manuskripte war seine Form der Trauerarbeit. Maxie Wanders "Leben wär' eine prima Alternative", Dokumente des Alltagslebens und des Sterbens einer Frau im Sozialismus, erschien 1979 im Osten und im Westen der geteilten Republik und wurde zu einem der größten Erfolge der DDR-Literatur.
Fred Wander, der die Deportation nach Auschwitz und Buchenwald überlebte, kennt auch die andere, zerstörerische Seite der Erinnerung, Bilder, die ihn ungeschützt überwältigen und ihn nachts immer noch aus dem Schlaf aufschrecken lassen. In seiner Autobiographie mit dem geradezu beschwörenden Titel "Das gute Leben" gab er darüber Auskunft und ging der entscheidenden Frage nach: Wie arbeitet das Gedächtnis? In seinem KZ-Roman "Der siebente Brunnen", 1971 in der DDR erschienen, hat er all denen, die um ihn herum erschlagen oder erhängt wurden, den verhungerten und erfrorenen Leidensgenossen, wenigstens das Gedächtnis gerettet. Er schrieb ihre Geschichten auf, erfand ihnen manchmal ein Leben dazu, aus dem sie herausgerissen worden waren, und ließ sie noch einmal zu Wort kommen. Indem er ihnen ihre Erinnerungen zurückgab, erhielten sie auch ihre Würde zurück. Jede dieser Erzählungen ist ein Requiem. Alles heroische Pathos ist ihnen fremd. Figuren wie den jungen Tadeusz Moll, der im Krematorium in Auschwitz arbeiten mußte, den Lagerarzt Karel, der dem Kampf um jedes einzelne Menschenleben auch unter den Extrembedingungen der "Vernichtung durch Arbeit" noch einen Sinn abgewinnt, oder den Geschichtenerzähler Mendel Teichmann vergißt kein Leser mehr.
Geboren wurde Fred Wander 1917 als Fritz Rosenblatt. Den neuen Namen legte er sich in den Jahren der Verfolgung zu. Fred klang irgendwie amerikanisch polyglott, und dem Nachnamen Wander war das Jüdische nicht so leicht abzuhorchen, auch wenn das Ahasverische damit zum Programm erhoben wurde. Mit diesem Namen wurde er seltener bespuckt als zuvor. Wovon er während der Emigration in Frankreich lebte, immer unterwegs, immer auf der Flucht, kann er heute nicht mehr sagen. Seine Erzählung "Ein Zimmer in Paris" und der 1942 in Marseille angesiedelte Roman "Hotel Baalbek", der sich mit Anna Seghers' "Transit" vergleichen läßt, verarbeiten Erinnerungen an die Jahre der Emigration. Er lernte, daß das Überleben nicht nur von Brot und Suppe abhängt, sondern auch von der Moral und vom Glauben an die Menschen. Den verlor er nicht, als ihn Schweizer Grenzer bei der Flucht über die Alpen festnahmen und ihn mit Handschellen ins französische Deportationslager zurückverfrachteten. Den ließ er sich auch im KZ nicht aus dem Leib prügeln.
Fred Wander bezeichnet sich als einen Vagabunden aus Erfahrung und Überzeugung. Daß er als Reiseschriftsteller begann, Bücher über Korsika, die Provence und Holland schrieb, ist die natürliche Folge dieses Bewegungsdrangs. Schon als Junge trieb er sich tagelang auf den Straßen Wiens herum. Wie hätte er, von klein auf geprügelt und schikaniert, nicht zum Außenseiter werden können? Er lief kreuz und quer durch die Stadt, ein Marathonläufer ohne Ziel und Zeitnahme. So kräftigte er sich und stählte die Lungen. Er ist fest davon überzeugt, daß er ohne dieses unbewußte Training die Jahre im KZ kaum überstanden hätte. Vielleicht auch nicht ohne den Koffer voller Bücher, den er auf dem Dachboden der Großeltern fand. Dostojewski, Turgenjew, Tschechow begründeten seine Leidenschaft für Literatur und lehrten ihn, daß auch das Erzählen eine Möglichkeit ist, um der Gegenwart zu entkommen. Laufen und Lesen also als Überlebensmittel: So verfestigt sich die Erinnerung zur Legende, die griffbereit herumsteht wie ein fertig gepackter Koffer.
Ein Dasein nach bürgerlichen Maßstäben, Karriere und Eigentum haben ihn nie interessiert. Jetzt aber kämpft er um seine und um Maxie Wanders Geschichte wie um einen Besitz und spricht von einem "Raubüberfall". Nein, schlimmer noch: "Einer, der dir ein Messer an die Brust setzt und Geld verlangt, ist ein ehrlicher Bursche dagegen." Aber kann man ein Leben stehlen? Wem gehören die Erinnerungen?
Die Journalistin Sabine Zurmühl hat eine Biographie über Maxie Wander geschrieben ("Das Leben, dieser Augenblick", Henschel Verlag). Das ist ein gewagtes Unterfangen, erzählt sie damit doch eine sehr private Geschichte, die mit Maxie Wanders authentischen Tagebüchern und auch mit Fred Wanders Autobiographie konkurrieren muß. Dagegen wäre sie hoffnungslos unterlegen, wenn sie sich nicht von vornherein für eine kritische Gegenlektüre entschieden hätte. Dekonstruktion eines Mythos - mit dieser durchaus trendgemäßen Formel läßt sich ihre Absicht beschreiben. Die Maxie Wander, die dabei entsteht, ist kaum als Heldin weiblicher Emanzipation zu gebrauchen. Sie ist weniger kämpferisch als depressiv und leidend, weniger Handelnde als ein Opfer der Umstände. Nicht die Autorin, die kurz vor ihrem Tod die Frauenporträts "Guten Morgen, du Schöne" veröffentlichte und damit in Ost und West berühmt wurde, steht im Mittelpunkt, sondern die überforderte Hausfrau und Mutter, die für ihren schreibenden Ehemann die Manuskripte abtippt und den Adoptivsohn verprügelt, wenn er mal wieder ins Bett gemacht hat. Es ist das tragische Leben einer Frau, die an ihrem Mann, an der DDR und an sich selbst zugrunde ging und die erst dann zu sich selbst fand, als es schon zu spät war.
Aber stimmt dieses Bild? Oder ist es nur eine neue, schlechtere Legende? Fred Wander erkennt sich und Maxie darin nicht wieder. Er bereut es, sein Einverständnis für die Biographie gegeben zu haben. Die Autorin habe nie mit ihm über seine Ehe gesprochen, was könne sie also davon wissen? Auch ihr Manuskript habe sie ihm nicht gezeigt, obwohl es so vereinbart gewesen sei. Er habe ihr vertraut - verfluchte Naivität.
Drei der zwanzig übriggebliebenen Tagebücher Maxies gaben die Wanders Sabine Zurmühl zur Einsicht. "Leider", sagt Fred Wander heute. In monomanischer Ausschließlichkeit geht es in diesen Dokumenten um die Kinder. Vielleicht erhielt dieses Thema deshalb in der Biographie eine so große Bedeutung. Nichts erfährt man dort jedoch von der liebevollen Gestaltung der Tagebücher. Maxie Wander hat immer wieder Kinderzeichnungen und andere Erinnerungsstücke eingeklebt, hat Gespräche mit den Kindern in allen Einzelheiten protokolliert, die Geschichten, die sie aus der Schule erzählen, festgehalten. Zu sehen sind auch spätere Anstriche und Randnotizen von ihrer eigenen Hand. Ihr Tagebuch war ihr eine operative Materialsammlung des eigenen Lebens, Rohstoff für die literarische Weiterverarbeitung und keineswegs ein Endprodukt. Im Nachwort erklärt Sabine Zurmühl, die in den Jahren des Sterbens und des Ruhms der Maxie Wander Redakteurin der Frauenzeitschrift "Courage" war, worum es ihr ging. Sie schreibt: "Die Biographie der Maxie Wander handelt davon, wie jemand versucht, glücklich zu werden. Und welche Stolpersteine der äußeren und inneren Art diesem Ziel entgegenstanden." Maxie Wanders Frage lautete ganz anders: Wie mache ich mein Leben produktiv und schöpferisch? Nach einem Sinn zu suchen, die eigenen Fähigkeiten zu entdecken und ausleben zu wollen ist eine andere Geschichte.
Sabine Zurmühl interessiert sich nicht für diese Suche, sondern für die Stolpersteine vor dem Glück. Das Ergebnis ist für Fred Wander ein "voyeuristischer Blick durchs Schlüsselloch". Aus dieser Perspektive, sagt er und zitiert damit Heinrich Böll, könne man den Menschen nur in seiner Gebrechlichkeit sehen, nicht als vielfältiges, schwieriges Leben. Er hat damit nicht unrecht. Denn nichts Privates ist so privat, daß es die Biographin nicht doch ans Licht zerren würde. Vom Wachstum der Brüste und der ersten Menstruation bis zum Zeugungsort der Kinder werden Details aufgelistet, die zum Verständnis der Person wenig beitragen. Als Motto ist der Biographie ein Zitat aus Maxie Wanders "Leben wär' eine prima Alternative" vorangestellt, das die Grundmelodie des Scheiterns vorgibt: "Ich habe meine Heimat in mir und mein Lebensgesetz verlassen, verraten, verwässert." Bei Maxie Wander geht der Gedanke so weiter: "Oder nicht? Kämpfe ich noch? Kämpfe ich dagegen, mir meine Quellen verschütten zu lassen . . . Aber wie schwer fällt es mir mitunter schon, aus dieser Erstarrung herauszufinden." Aus dem Selbstzweifel macht Sabine Zurmühl durch die Verkürzung eine resignative Selbstvernichtung. "Schreiben Sie das", sagt Fred Wander streng und reicht das aufgeschlagene Buch als Geschenk über den Tisch. "Das zeigt doch, wie manipulativ die Autorin arbeitet. Erst im Nachsatz erkennt man Maxie, wie sie war. Im Kämpfen. Im Widerspruch. Im Lebenswillen."
Maxie Wander schrieb diese Sätze ein paar Jahre nach dem Unfalltod der geliebten Tochter Kitty, einem Unglück, über das sie nie hinwegkam. Für Fred Wander ist ihr Krebs die Folge dieses Verlustsyndroms: eine Trauer, die sich in den Körper fraß. Sabine Zurmühl legt andere Sichtweisen nahe. Sie beschreibt die DDR als ein doktrinäres Gefängnis, in dem Maxie Wander an Heimweh zugrunde ging. Der Garten ihres Hauses in Kleinmachnow, der direkt an die Grenze zu West-Berlin mündete und durch das Vorrücken der Mauer immer kleiner wurde, ist der symbolische und der reale Ort für diese Tragödie. Fred Wander hatte, wie der Biographie zu entnehmen ist, immer einen gepackten Koffer im Flur stehen, jederzeit aufbruchsbereit. Bis in die Nacht hinein unternahm er mit Maxie ausgedehnte Spaziergänge. Endlos die Gespräche und Selbstgespräche, unbezwingbar die innere Unruhe. Auch jetzt, während des Interviews, steht er immer wieder auf, geht barfuß durch die Wohnung, sucht ein Buch, in dem er jetzt sofort unbedingt etwas nachschlagen muß: Wo hab' ich das bloß? Unterdessen kann ja Susanne weitererzählen. Sie weiß über alles, was war, so gut Bescheid wie er selbst.
Fred und Maxie Wander waren 1958 in die DDR gegangen, weil sie Kommunisten waren und glaubten, sie kämen in ein nazifreies Land. In Wien war der Judenhaß immer noch spürbar. Fred Wander erzählt von einem Juden mit Kaftan und Schläfenlocken, der verängstigt durch eine Straße im Nachkriegswien gegangen sei: "Man konnte den Angstschweiß quer über die Straße riechen!" Und während er darüber nachdachte, wo dieser Mann die Nazizeit überlebt hatte, habe ein Wiener ihm hinterhergerufen: Dich haben sie wohl auch vergessen zu vergasen! Heimisch konnte Fred Wander in der Stadt seiner Geburt nicht werden. So empfand er es als Wohltat, daß seine jüdische Abstammung in der DDR keine Rolle spielte. Die Tabuisierung des Themas störte ihn nicht - sie gab ihm Bewegungsfreiheit. Auch der Antizionismus der SED-Politik störte ihn nicht. Für ihn war Israel nie eine Alternative. Nie dachte er darüber nach, dorthin auszuwandern. Er war in der Heimatlosigkeit zu Hause und hatte in der DDR, im Haus an der Mauer, seinen Ort gefunden. Wenn Sabine Zurmühl aber schreibt, die Wanders stünden nun "auf der Seite der Privilegierten, und sie möchten sich dessen würdig erweisen und auch ein kleines Stückchen dieses Kuchens abbekommen", dann empfindet er das als eine Unverschämtheit. Privilegien seien nun wirklich das letzte, was ihn je interessiert hätte.
Auch daß er in der Biographie zum Sektions-Obmann der KP in Wien gemacht wird, will er nicht unwidersprochen lassen. Funktionär war er nie. "Nie gewesen. Undenkbar." Er antwortet darauf mit einer Geschichte: Als er 1947 in die Partei eintrat, sollte er, wie alle neuen Mitglieder, die "Volksstimme" verkaufen. Er war dazu aber völlig ungeeignet, stand stumm und schüchtern an der Ecke und verkaufte nichts. Voller Wut warf er das Zeitungsbündel über den Gartenzaun der Parteizentrale und ließ sich ein Jahr lang dort nicht mehr sehen. Er war kein Marxist, kein ideologisch geschulter Kommunist. Er war in der Partei, deren Antifaschismus er für glaubwürdig hielt. In der DDR mußte er dann aber erleben, daß ausgerechnet die kommunistische Lagergemeinschaft ehemaliger Buchenwaldhäftlinge gegen sein KZ-Buch "Der siebente Brunnen" opponierte. Er erhielt einen Brief mit dreißig Einwänden. Vor allem widersprach die Gruppe seinen Erinnerungen an eine Kinderbaracke, in der er sich in den letzten Tagen vor der Befreiung versteckte. In der Heldengeschichtsschreibung der Kommunisten durfte es seit Bruno Apitz' Roman "Nackt unter Wölfen" nur ein einziges gerettetes Kind geben. Realismus war eine literarische Kategorie und keine Disziplin der Wirklichkeit.
Warum blieb Fred Wander trotz solcher Erfahrungen bis 1983 in der DDR? Darauf gibt es mehrere Antworten: Vor allem wegen der Freunde, die ihm wichtig waren - Christa und Gerhard Wolf zum Beispiel. Aber auch weil er hier als Schriftsteller mehr als im Westen geschätzt wurde und seine ökonomische Basis hatte. Immerhin wurde er für den "Siebenten Brunnen" trotz kommunistischer Einwände mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet. Als Ausländer hatte er größere Freiräume, auch Reisefreiheit, und konnte es sich leisten, auf Distanz zu gehen und die trostlosen Parteiversammlungen zu ignorieren.
Doch dieser Freiraum hatte seinen Preis. Wie andere Ausländer auch wurde Fred Wander Ende der fünfziger Jahre vom Ministerium für Nationale Verteidigung angesprochen, Mitte der siebziger Jahre dann auch von der Stasi. Sabine Zurmühl legt nahe, daß er, und mit ihm auch Maxie Wander, fünfzehn Jahre lang als Westkundschafter tätig gewesen sei. Fred Wander leugnet die Kontakte nicht, mißt den Gesprächen aber keine große Bedeutung zu. Davon, daß er von der Stasi von 1975 bis 1977 als IM geführt wurde und angeblich "per Handschlag" verpflichtet wurde, weiß er nichts. Der junge Mann, der ihn gelegentlich besuchte, gefiel ihm, und also redete er mit ihm. Worüber? Über Kultur, Politik, die Partei, Schriftstellerei, alles mögliche. Die Akten bei der Gauck-Behörde haben ihn bisher nicht interessiert. Der grundlegenden Studie Joachim Walthers über den "Sicherungsbereich Literatur" konnte er entnehmen, daß die Stasi ihm kein gutes Zeugnis ausstellte und ihn bald als untauglich fallen ließ. Ein einziges Mal habe man versucht, ihm einen offiziellen Auftrag zu erteilen. Er sollte nach Kopenhagen fahren, sich zuvor aber, da er immer sehr nachlässig angezogen war, in West-Berlin neu einkleiden. Fred Wander lehnte dieses Angebot empört ab. Er wollte sich nicht bezahlen lassen, und verstellen und verkleiden wollte er sich schon gar nicht. Der Anwerbeversuch war gescheitert, Fred Wander trug weiter seine alten Cordhosen.
Die Quellenlage ist dürftig. Die Akten des Ministeriums für Nationale Verteidigung existieren nicht mehr. Sabine Zurmühl behilft sich deshalb mit Andeutungen und Mutmaßungen. Sie stellt Fragen, die einen Verdacht konstruieren, ohne ihn belegen zu können. Eine Fahrt Fred Wanders nach West-Berlin kommentiert sie so: "Vielleicht trifft er dort jemand, vielleicht erstattet er jemand Bericht, vielleicht kauft er wirklich nur ein, was DDR-Bürger nicht einkaufen könnten." Vielleicht. Vielleicht ging er aber auch in den Zoo. So leichtfertig sollte man über ein so heikles Thema jedenfalls nicht schreiben.
Jede Erinnerung ist eine Erfindung, jede Autobiographie ein Roman. Fred Wander weiß das und zitiert in seinem Lebensroman Martin Walser: "Das Wort Autobiografie kann nur jemand benutzen, der von der unwillkürlichen Verklärungskraft der Sprache wenig Ahnung hat. Man kann nicht etwas derart weit Zurückliegendes beschreiben, ohne zu erleben, daß es längst Fiktion ist." Noch viel stärker trifft das für eine Biographie zu, für den fremden Blick, der sich ein fremdes Leben nach der Logik des Erzählens und der Chronologie zurechtlegen muß. Sabine Zurmühl breitet die Geschehnisse jedoch mit einer Selbstgewißheit aus, als wäre sie stets dabeigewesen. Anstatt möglichst unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen zu lassen und verschiedene Sichtweisen auf Maxie Wander zu präsentieren, ebnet sie die Informationen zu einer allzu vertraulichen Geschichte ein, in der sie selbst die Rolle der allwissenden Erzählerin übernimmt. Sie kennt sogar die heimlichen Gedanken der Protagonisten und schreckt nicht davor zurück, Maxie Wanders Vater latenten Antisemitismus zu unterstellen, wenn sie ihn über den zukünftigen Schwiegersohn denken läßt: "Ein KPÖler ist er, das ist gut. Ein Jud ist er, das ist auch in Ordnung, sollen ja gut mit Geld umgehen können." Woher die Biographin solche intimen Kenntnisse besitzt, teilt sie ihren Lesern nicht mit. Fred Wander sagt: "Das sind Erfindungen." Sein Ärger ist verständlich. Wer möchte schon gerne die Hauptrolle in einem Trivialroman spielen? Da er sich nicht anders zu helfen weiß, hat er einen Brief an seine Freunde geschrieben, in dem er die "Unterstellungen, Verleumdungen, Lügen" zurechtrückt. Damit nicht genug, hat er sich entschlossen, gegen das Buch juristisch vorzugehen, um die zweite Auflage zu verhindern. Weil er glaubt, Copyrightverstöße nachweisen zu können, rechnet er sich dabei Chancen aus. Ob es klug ist, einen Rechtsstreit anzuzetteln, oder ob er der Biographie damit nur eine größere Publizität verschafft, ist ihm egal. Er kämpft noch einmal um sein Leben.
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