Der Anruf kommt um kurz nach zwei.
Ein junger, sterbenskranker Mann geht ans Telefon und hört die ersehnten und gefürchteten Worte: «Wir haben ein Spenderorgan für Sie.» Soll er es wagen, damit er weiter da ist für sein Kind? Er nimmt seine Tasche und lässt sich ins Berliner Virchow-Klinikum fahren.
Es folgen lange Tage und Nächte im Krankenhaus, neben wechselnden Bettnachbarn. Da ist etwa ein Getränkehändler mit einer heimlichen Geliebten, oder ein libanesischer Fleischer, der beide Brüder an den Krieg verlor. Beim Zuhören wird ihm zum ersten Mal bewußt, daß auch er schon ein Leben hinter sich hat. Für wen hat er gelebt? Für wen lohnt es sich weiterzuleben? Und welcher Mensch ist gestorben, so daß er weiterleben kann - möglicherweise als ein anderer als zuvor?
Preis der Leipziger Buchmesse 2013
Ein junger, sterbenskranker Mann geht ans Telefon und hört die ersehnten und gefürchteten Worte: «Wir haben ein Spenderorgan für Sie.» Soll er es wagen, damit er weiter da ist für sein Kind? Er nimmt seine Tasche und lässt sich ins Berliner Virchow-Klinikum fahren.
Es folgen lange Tage und Nächte im Krankenhaus, neben wechselnden Bettnachbarn. Da ist etwa ein Getränkehändler mit einer heimlichen Geliebten, oder ein libanesischer Fleischer, der beide Brüder an den Krieg verlor. Beim Zuhören wird ihm zum ersten Mal bewußt, daß auch er schon ein Leben hinter sich hat. Für wen hat er gelebt? Für wen lohnt es sich weiterzuleben? Und welcher Mensch ist gestorben, so daß er weiterleben kann - möglicherweise als ein anderer als zuvor?
Preis der Leipziger Buchmesse 2013
Die Prosa David Wagners ist makellos. Die Zeit
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Frank Schäfer ist begeistert von diesem "großartigen" Buch, in dem David Wagner seine eigene und nur leicht verfremdete Krankheitsgeschichte - er litt an einer Autoimmunhepatitis, die die Leber als Fremdkörper aus dem Organismus ausstößt - erzählt und darin zugleich die passende Form für eine Dankesbekundung an seinen Leberspender findet. Im Zentrum steht dabei eine assoziativ verfasste Chronik des Krankenalltags, die der Rezensent als "reziprokes Reisetagebuch" auffasst: Anders als vorangegangene Bücher des Autors handelt "Leben" nicht davon, sich die Welt bummelnd zu erschließen, sondern von der Erkundung der eigenen Innenwelt vom Krankenbett aus. Von dieser Reise kehrt der Autor mit reicher Beute in Form von zahlreichen Notizen und Essays zurück: Ein literarischer Mahlstrom, dem sich Schäfer mit größter Wonne überantwortet hat, auch wenn ihm bei Wagners knochentrockenem Sarkasmus gelegentlich das Lachen im Halse stecken bleibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Es gibt nichts, was David Wagners Blicks nicht würdig wäre." -- Judith Schalansky, Die Welt
"The Proust-inspired West German stylist." -- Nora Fitzgerald, The New York Times
"David Wagners Büchern ist etwas gemeinsam, das man ein Bewusstsein für die Vergänglichkeit, für das Verschwinden von Dingen und Menschen nennen könnte. Dieses Bewusstsein schlägt sich nicht etwa in Sentimentalität nieder, sondern in einer Genauigkeit des Blicks." -- Wiebke Porombka, die tageszeitung
"David Wagner wagt sich an die elementaren Seiten des Seins. Woher kommen wir? Wohin gehen wir?" -- Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung
"David Wagner berührt die ganz großen Fragen. Was heißt es, auf der Welt zu sein? Was ist das Leben?" -- Dirk Knipphals, die tageszeitung
"David Wagner versteht es, die Zeit zu dehnen, neu zu vermessen und seinen Erzähler eine Erinnerungskaskade nach der anderen in Gang setzen zu lassen." -- Gerrit Bartels, Der Tagesspiegel
"LEBEN von David Wagner ist das literarische Ereignis des Frühjahrs. Das Buch ist in all seinem Raffinement und seiner Beschreibungskunst die organische Fortschreibung eines Werks, das bereits zu den bemerkenswertesten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zählte. Doch jetzt hat David Wagners Schreibvermögen ein neues Niveau erreicht." -- Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung
"The Proust-inspired West German stylist." -- Nora Fitzgerald, The New York Times
"David Wagners Büchern ist etwas gemeinsam, das man ein Bewusstsein für die Vergänglichkeit, für das Verschwinden von Dingen und Menschen nennen könnte. Dieses Bewusstsein schlägt sich nicht etwa in Sentimentalität nieder, sondern in einer Genauigkeit des Blicks." -- Wiebke Porombka, die tageszeitung
"David Wagner wagt sich an die elementaren Seiten des Seins. Woher kommen wir? Wohin gehen wir?" -- Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung
"David Wagner berührt die ganz großen Fragen. Was heißt es, auf der Welt zu sein? Was ist das Leben?" -- Dirk Knipphals, die tageszeitung
"David Wagner versteht es, die Zeit zu dehnen, neu zu vermessen und seinen Erzähler eine Erinnerungskaskade nach der anderen in Gang setzen zu lassen." -- Gerrit Bartels, Der Tagesspiegel
"LEBEN von David Wagner ist das literarische Ereignis des Frühjahrs. Das Buch ist in all seinem Raffinement und seiner Beschreibungskunst die organische Fortschreibung eines Werks, das bereits zu den bemerkenswertesten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zählte. Doch jetzt hat David Wagners Schreibvermögen ein neues Niveau erreicht." -- Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2013Nein, du sollst nicht überfahren werden
David Wagner hat ein Buch über das Kranksein geschrieben: Ein Mann liegt im Bett, wartet auf eine Leber und hat Zeit
Bei der Lektüre des Buches "Leben", welches von einem sterbenskranken Menschen erzählt wird, passiert allerhand: Man will mit einem Arzt sprechen und macht sogar einen Termin; man will sich in ein Gerät legen, welches den gesamten Körper absucht und prüft, man will nicht mehr rauchen, langsamer gehen und essen, jemanden anrufen, dem man es lange versprochen hatte, und seinen wichtigen Menschen sagen, dass man sie liebt. Und dann ärgert man sich, weil man diesen Bewusster-leben-Mist (der natürlich kein Mist ist, aber halt nur momentweise funktioniert) schon tausendmal gehört und auch probiert hat. Damit hat man natürlich sofort ein neues Problem, weil man sich undankbar fühlt und auf diese Undankbarkeit folgt sofort die Strafe, das heißt in diesem Fall die Todeskrankheit, und wenn die einen befallen hat, wäre man in einer genauso schrecklichen Todeslage wie der Erzähler des Buches "Leben", der wie einst sein Autor David Wagner mit einer kaputten Leber kämpfen muss.
Ein gemeiner Engel stünde dann am eigenen Krankenbett, die Arme vor der Brust verschränkt, und er würde sagen: "Ha, wärst du mal lieber nicht so frech gewesen, als du das Leben-Buch gelesen hast! Demut, du Penner, Demut!" Solche Sachen will man sich natürlich nicht vorstellen, dass man krank wird und zeitlebens alles falsch gemacht hat mit dem eigenen Leben, und das kriegt dann alles der arme Erzähler des "Leben"-Textes ab, der es schon schwer genug hat: In einer Nacht kommt er nach Hause, isst ein bisschen Apfelmus und spuckt dann Blut, weil in seiner Speiseröhre Krampfadern geplatzt sind. Er ruft einen Krankenwagen, berichtet dem Arzt von seiner Autoimmunhepatitis (heißt, das Immunsystem greift immerzu die Leber an) und kommt ins Krankenhaus.
Und da ist er dann, da bleibt er auch, bis auf wenige Unterbrechungen, und das ist die Welt, von welcher er erzählt. Schwestern, Ärzte, Mullbinden, MRTs, Sterbenskranke, Topfpflanzen, Drucke von Chagall an der Wand, Fiebermessen, Tablettenessen, Krankenhauslangeweile, Mundschutz, Röntgenschürzen, Krankengymnastik, und: "Auf dem Flur nicken wir Patienten uns zu. Wir sind einander morgenmantelbekannt. Ich sehe, was Patienten so am Leibe tragen. Es gibt Privatschlafanzug- und Krankenhausnachthemdträger."
In 277 Miniaturen wird von dieser weißen Welt erzählt, von einem Bettnachbarn, der seine Leber ruiniert hat, weil er im echten Leben als Kellner gearbeitet hat und überall umsonst trinken durfte, von einem libanesischem Fleischer, der sich vier Finger der rechten Hand abgeschnitten hat, und von einem anderen Fleischer, der gerne viel Fleisch gegessen und jetzt eine Fettleber hat. "Das Krankenhaus ist ein Geschichtenhaus, immer wieder neue Geschichten, jeder Patient bringt eine mit."
Das Krankenhaus, dieser Kasten, von dessen Innenleben nichts auf die Straßen, in die Geschäfte und Cafés gelangt, ist eine kleine Stadt in der Stadt mit eigenen Gesetzen. "Ich hatte schon zwei Bauchspeicheldrüsen - ich habe meine dritte Niere, meine erste Niere hielt zwei Jahre, die zweite einen Monat." Jeder will raus aus diesem Kasten, und die, die draußen sind, wollen nichts von Nieren und Bauchspeicheldrüsen wissen, diese Sachen sollen einfach funktionieren und nicht nerven, weswegen die Häuser, welche zum Erhalt von Organen und Menschen da sind, als Schauplatz einer Handlung, denkt man zunächst, ebenfalls total nerven.
Eine bescheuerte Drüse, die kaputtgeht, eine Gastroskopie - was daran soll denn bitte spannend werden? Was soll ein Mensch erzählen, der von morgens bis abends im Bett liegt und der genau das und seine Krankheit zum Thema macht? Vielleicht keine so tolle Idee, denkt man, den gemeinen Schuldengel mit den Vorwürfen im Nacken, und liest weiter. "Eine blaue Ecke Himmel oben im Fenster, ich rieche die Rosen auf dem Nachttisch und die frische, noch steife Bettwäsche, mir gefallen die eingewirkten blaßblauen Streifen." Der Blick in so einer immer gleichen Krankenwelt wird ein anderer, er legt sich auf Kleinigkeiten. Oder er geht nach innen und sucht in der Vergangenheit: Der Erzähler erinnert sich an die Frauen, die er geliebt hat, an Reisen und Lachen, weil man zu viel gekifft hat. Aha, er hat also mal richtig doll gelacht, als er gekifft hat, meine Güte. Und dann besucht einen wieder der gemeine Engel und sagt: "Du Illiteratin, auf solche kleinen Momente kommt es an im Leben, außerdem gilt Herr Wagner mit diesem Buch als einer der Favoriten für den Preis der Leipziger Buchmesse!"
Natürlich hat der Engel recht, wenn er sagt, dass es auf solche Momente ankommt, aber mir ist trotzdem langweilig. Der Erzähler denkt derweil an seine Tochter, "das Kind", wie er schreibt, und dass er für sie leben will. Und er erinnert sich an eine Wohnung, in der er mal wohnte und die kein Badezimmer hatte, weswegen er den Leuten, die ihn besuchten, erzählte, er gehe im Schwimmbad duschen, was eigentlich gar nicht mehr so richtig stimmte, aber die Leute gucken komisch, wenn einer sich nicht regelmäßig duscht. Soso, und warum soll ich das wissen? Solche Dinge möchte man doch eigentlich nur von jemandem erfahren, den man wirklich, wirklich mag, und nur dann. Andererseits ist die Sprache desjenigen, der da erzählt, so lieb und klar, so unschuldig und freundlich, dass man ihn, dem es auch noch so dreckig geht, beginnt vorsichtig zu mögen.
Seine Mutter ist gestorben, als er zwölf war. Und Rebecca ist auch gestorben, eine Freundin, an die er sich immer wieder mal erinnert. Einfach von einem Lieferwagen überfahren worden, hatte keinen besonderen Grund - und bei diesem gesammelten Lebensmist bleibt er, der da im Bett liegt und nicht weiß, ob er je wieder gesund wird, so vollkommen ruhig. Wird nie ausfallend, erzählt ganz langsam und präzise, das heißt "ohne Pathos", wie der Klappentext stolz verspricht, was doch bemerkenswert ist, denn: Ist es ein Wert an sich, "ohne Pathos" zu erzählen? Darf man nicht voller Pathos sein, wenn man todkrank ist? Und ist es nicht das Allerpathetischste, dann ganz ohne Pathos zu sein? Und wie vermessen ist der implizite Anspruch an einen halbtoten Erzähler, nicht so ein Drama daraus zu machen?
Das ist wie im Draußen, im echten Leben, wo die guten Kranken diejenigen sind, die ihre Krankheit tapfer tragen und anderen damit nicht zu sehr auf die Nerven gehen, denn man hat einfach nicht genug Platz und Zeit für das Gefühl, welches es brauchte, um wirklich an kranke Menschen zu denken und sie irgendwie in den gesunden Tagen der Außenwelt vorkommen zu lassen. Vielleicht ist deswegen die leise, reduzierte Sprache der einzig mögliche, der gewissermaßen gesellschaftsfähige Ton. Oder das Lachen über den Tod, was natürlich traurig ist, aber der Tod ist ja auch etwas Trauriges. David Wagner hat dafür eine Super-Methode entwickelt, für die man ihn beim Lesen absolut und uneingeschränkt toll findet. Kurz bevor der Erzähler den Anruf erhält, dass es für ihn eine passende Spenderleber gibt, wird die reflektierende Miniaturenfolge unterbrochen. Es folgt eine kommentarlose Auflistung kurioser Todesfälle, die er Zeitungsmeldungen entnommen und zusammenmontiert hat: "Der Schafsbock: Einer 29 Jahre alten Frau aus Simbach / fiel bei einem Spaziergang durch die Stadt Braunau / ein tags zuvor ausgerissener / in Panik vor einen nahenden Zug / von einer Eisenbahnbrücke springender Schafsbock / auf den Kopf / die Frau / kam mit Prellungen und Blutergüssen / ins Krankenhaus / wo sie / (Mutter zweier Kinder) / am Samstagabend / überraschend verstarb." Das ist traurig und sehr, sehr komisch, andere Todesarten sind nur traurig, wieder andere grausam, bizarr, banal, total unnötig.
Der Erzähler selbst überlegt, wie wohl der Spender zu Tode kommen wird, welcher ihm zu einer gesunden Leber verhelfen wird. "Möchte ich, daß du stirbst? Nein, ich möchte nicht, daß du, wo auch immer du dich aufhältst, überfahren wirst." Und wenig später, als ein Spender gefunden wurde und er dessen Leber bereits in sich trägt: "Und wie war deine Beerdigung? So lange kann die doch noch nicht her sein. Tut mir leid, daß ich nicht da war." Das ist ziemlich süß. Der Erzähler fragt sich, wer ihm die Leber geschenkt hat, immer wieder, und findet, er müsse dankbar sein, "wie es dankbarer nicht geht". Da ist das Buch dann fast zu Ende, und man hat den gemeinen Engel zum Schweigen gebracht, das heißt: Man freut sich seiner Gesundheit, liest brav weiter, bis das Buch fertig ist, und ist dankbar - und vielleicht passiert damit irgendetwas, was passieren soll, denn das Buch ist, wie sich am Ende herausstellt, ein Dankbarkeitsbuch, nämlich ein Brief an den toten Menschen, dem die Leber gehört, welche jetzt in dem Erzähler lebt, dem man alles, alles Gute wünscht, obwohl man nicht so richtig weiß, warum man ihm so lange gefolgt ist.
ANTONIA BAUM
David Wagner: "Leben". Rowohlt, 288 Seiten, 19,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
David Wagner hat ein Buch über das Kranksein geschrieben: Ein Mann liegt im Bett, wartet auf eine Leber und hat Zeit
Bei der Lektüre des Buches "Leben", welches von einem sterbenskranken Menschen erzählt wird, passiert allerhand: Man will mit einem Arzt sprechen und macht sogar einen Termin; man will sich in ein Gerät legen, welches den gesamten Körper absucht und prüft, man will nicht mehr rauchen, langsamer gehen und essen, jemanden anrufen, dem man es lange versprochen hatte, und seinen wichtigen Menschen sagen, dass man sie liebt. Und dann ärgert man sich, weil man diesen Bewusster-leben-Mist (der natürlich kein Mist ist, aber halt nur momentweise funktioniert) schon tausendmal gehört und auch probiert hat. Damit hat man natürlich sofort ein neues Problem, weil man sich undankbar fühlt und auf diese Undankbarkeit folgt sofort die Strafe, das heißt in diesem Fall die Todeskrankheit, und wenn die einen befallen hat, wäre man in einer genauso schrecklichen Todeslage wie der Erzähler des Buches "Leben", der wie einst sein Autor David Wagner mit einer kaputten Leber kämpfen muss.
Ein gemeiner Engel stünde dann am eigenen Krankenbett, die Arme vor der Brust verschränkt, und er würde sagen: "Ha, wärst du mal lieber nicht so frech gewesen, als du das Leben-Buch gelesen hast! Demut, du Penner, Demut!" Solche Sachen will man sich natürlich nicht vorstellen, dass man krank wird und zeitlebens alles falsch gemacht hat mit dem eigenen Leben, und das kriegt dann alles der arme Erzähler des "Leben"-Textes ab, der es schon schwer genug hat: In einer Nacht kommt er nach Hause, isst ein bisschen Apfelmus und spuckt dann Blut, weil in seiner Speiseröhre Krampfadern geplatzt sind. Er ruft einen Krankenwagen, berichtet dem Arzt von seiner Autoimmunhepatitis (heißt, das Immunsystem greift immerzu die Leber an) und kommt ins Krankenhaus.
Und da ist er dann, da bleibt er auch, bis auf wenige Unterbrechungen, und das ist die Welt, von welcher er erzählt. Schwestern, Ärzte, Mullbinden, MRTs, Sterbenskranke, Topfpflanzen, Drucke von Chagall an der Wand, Fiebermessen, Tablettenessen, Krankenhauslangeweile, Mundschutz, Röntgenschürzen, Krankengymnastik, und: "Auf dem Flur nicken wir Patienten uns zu. Wir sind einander morgenmantelbekannt. Ich sehe, was Patienten so am Leibe tragen. Es gibt Privatschlafanzug- und Krankenhausnachthemdträger."
In 277 Miniaturen wird von dieser weißen Welt erzählt, von einem Bettnachbarn, der seine Leber ruiniert hat, weil er im echten Leben als Kellner gearbeitet hat und überall umsonst trinken durfte, von einem libanesischem Fleischer, der sich vier Finger der rechten Hand abgeschnitten hat, und von einem anderen Fleischer, der gerne viel Fleisch gegessen und jetzt eine Fettleber hat. "Das Krankenhaus ist ein Geschichtenhaus, immer wieder neue Geschichten, jeder Patient bringt eine mit."
Das Krankenhaus, dieser Kasten, von dessen Innenleben nichts auf die Straßen, in die Geschäfte und Cafés gelangt, ist eine kleine Stadt in der Stadt mit eigenen Gesetzen. "Ich hatte schon zwei Bauchspeicheldrüsen - ich habe meine dritte Niere, meine erste Niere hielt zwei Jahre, die zweite einen Monat." Jeder will raus aus diesem Kasten, und die, die draußen sind, wollen nichts von Nieren und Bauchspeicheldrüsen wissen, diese Sachen sollen einfach funktionieren und nicht nerven, weswegen die Häuser, welche zum Erhalt von Organen und Menschen da sind, als Schauplatz einer Handlung, denkt man zunächst, ebenfalls total nerven.
Eine bescheuerte Drüse, die kaputtgeht, eine Gastroskopie - was daran soll denn bitte spannend werden? Was soll ein Mensch erzählen, der von morgens bis abends im Bett liegt und der genau das und seine Krankheit zum Thema macht? Vielleicht keine so tolle Idee, denkt man, den gemeinen Schuldengel mit den Vorwürfen im Nacken, und liest weiter. "Eine blaue Ecke Himmel oben im Fenster, ich rieche die Rosen auf dem Nachttisch und die frische, noch steife Bettwäsche, mir gefallen die eingewirkten blaßblauen Streifen." Der Blick in so einer immer gleichen Krankenwelt wird ein anderer, er legt sich auf Kleinigkeiten. Oder er geht nach innen und sucht in der Vergangenheit: Der Erzähler erinnert sich an die Frauen, die er geliebt hat, an Reisen und Lachen, weil man zu viel gekifft hat. Aha, er hat also mal richtig doll gelacht, als er gekifft hat, meine Güte. Und dann besucht einen wieder der gemeine Engel und sagt: "Du Illiteratin, auf solche kleinen Momente kommt es an im Leben, außerdem gilt Herr Wagner mit diesem Buch als einer der Favoriten für den Preis der Leipziger Buchmesse!"
Natürlich hat der Engel recht, wenn er sagt, dass es auf solche Momente ankommt, aber mir ist trotzdem langweilig. Der Erzähler denkt derweil an seine Tochter, "das Kind", wie er schreibt, und dass er für sie leben will. Und er erinnert sich an eine Wohnung, in der er mal wohnte und die kein Badezimmer hatte, weswegen er den Leuten, die ihn besuchten, erzählte, er gehe im Schwimmbad duschen, was eigentlich gar nicht mehr so richtig stimmte, aber die Leute gucken komisch, wenn einer sich nicht regelmäßig duscht. Soso, und warum soll ich das wissen? Solche Dinge möchte man doch eigentlich nur von jemandem erfahren, den man wirklich, wirklich mag, und nur dann. Andererseits ist die Sprache desjenigen, der da erzählt, so lieb und klar, so unschuldig und freundlich, dass man ihn, dem es auch noch so dreckig geht, beginnt vorsichtig zu mögen.
Seine Mutter ist gestorben, als er zwölf war. Und Rebecca ist auch gestorben, eine Freundin, an die er sich immer wieder mal erinnert. Einfach von einem Lieferwagen überfahren worden, hatte keinen besonderen Grund - und bei diesem gesammelten Lebensmist bleibt er, der da im Bett liegt und nicht weiß, ob er je wieder gesund wird, so vollkommen ruhig. Wird nie ausfallend, erzählt ganz langsam und präzise, das heißt "ohne Pathos", wie der Klappentext stolz verspricht, was doch bemerkenswert ist, denn: Ist es ein Wert an sich, "ohne Pathos" zu erzählen? Darf man nicht voller Pathos sein, wenn man todkrank ist? Und ist es nicht das Allerpathetischste, dann ganz ohne Pathos zu sein? Und wie vermessen ist der implizite Anspruch an einen halbtoten Erzähler, nicht so ein Drama daraus zu machen?
Das ist wie im Draußen, im echten Leben, wo die guten Kranken diejenigen sind, die ihre Krankheit tapfer tragen und anderen damit nicht zu sehr auf die Nerven gehen, denn man hat einfach nicht genug Platz und Zeit für das Gefühl, welches es brauchte, um wirklich an kranke Menschen zu denken und sie irgendwie in den gesunden Tagen der Außenwelt vorkommen zu lassen. Vielleicht ist deswegen die leise, reduzierte Sprache der einzig mögliche, der gewissermaßen gesellschaftsfähige Ton. Oder das Lachen über den Tod, was natürlich traurig ist, aber der Tod ist ja auch etwas Trauriges. David Wagner hat dafür eine Super-Methode entwickelt, für die man ihn beim Lesen absolut und uneingeschränkt toll findet. Kurz bevor der Erzähler den Anruf erhält, dass es für ihn eine passende Spenderleber gibt, wird die reflektierende Miniaturenfolge unterbrochen. Es folgt eine kommentarlose Auflistung kurioser Todesfälle, die er Zeitungsmeldungen entnommen und zusammenmontiert hat: "Der Schafsbock: Einer 29 Jahre alten Frau aus Simbach / fiel bei einem Spaziergang durch die Stadt Braunau / ein tags zuvor ausgerissener / in Panik vor einen nahenden Zug / von einer Eisenbahnbrücke springender Schafsbock / auf den Kopf / die Frau / kam mit Prellungen und Blutergüssen / ins Krankenhaus / wo sie / (Mutter zweier Kinder) / am Samstagabend / überraschend verstarb." Das ist traurig und sehr, sehr komisch, andere Todesarten sind nur traurig, wieder andere grausam, bizarr, banal, total unnötig.
Der Erzähler selbst überlegt, wie wohl der Spender zu Tode kommen wird, welcher ihm zu einer gesunden Leber verhelfen wird. "Möchte ich, daß du stirbst? Nein, ich möchte nicht, daß du, wo auch immer du dich aufhältst, überfahren wirst." Und wenig später, als ein Spender gefunden wurde und er dessen Leber bereits in sich trägt: "Und wie war deine Beerdigung? So lange kann die doch noch nicht her sein. Tut mir leid, daß ich nicht da war." Das ist ziemlich süß. Der Erzähler fragt sich, wer ihm die Leber geschenkt hat, immer wieder, und findet, er müsse dankbar sein, "wie es dankbarer nicht geht". Da ist das Buch dann fast zu Ende, und man hat den gemeinen Engel zum Schweigen gebracht, das heißt: Man freut sich seiner Gesundheit, liest brav weiter, bis das Buch fertig ist, und ist dankbar - und vielleicht passiert damit irgendetwas, was passieren soll, denn das Buch ist, wie sich am Ende herausstellt, ein Dankbarkeitsbuch, nämlich ein Brief an den toten Menschen, dem die Leber gehört, welche jetzt in dem Erzähler lebt, dem man alles, alles Gute wünscht, obwohl man nicht so richtig weiß, warum man ihm so lange gefolgt ist.
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David Wagner: "Leben". Rowohlt, 288 Seiten, 19,95 Euro
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