In »Leben« erzählt Oleg Senzow von seiner Kindheit und Jugend. Die acht autobiografischen Geschichten zeigen »wie er zu dem furchtlosen Menschen wurde, der er heute ist.« (Andrej Kurkow). Übersetzt wurden sie von Irina Bondas, Kati Brunner, Claudia Dathe, Christiane Körner, Alexander Kratochvil, Lydia Nagel, Olga Radetzkaja, Jennie Seitz, Andreas Tretner und Thomas Weiler.Mit einem Vorwort von Andrej Kurkow.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.2019Er träumt von Bratkartoffeln
Erinnerungen in der Not: Oleg Senzows Geschichten
Vielleicht gibt es auch für passionierte Leser so etwas wie einen spezifischen kategorischen Imperativ, den man etwa so formulieren könnte: Lies immer auch Texte derer, die wegen ihrer Werke eingesperrt und verfolgt werden, damit sie und ihr (literarischer) Kampf nicht vergessen werden. Gerade erst hat uns jedenfalls der ukrainische Autor Andrej Kurkow an eine ethische Dimension der Lektürewahl erinnert, wenn er in seinem Vorwort zum (Kurz-)Geschichtenband seines in Russland inhaftierten Landsmannes Oleg Senzow schreibt: "Solange er noch dort ist, ist es das Geringste, was wir für ihn tun können, seine Texte zu lesen. Die, die bereits erschienen sind, und die, die er dort schreibt." Aus seinem Gefängnis irgendwo am Polarkreis gelangen momentan keine Arbeiten des 42 Jahre alten Filmemachers und Autors zu uns, aber einer vom ukrainischen PEN initiierten Gemeinschaftsaktion, an der zehn Übersetzerinnen und Übersetzer sowie der Verlag Voland und Quist mitwirkten, ist es zu verdanken, dass zumindest sieben autobiographische Erzählungen Senzows (sowie ein kurzer literarischer Lebenslauf) aus dem Jahr 2015 nun auf Deutsch vorliegen. In diesen berichtet er von einer "glücklichen" und "lichten" Kindheit auf der Krim, die gleichwohl auch von Verlust, Gewalt und Ausgrenzung bestimmt war.
Die hellen Momente überwiegen in den ersten Erzählungen, in denen Senzow Erinnerungen heraufbeschwört, die wohl vielen Lesern bekannt vorkommen dürften, die in den achtziger Jahren auf dem Land groß geworden sind - egal, ob vor oder hinter dem Eisernen Vorhang: "Es ist das eindrücklichste Bild aus meiner Kindheit, ich muss nur die Augen schließen, dann erlebe ich alles wie damals: die Straße, die Dämmerung, das Spiel, den Bratkartoffelduft, die Musik - am liebsten würde ich den Atem anhalten und bis in alle Ewigkeit genau dort bleiben, obwohl der Moment eigentlich schon die Ewigkeit ist. Wenn Sie als Kind nie einen Sommer auf dem Dorf verbracht haben, wenn Sie nie in der Dämmerung mit Freunden Verstecken gespielt haben, dann hatten Sie keine richtige Kindheit." Zu dieser "richtigen" Kindheit gehören für den Erzähler die Zärtlichkeit der Eltern so wie die Liebe zu Tieren - "vor allem zu den eigenen Haustieren". Das mag auf den ersten Blick allzu glatt klingen, doch Senzow ist ein guter Autor und entgeht natürlich der Falle der alles harmonisierenden Verklärung, denn auch ganz andere Erfahrungen haben ihn geprägt: So erinnert er sich daran, wie sein erster Hund Tusik, ohnehin schon eine gequälte Kreatur, von irgendwem direkt vor dem Haus der Familie erschossen wird. Dieser erste große Verlust im Leben des jungen Oleg wiederum ruft dem Erzähler sogleich einen anderen, noch schlimmeren Schmerz ins Gedächtnis zurück: Auf den frühen Tod seines Vaters, eines alkoholabhängigen Lastwagenfahrers, kann er zunächst aber ebenso kaum reagieren, alles erscheint ihm "wie in einem wattigen Traum".
Der literarisch interessierte, sprachlich sehr begabte Junge, dessen Aufsätze zu seinem eigenen Entsetzen und zum Neid der Schulkameraden von den Lehrern vorgelesen werden, wird bald auch "zum Paria", zum "letzten Menschen in der Klasse": Fünf lange Jahre dauert sein Martyrium, bei dem "der tägliche Psychokrieg, aktiv betrieben von den einen, mitgetragen von den anderen", schlimmer ist als "die körperliche Gewalt oder die Beleidigungen". Doch Senzow gibt nicht auf, will "dazugehören, ohne mich selbst zu verleugnen, doch das schien nicht zu gehen. Also blieb mir nichts übrig als einzustecken und durchzuhalten. Ob ich deshalb so ein Sturkopf geworden bin? Schon möglich."
Auch die familiäre Bande ist dann doch nicht ganz so stark, wie sie anfänglich beim Rückblick auf die "lichte" Kindheit erscheinen mochte: "Ich hatte eine Oma und konnte sie nicht leiden. So was kommt vor. Sie war nicht besonders intelligent, irgendwie abstoßend, dicklich und alt." Die ungewollte Frau wird von der Familie in ein Heim abgeschoben, immer seltener besucht und irgendwann einfach für tot gehalten, was sich als Irrtum herausstellt. Erst Jahre später stirbt sie einsam und völlig verlassen. Noch immer scheint der Erzähler schmerzlich berührt von der eigenen Gefühlskälte - wie in der letzten Geschichte auch von der Sprachlosigkeit, die zwischen ihm und einem Jugendfreund herrscht, als beide sich nach Jahren wiedersehen: der eine, Senzow, in einem eigenen Auto sitzend, der andere, Makar, auf Stümpfen humpelnd, weil er sich im Suff die Beine abgefroren hat.
Oleg Senzows beeindruckende Geschichten zeugen in einem doppelten Sinne von der Vergangenheit: Sie erzählen, wie ein Künstler wurde, und sie sind entstanden zu einer Zeit, als er noch nicht inhaftiert war. Wir müssen hoffen und dafür kämpfen, bald auch wieder etwas aus der Gegenwart dieses mutigen Autors hören zu können.
SASCHA FEUCHERT
Oleg Senzow: "Leben".
Geschichten.
Aus dem Ukrainischen von Irina Bondas und anderen.
Verlag Voland & Quist,
Dresden 2019. 112 S.,
geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erinnerungen in der Not: Oleg Senzows Geschichten
Vielleicht gibt es auch für passionierte Leser so etwas wie einen spezifischen kategorischen Imperativ, den man etwa so formulieren könnte: Lies immer auch Texte derer, die wegen ihrer Werke eingesperrt und verfolgt werden, damit sie und ihr (literarischer) Kampf nicht vergessen werden. Gerade erst hat uns jedenfalls der ukrainische Autor Andrej Kurkow an eine ethische Dimension der Lektürewahl erinnert, wenn er in seinem Vorwort zum (Kurz-)Geschichtenband seines in Russland inhaftierten Landsmannes Oleg Senzow schreibt: "Solange er noch dort ist, ist es das Geringste, was wir für ihn tun können, seine Texte zu lesen. Die, die bereits erschienen sind, und die, die er dort schreibt." Aus seinem Gefängnis irgendwo am Polarkreis gelangen momentan keine Arbeiten des 42 Jahre alten Filmemachers und Autors zu uns, aber einer vom ukrainischen PEN initiierten Gemeinschaftsaktion, an der zehn Übersetzerinnen und Übersetzer sowie der Verlag Voland und Quist mitwirkten, ist es zu verdanken, dass zumindest sieben autobiographische Erzählungen Senzows (sowie ein kurzer literarischer Lebenslauf) aus dem Jahr 2015 nun auf Deutsch vorliegen. In diesen berichtet er von einer "glücklichen" und "lichten" Kindheit auf der Krim, die gleichwohl auch von Verlust, Gewalt und Ausgrenzung bestimmt war.
Die hellen Momente überwiegen in den ersten Erzählungen, in denen Senzow Erinnerungen heraufbeschwört, die wohl vielen Lesern bekannt vorkommen dürften, die in den achtziger Jahren auf dem Land groß geworden sind - egal, ob vor oder hinter dem Eisernen Vorhang: "Es ist das eindrücklichste Bild aus meiner Kindheit, ich muss nur die Augen schließen, dann erlebe ich alles wie damals: die Straße, die Dämmerung, das Spiel, den Bratkartoffelduft, die Musik - am liebsten würde ich den Atem anhalten und bis in alle Ewigkeit genau dort bleiben, obwohl der Moment eigentlich schon die Ewigkeit ist. Wenn Sie als Kind nie einen Sommer auf dem Dorf verbracht haben, wenn Sie nie in der Dämmerung mit Freunden Verstecken gespielt haben, dann hatten Sie keine richtige Kindheit." Zu dieser "richtigen" Kindheit gehören für den Erzähler die Zärtlichkeit der Eltern so wie die Liebe zu Tieren - "vor allem zu den eigenen Haustieren". Das mag auf den ersten Blick allzu glatt klingen, doch Senzow ist ein guter Autor und entgeht natürlich der Falle der alles harmonisierenden Verklärung, denn auch ganz andere Erfahrungen haben ihn geprägt: So erinnert er sich daran, wie sein erster Hund Tusik, ohnehin schon eine gequälte Kreatur, von irgendwem direkt vor dem Haus der Familie erschossen wird. Dieser erste große Verlust im Leben des jungen Oleg wiederum ruft dem Erzähler sogleich einen anderen, noch schlimmeren Schmerz ins Gedächtnis zurück: Auf den frühen Tod seines Vaters, eines alkoholabhängigen Lastwagenfahrers, kann er zunächst aber ebenso kaum reagieren, alles erscheint ihm "wie in einem wattigen Traum".
Der literarisch interessierte, sprachlich sehr begabte Junge, dessen Aufsätze zu seinem eigenen Entsetzen und zum Neid der Schulkameraden von den Lehrern vorgelesen werden, wird bald auch "zum Paria", zum "letzten Menschen in der Klasse": Fünf lange Jahre dauert sein Martyrium, bei dem "der tägliche Psychokrieg, aktiv betrieben von den einen, mitgetragen von den anderen", schlimmer ist als "die körperliche Gewalt oder die Beleidigungen". Doch Senzow gibt nicht auf, will "dazugehören, ohne mich selbst zu verleugnen, doch das schien nicht zu gehen. Also blieb mir nichts übrig als einzustecken und durchzuhalten. Ob ich deshalb so ein Sturkopf geworden bin? Schon möglich."
Auch die familiäre Bande ist dann doch nicht ganz so stark, wie sie anfänglich beim Rückblick auf die "lichte" Kindheit erscheinen mochte: "Ich hatte eine Oma und konnte sie nicht leiden. So was kommt vor. Sie war nicht besonders intelligent, irgendwie abstoßend, dicklich und alt." Die ungewollte Frau wird von der Familie in ein Heim abgeschoben, immer seltener besucht und irgendwann einfach für tot gehalten, was sich als Irrtum herausstellt. Erst Jahre später stirbt sie einsam und völlig verlassen. Noch immer scheint der Erzähler schmerzlich berührt von der eigenen Gefühlskälte - wie in der letzten Geschichte auch von der Sprachlosigkeit, die zwischen ihm und einem Jugendfreund herrscht, als beide sich nach Jahren wiedersehen: der eine, Senzow, in einem eigenen Auto sitzend, der andere, Makar, auf Stümpfen humpelnd, weil er sich im Suff die Beine abgefroren hat.
Oleg Senzows beeindruckende Geschichten zeugen in einem doppelten Sinne von der Vergangenheit: Sie erzählen, wie ein Künstler wurde, und sie sind entstanden zu einer Zeit, als er noch nicht inhaftiert war. Wir müssen hoffen und dafür kämpfen, bald auch wieder etwas aus der Gegenwart dieses mutigen Autors hören zu können.
SASCHA FEUCHERT
Oleg Senzow: "Leben".
Geschichten.
Aus dem Ukrainischen von Irina Bondas und anderen.
Verlag Voland & Quist,
Dresden 2019. 112 S.,
geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Oleg Senzows beeindruckende Geschichten zeugen in einem doppelten Sinne von der Vergangenheit: Sie erzählen, wie [er] ein Künstler wurde [...]« Sascha Feuchert, Frankfurter Allgemeine Zeitung »Es sind Geschichten verpasster Gelegenheiten, für andere da zu sein [...] Geschichten über den Wunsch, im richtigen Moment das Richtige zu tun, Courage zu zeigen.« Natascha Freundel, Berliner Zeitung »Seine Kindergeschichten lassen bereits etwas ahnen von der Unbeugsamkeit des Erwachsenen.« Andreas Lueg, MDR Artour »[A]uch unabhängig von dem politischen Kontext lohnt es sich, dieses Buch mit seiner dichten, eindrücklichen, tief schürfenden Erzählweise zu lesen.« Jens Uthoff, taz »Seine Geschichten zeigen ihn als idealistischen, etwas naiven, möglicherweise sogar selbstgerechten Menschen. Aber es brauchte eine geopolitische Krise und eine gelenkte Justiz, damit diese Eigenschaften lebensgefährlich wurden.« Sonja Zekri, Süddeutsche Zeitung »[E]s gelingt ihm, in einer unverblümten Direktheit und mit einem Schuss sympathischer Melancholie von seiner Ich-Werdung zu erzählen - und von den kleinen, großen Momenten, die das Leben zum Leben machen [...]« Ingo Petz, Der Standard