Die derzeitigen Krisenerfahrungen erinnern uns daran, wie fragil scheinbar stabile demokratische Institutionen sind. Auch dem Grundgesetz war seine Langlebigkeit nicht in die Wiege gelegt, nicht nur, weil es als Provisorium konzipiert war. Sogar Dolf Sternberger, der Schöpfer des Begriffs Verfassungspatriotismus, beklagte sich in einem Brief an seine Freundin Hannah Arendt anfangs über das "schwächliche Bonner Machwerk" und war skeptisch, ob und wie die demokratische Ordnung mit Leben zu füllen sei. Als Aristoteliker wusste er: Die Bürgerinnen und Bürger machen den Staat aus.Die 1956 erschienenen Überlegungen zur "lebenden Verfassung" in statu nascendi werfen Schlaglichter auf die Entwicklungsdynamiken der frühen Bundesrepublik und blenden kritische Aspekte nicht aus. Sternberger hatte diese Schrift, die ursprünglich 1956 im Hain Verlag erschien, nie wieder veröffentlicht. Damals war er in Sorge um die Funktionalität der jungen Demokratie, der er aber nach und nach immer bessere Überlebenschancen einräumte. Der Nestor der deutschen Politikwissenschaft demonstriert nicht nur seine ideengeschichtliche Meisterschaft, sondern kombiniert methodisch reflektiert Theorie und Empirie des Parlamentarismus. Die Adenauer-Ära muss sich am angelsächsischen Vorbild messen lassen. Sternberger vermittelte den Nachkriegsdeutschen die wichtige Rolle der Opposition und die Erkenntnis, dass es demokratische Parteien nur im Plural geben kann. Insgesamt ein erstaunlich aktuelles Werk, das uns auch gegenwärtige Probleme der repräsentativen Demokratie besser verstehen lässt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2023Wenn Polarisierung destruktiv wird
Dolf Sternbergers alte Texte zu aktuellen Fragen geben Denkanstöße für die Gegenwart.
Dolf Sternberger war ein Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Journalismus. 1932 legte er eine philosophische Dissertation über Heideggers Existentialontologie vor, die sich gut als Ausgangspunkt für eine akademische Karriere geeignet hätte. Wenige Monate später kamen aber die Nationalsozialisten an die Macht. Sternberger nahm das zum Anlass, den ersten Buchstaben seines Vornamens zu streichen und Redakteur der "Frankfurter Zeitung" zu werden. Ein freies Publizieren war dort noch eher möglich als an den Universitäten.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte Sternberger in die Wissenschaft zurück. Von Heidelberg aus prägte er die Politikwissenschaft der jungen Bundesrepublik. Zunächst war er Lehrbeauftragter, 1962 wurde er Ordinarius. Gleichzeitig hielt der gebürtige Wiesbadener als regelmäßiger Autor und Berater der F.A.Z. Verbindung zum Journalismus. Bis in die 1980er-Jahre brachte er sich in gesellschaftliche Debatten ein. Wenige Monate vor dem Mauerfall starb er in Frankfurt am Main.
Im Jahr 1956 veröffentlichte Sternberger seine Aufsatzsammlung "Lebende Verfassung". Die sechs Texte gehen der Frage nach, was Politikwissenschaft leisten kann. Sie erschließen zugleich das neue Staatsorganisationsrecht. Auch darüber hinaus erfährt der Leser viel Interessantes über die Frühphase der Bundesrepublik.
Die Texte helfen, die Grundlagen unseres Staates zu erfassen. Leider gerieten sie dennoch zunächst in Vergessenheit. Dazu trug der Autor allerdings selbst bei: Als er seine "Gesammelten Schriften" zusammenstellte, fehlte das Werk. Die jetzt erschienene Neuauflage der Europäischen Verlagsanstalt schließt diese Lücke. Sie verzichtet auf Randkommentare und nachträgliche Fußnoten, wie sie bei solcher Gelegenheit oftmals in historische Texte eingefügt werden. Sieht man von einer Einleitung des Gießener Juraprofessors Steffen Augsberg ab, ist das Werk so geblieben, wie Sternberger es geschrieben hat.
Der Leser erhält die Möglichkeit, ohne Ablenkung in die Gedankenwelt des vielseitigen Gelehrten einzutauchen. Das lohnt sich. 1956 war die Bundesrepublik erst sieben Jahre alt. Betrachtet Sternberger politische Prozesse, nähert er sich den Begriffen meist suchend und fragend. Ihre Bedeutung war noch nicht so verfestigt wie heute.
Ein Beispiel dafür ist die Art, wie Sternberger über Koalitionen schreibt. In seinen Texten kategorisiert er die Zusammenarbeit verschiedener Parteien. Dabei wird erkennbar, dass schriftliche Koalitionsverträge, wie sie heute üblich sind, in den 1950er-Jahren noch nicht selbstverständlich waren. Selbst der Begriff des "Vertrags" war in diesem Kontext noch umstritten, auch wenn Sternberger ihn mit guten Argumenten verteidigt.
In seinen Aufsätzen beschäftigt sich der Autor auch mit parteiübergreifenden Bündnissen, die auf einem "merkwürdigen Zwischenbereich der Tolerierung" basieren. Allparteienregierungen und Kabinetten, die "immerhin noch all diejenigen Parteien in sich repräsentieren, von denen die Treue zur Verfassung erwartetet werden konnte", gilt ebenfalls seine Aufmerksamkeit. Damit unterscheidet sich das Werk von politikwissenschaftlichen Abhandlungen späterer Zeit.
In den 1970er- und 1980er-Jahren waren Koalitionsbildungen selten komplex, von historischen Besonderheiten wie Holger Börners "hessischen Verhältnissen" abgesehen. Auch in der Staatsrechtslehre standen daher andere Themen im Fokus.
Heute haben Sternbergers grundlegende Texte wieder an Aktualität gewonnen. Koalitionsbildungen sind abermals kompliziert geworden. Dreiparteienbündnisse sind keine Seltenheit, die Koalitionsverträge oft Hunderte Seiten lang. Dem politischen Profil der Parteien nützt das nicht. In Thüringen regiert gar eine Koalition, die keine parlamentarische Mehrheit hat. Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre werden nicht umhin kommen, sich der Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg wieder vermehrt zu widmen. Sternbergers Texte sind dafür ein guter Ausgangspunkt.
Das gilt auch für ein anderes Sujet, das er behandelt: Der Autor untersucht eingehend, was Opposition ausmacht. Deren Duldung, Anerkennung, Legitimierung und Institutionalisierung im parlamentarischen Raum sieht er als "eines der erstaunlichsten und reifsten Erzeugnisse politischer Kultur". Die Lebendigkeit der Verfassung basiere auf der Polarität zwischen Regierung und Opposition. Wird die Mehrheitsbildung im Parlament aber komplexer, kann das auch jene von Sternberger beschriebene Wechselwirkung beeinträchtigen. Im sächsischen Landtag gehören alle Oppositionsabgeordnete Parteien an, die zumindest in Teilen als extremistisch gelten. In einer solchen Konstellation gibt es zwar viel Polarisierung. Sie wirkt aber nicht mehr konstruktiv für die Demokratie. STEPHAN KLENNER
Dolf Sternberger: Lebende Verfassung. Mit einer Einleitung von Steffen Augsberg.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2022. 177 S., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dolf Sternbergers alte Texte zu aktuellen Fragen geben Denkanstöße für die Gegenwart.
Dolf Sternberger war ein Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Journalismus. 1932 legte er eine philosophische Dissertation über Heideggers Existentialontologie vor, die sich gut als Ausgangspunkt für eine akademische Karriere geeignet hätte. Wenige Monate später kamen aber die Nationalsozialisten an die Macht. Sternberger nahm das zum Anlass, den ersten Buchstaben seines Vornamens zu streichen und Redakteur der "Frankfurter Zeitung" zu werden. Ein freies Publizieren war dort noch eher möglich als an den Universitäten.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte Sternberger in die Wissenschaft zurück. Von Heidelberg aus prägte er die Politikwissenschaft der jungen Bundesrepublik. Zunächst war er Lehrbeauftragter, 1962 wurde er Ordinarius. Gleichzeitig hielt der gebürtige Wiesbadener als regelmäßiger Autor und Berater der F.A.Z. Verbindung zum Journalismus. Bis in die 1980er-Jahre brachte er sich in gesellschaftliche Debatten ein. Wenige Monate vor dem Mauerfall starb er in Frankfurt am Main.
Im Jahr 1956 veröffentlichte Sternberger seine Aufsatzsammlung "Lebende Verfassung". Die sechs Texte gehen der Frage nach, was Politikwissenschaft leisten kann. Sie erschließen zugleich das neue Staatsorganisationsrecht. Auch darüber hinaus erfährt der Leser viel Interessantes über die Frühphase der Bundesrepublik.
Die Texte helfen, die Grundlagen unseres Staates zu erfassen. Leider gerieten sie dennoch zunächst in Vergessenheit. Dazu trug der Autor allerdings selbst bei: Als er seine "Gesammelten Schriften" zusammenstellte, fehlte das Werk. Die jetzt erschienene Neuauflage der Europäischen Verlagsanstalt schließt diese Lücke. Sie verzichtet auf Randkommentare und nachträgliche Fußnoten, wie sie bei solcher Gelegenheit oftmals in historische Texte eingefügt werden. Sieht man von einer Einleitung des Gießener Juraprofessors Steffen Augsberg ab, ist das Werk so geblieben, wie Sternberger es geschrieben hat.
Der Leser erhält die Möglichkeit, ohne Ablenkung in die Gedankenwelt des vielseitigen Gelehrten einzutauchen. Das lohnt sich. 1956 war die Bundesrepublik erst sieben Jahre alt. Betrachtet Sternberger politische Prozesse, nähert er sich den Begriffen meist suchend und fragend. Ihre Bedeutung war noch nicht so verfestigt wie heute.
Ein Beispiel dafür ist die Art, wie Sternberger über Koalitionen schreibt. In seinen Texten kategorisiert er die Zusammenarbeit verschiedener Parteien. Dabei wird erkennbar, dass schriftliche Koalitionsverträge, wie sie heute üblich sind, in den 1950er-Jahren noch nicht selbstverständlich waren. Selbst der Begriff des "Vertrags" war in diesem Kontext noch umstritten, auch wenn Sternberger ihn mit guten Argumenten verteidigt.
In seinen Aufsätzen beschäftigt sich der Autor auch mit parteiübergreifenden Bündnissen, die auf einem "merkwürdigen Zwischenbereich der Tolerierung" basieren. Allparteienregierungen und Kabinetten, die "immerhin noch all diejenigen Parteien in sich repräsentieren, von denen die Treue zur Verfassung erwartetet werden konnte", gilt ebenfalls seine Aufmerksamkeit. Damit unterscheidet sich das Werk von politikwissenschaftlichen Abhandlungen späterer Zeit.
In den 1970er- und 1980er-Jahren waren Koalitionsbildungen selten komplex, von historischen Besonderheiten wie Holger Börners "hessischen Verhältnissen" abgesehen. Auch in der Staatsrechtslehre standen daher andere Themen im Fokus.
Heute haben Sternbergers grundlegende Texte wieder an Aktualität gewonnen. Koalitionsbildungen sind abermals kompliziert geworden. Dreiparteienbündnisse sind keine Seltenheit, die Koalitionsverträge oft Hunderte Seiten lang. Dem politischen Profil der Parteien nützt das nicht. In Thüringen regiert gar eine Koalition, die keine parlamentarische Mehrheit hat. Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre werden nicht umhin kommen, sich der Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg wieder vermehrt zu widmen. Sternbergers Texte sind dafür ein guter Ausgangspunkt.
Das gilt auch für ein anderes Sujet, das er behandelt: Der Autor untersucht eingehend, was Opposition ausmacht. Deren Duldung, Anerkennung, Legitimierung und Institutionalisierung im parlamentarischen Raum sieht er als "eines der erstaunlichsten und reifsten Erzeugnisse politischer Kultur". Die Lebendigkeit der Verfassung basiere auf der Polarität zwischen Regierung und Opposition. Wird die Mehrheitsbildung im Parlament aber komplexer, kann das auch jene von Sternberger beschriebene Wechselwirkung beeinträchtigen. Im sächsischen Landtag gehören alle Oppositionsabgeordnete Parteien an, die zumindest in Teilen als extremistisch gelten. In einer solchen Konstellation gibt es zwar viel Polarisierung. Sie wirkt aber nicht mehr konstruktiv für die Demokratie. STEPHAN KLENNER
Dolf Sternberger: Lebende Verfassung. Mit einer Einleitung von Steffen Augsberg.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2022. 177 S., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Stephan Klenner bedauert, dass diese Texte des einflussreichen Politikwissenschaftlers Dolf Sternberger in Vergessenheit geraten waren, denn sie gingen grundsätzlich der Frage nach, was Politikwissenschaft leisten kann. Dass die Herausgeber dem Band mit Beobachtungen aus der frühen Bundesrepublik keinerlei Kommentare, Einführung oder Erklärung beifügen, kann Klenner positiv finden: Gerade weil das politische Vokabular in den fünfziger Jahre, als Sternberger schrieb, noch nicht so festgelegt war, liest man seine Gedanken über Koalitionen, Opposition und politische Kultur ganz unverfälscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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