Im Oktober 2009, drei Wochen, nachdem bekannt wurde, daß sie den Nobelpreis für Literatur erhalten würde, stellte sich Herta Müller in Leipzig den Fragen des Schriftstellers Michael Lentz. Im Gespräch entwickelt sie zentrale ästhetische und existentielle Aspekte ihrer Arbeit. Sie macht deutlich, daß Leben und Schreiben angesichts ihrer Erfahrungen mit dem rumänischen Geheimdienst nicht mehr unabhängig voneinander zu denken waren und sind. Die Genauigkeit ihrer Poesie war und ist für sie Selbstschutz. Vor diesem Hintergrund entwickelte sie ihre detailreiche Erinnerungskunst, ihre Generationen übergreifenden Herkunfts- und Heimaterforschungen, mit denen sie dem gesellschaftlichen Status quo auf den Grund geht.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.01.2011Ich hab dann halt auch mein Registrierbüro aufgemacht
Die Nobelpreisträgerin Herta Müller gibt Auskunft über ihren Literaturbegriff unter den Bedingungen der Diktatur
Sie sucht nach dem Schlüssel, er fällt mit der Tür ins Haus. Beiden geht es darum, die Schwelle zu überwinden, hinter der das Gespräch liegt, in das sie miteinander kommen wollen. Doch wenn jemand gleich als erstes die schwerste aller Fragen stellt, wie Michael Lentz es tat, als er im Oktober 2009 die gerade ernannte Nobelpreisträgerin Herta Müller interviewte, kann man schon verstehen, dass die Schriftstellerin zunächst ein wenig unschlüssig in der Handtasche kramt.
„Warum Schreiben?“ Die einleitenden Sätze Herta Müllers über ihren Literaturbegriff wirken ausweichend, wenn sie sagt, „Arbeiten gibt Halt“ und schaffe eine Privatheit, in die niemand hineinschaue. Doch was sie damit meint, wird klar, als sie über den rumänischen Überwachungsstaat unter Ceausescu spricht und über den Geheimdienst, der sie gängelte und bespitzelte. Da sei der Widerwille gegen die Propaganda und ihre „Angstdressur“ als Widerwille auch in ihr Schreiben gelangt und habe sie zur Genauigkeit, zur Suche nach dem mot juste gezwungen. „Ich hab dann halt auch mein Registrierbüro aufgemacht“, sagt Herta Müller lapidar und beschreibt das präzise Beobachten als ideologische Entgiftungskur.
Irgendwann war sie so weit, dass sie mit dem Gedanken an Selbstmord spielte. Doch dann sei ihr klar geworden, dass sie damit das Ziel der Securitate radikaler erfüllt hätte als durch eine Mitarbeit, zu der sie erpresst werden sollte. Als der Geheimdienst ihr den Todeswunsch einpflanzte, habe er zugleich diesen Wunsch „konfisziert“, die Lebensmüdigkeit schlug um in Lebens- und eben auch „Worthunger“.
Obwohl sich Leben und Schreiben in der existentiellen Poetik der Herta Müller nicht trennen lassen, erteilt sie einem planen Realismusbegriff eine Absage. Zwar sagt sie, dass der Alltag die Inhalte ihres Schreibens bestimmten und die Inhalte den Stil, aber auch, dass die Tatsachen die Wörter, mit denen man sie später aufschreibt, gar nicht ertragen hätten. „Eins zu eins – Tatsache und Satz, das wird nichts. Die Erinnerung ist ein abstrakter Spiegel im Kopf, und der Wunsch, es zu sagen, erzwingt ein neues Erleben durch die Sprache. Da stehen im Schreiben zwei Künstlichkeiten voreinander und schauen sich an.“
Besser kann man die Sache der Literatur nicht auf den Punkt bringen, und so ist es nicht nur ein großes Glück, dass Herta Müller und ihr Kollege Michael Lentz schließlich doch noch in ein wunderbar intensives und erhellendes Gespräch hineingefunden haben, sondern auch, dass man es nun in der Edition Suhrkamp nachlesen kann. Denn dieses schmale Bändchen ist ein Glanzstück der Poetologie. CHRISTOPHER SCHMIDT
HERTA MÜLLER: Lebensangst und Worthunger. Im Gespräch mit Michael Lentz. Edition Suhrkamp, Berlin 2010. 53 Seiten, 8 Euro.
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Die Nobelpreisträgerin Herta Müller gibt Auskunft über ihren Literaturbegriff unter den Bedingungen der Diktatur
Sie sucht nach dem Schlüssel, er fällt mit der Tür ins Haus. Beiden geht es darum, die Schwelle zu überwinden, hinter der das Gespräch liegt, in das sie miteinander kommen wollen. Doch wenn jemand gleich als erstes die schwerste aller Fragen stellt, wie Michael Lentz es tat, als er im Oktober 2009 die gerade ernannte Nobelpreisträgerin Herta Müller interviewte, kann man schon verstehen, dass die Schriftstellerin zunächst ein wenig unschlüssig in der Handtasche kramt.
„Warum Schreiben?“ Die einleitenden Sätze Herta Müllers über ihren Literaturbegriff wirken ausweichend, wenn sie sagt, „Arbeiten gibt Halt“ und schaffe eine Privatheit, in die niemand hineinschaue. Doch was sie damit meint, wird klar, als sie über den rumänischen Überwachungsstaat unter Ceausescu spricht und über den Geheimdienst, der sie gängelte und bespitzelte. Da sei der Widerwille gegen die Propaganda und ihre „Angstdressur“ als Widerwille auch in ihr Schreiben gelangt und habe sie zur Genauigkeit, zur Suche nach dem mot juste gezwungen. „Ich hab dann halt auch mein Registrierbüro aufgemacht“, sagt Herta Müller lapidar und beschreibt das präzise Beobachten als ideologische Entgiftungskur.
Irgendwann war sie so weit, dass sie mit dem Gedanken an Selbstmord spielte. Doch dann sei ihr klar geworden, dass sie damit das Ziel der Securitate radikaler erfüllt hätte als durch eine Mitarbeit, zu der sie erpresst werden sollte. Als der Geheimdienst ihr den Todeswunsch einpflanzte, habe er zugleich diesen Wunsch „konfisziert“, die Lebensmüdigkeit schlug um in Lebens- und eben auch „Worthunger“.
Obwohl sich Leben und Schreiben in der existentiellen Poetik der Herta Müller nicht trennen lassen, erteilt sie einem planen Realismusbegriff eine Absage. Zwar sagt sie, dass der Alltag die Inhalte ihres Schreibens bestimmten und die Inhalte den Stil, aber auch, dass die Tatsachen die Wörter, mit denen man sie später aufschreibt, gar nicht ertragen hätten. „Eins zu eins – Tatsache und Satz, das wird nichts. Die Erinnerung ist ein abstrakter Spiegel im Kopf, und der Wunsch, es zu sagen, erzwingt ein neues Erleben durch die Sprache. Da stehen im Schreiben zwei Künstlichkeiten voreinander und schauen sich an.“
Besser kann man die Sache der Literatur nicht auf den Punkt bringen, und so ist es nicht nur ein großes Glück, dass Herta Müller und ihr Kollege Michael Lentz schließlich doch noch in ein wunderbar intensives und erhellendes Gespräch hineingefunden haben, sondern auch, dass man es nun in der Edition Suhrkamp nachlesen kann. Denn dieses schmale Bändchen ist ein Glanzstück der Poetologie. CHRISTOPHER SCHMIDT
HERTA MÜLLER: Lebensangst und Worthunger. Im Gespräch mit Michael Lentz. Edition Suhrkamp, Berlin 2010. 53 Seiten, 8 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Friedmar Apel begrüßt Herta Müllers Band "Lebensangst und Worthunger". Im Gespräch mit Michael Lentz berichtet Müller für ihn beeindruckend, wie sie erst durch die Repressionen des rumänischen Geheimdienstes und die Teilnahmslosigkeit der Kollegen zur Schriftstellerin wurde. Gerade im Blick auf die Poetik der Schriftstellerin scheint Apel der Band aufschlussreich. Besonders hebt er in diesen Zusammenhang Müllers Beschreibung der Hintergründe der Entstehung ihres Roman "Atemschaukel" hervor. Auch einige Missverständnisse diesbezüglich werden seines Erachtens im Gespräch ausgeräumt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Besser kann man die Sache der Literatur nicht auf den Punkt bringen, und so ist es nicht nur ein großes Glück, dass Herta Müller und ihr Kollege Michael Lentz schließlich doch noch in ein wunderbar intensives und erhellendes Gespräch hineingefunden haben. Denn dieses schmale Bändchen ist ein Glanzstück der Poetologie.« Christopher Schmidt Süddeutsche Zeitung 20110113