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Am Sterbebett seiner Frau bringt Thomas Platter 1572 im Alter von über 70 Jahren seine Lebenserinnerungen zu Papier. Gewidmet sind sie seinem Sohn Felix, seit kurzem Medizinprofessor und Basler Stadtarzt, und seinen zahlreichen ehemaligen Schülern. Einprägsam erzählt, reiht sich eine Lebensstation an die andere: die Kinderjahre als Hirtenknabe in den Walliser Alpen, das entbehrungsreiche Vagabundieren durch Deutschland als Fahrender Scholar, die religiöse und intellektuelle Ausbildung in Zürich bei Zwingli und Myconius, die Versuche, ein Auskommen als Seiler oder Lehrer zu finden, die…mehr

Produktbeschreibung
Am Sterbebett seiner Frau bringt Thomas Platter 1572 im Alter von über 70 Jahren seine Lebenserinnerungen zu Papier. Gewidmet sind sie seinem Sohn Felix, seit kurzem Medizinprofessor und Basler Stadtarzt, und seinen zahlreichen ehemaligen Schülern. Einprägsam erzählt, reiht sich eine Lebensstation an die andere: die Kinderjahre als Hirtenknabe in den Walliser Alpen, das entbehrungsreiche Vagabundieren durch Deutschland als Fahrender Scholar, die religiöse und intellektuelle Ausbildung in Zürich bei Zwingli und Myconius, die Versuche, ein Auskommen als Seiler oder Lehrer zu finden, die gewinnbringende Tätigkeit als Drucker und schliesslich das langjährige erfolgreiche Wirken als Schulmeister auf Burg in Basel. Stolz und demütig zugleich blickt der dank seiner humanistischen Ausbildung zu Ansehen und Reichtum gekommene Bergbauernsohn zurück. Fast erstaunt darüber, dass er trotz aller Gefahren so lange überlebt hat, legt er dem Sohn ans Herz, Lob und Ehre allein Gott zu geben.

Die Autobiographie, in einem auch heute noch verständlichen Frühneuhochdeutsch erzählt, ist für den Leser ein ganz besonderer Genuss. Er begegnet darin nicht nur einem aussergewöhnlichen Menschen, sondern lernt auch das Alltags- und Kulturleben des 16. Jahrhunderts aus erster Hand kennen.

Alfred Hartmann gab die Lebensbeschreibung 1944 nach Platters autographer Handschrift heraus. Seine bis heute nicht ersetzte Edition wurde für diesen seitengleichen Nachdruck auf Druckfehler hin durchgesehen und um die den Text gliedernden Marginalien der Originalhandschrift ergänzt. Neu ist ausser der Einleitung und dem Register das Nachwort von Holger Jacob-Friesen, welcher der Frage nachgeht, worin die Faszination dieser längst "klassisch" gewordenen Autobiographie für Leser verschiedener Jahrhunderte bestand, wie sich der Blick auf sie änderte und warum sie noch heute Interesse verdient. Die Abbildungen zeigen Seiten aus Platters Handschrift, Bilder von in der Lebensbeschreibung genannten Personen und Örtlichkeiten, aber auch künstlerische Zeugnisse für das Nachwirken der Autobiographie.
Autorenporträt
Alfred Hartmann (1883-1960) wirkte 1908-1956 wie Thomas Platter als Lehrer am Humanistischen Gymnasium Basel. 1944-1953 Präsident der Eidg. Maturitätskommission. Weitere Werke: Erasmus, Lob der Torheit (Übersetzung, 1929), Basilea Latina (Textsammlung, 1931); Thomas More, Utopia (Übersetzung, 1947); Die Amerbachkorrespondenz, Bd. 1-5 (Edition, 1942-1958), Erinnerungen (abgeschlossen 1950, publ. 1989).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.07.1999

Widerschein der Welt
Thomas Platters Leben · Von Hans-Herbert Räkel

Vor fünfhundert Jahren soll in dem Walliser Bergdorf Grächen dem Anthoni Platter und seiner Ehefrau Amilli, geb. Summermatterin, in ärmlichen Verhältnissen ihr letztes Kind Thomas geboren worden sein. Man weiß es, weil dieser Thomas Platter im Jahre 1572 als Schulrektor in Basel auf Wunsch seines berühmten Sohns, des Medizinprofessors Felix Platter, und anderer berühmter Leute, die einst seine Schüler gewesen waren, sein Leben aufgeschrieben hat. Das Jahr seiner Geburt kennt er nur vom Hörensagen, und Alfred Hartmann, der die eigenhändige Niederschrift des Werks 1944 mit einem Vorwort von Walter Muschg herausgegeben hat, mokierte sich über die "Infantilität" des Autors, dessen Geburt er gegen 1507 ansetzt. "Anläßlich von Thomas Platters 500. Geburtstag" erscheint Hartmanns Ausgabe neu, ohne das Vorwort von Muschg, aber mit einer Übersicht zum Leben Platters von Ueli Dill und einer Rezeptions- und Forschungsgeschichte von Holger Jacob-Friesen. Ueli Dill macht sich die Zweifel seines Vorgängers am Geburtsdatum des Helden zu eigen und läßt Thomas Platter um 1503/04 das Licht der Welt erblicken.

Thomas Platter setzte sich, kurz vor dem Ableben seiner Frau, am 28. Januar 1572 hin, um sein Leben aufzuschreiben. Am Ende angekommen, ergreift ihn das Bedürfnis, die Ereignisse zu einem Sinn zu bündeln, und er wird feierlich: Er wolle zeigen, daß Gott ihn durch seinen Engel behütet hat, bis er in Basel vier Häuser sein eigen nennen, ein hohes und ehrenvolles Amt bekleiden, bedeutend gewordene Leute ausbilden und den Ehrenwein mehrerer berühmter Städte in Empfang nehmen konnte. Den Sohn Felix ermahnt er, seinen eigenen Wohlstand und seinen eigenen Erfolg als eine Art von Fortsetzung des väterlichen Lebenslaufs allein Gott zuzuschreiben. Die fromme Verkündigung der Güte Gottes und die Lebenslehre an den Sohn rechtfertigen es vordergründig, dieses Leben als "Vita" aufzuschreiben.

Auf Thomas Platter liege "der Widerschein der welthistorischen Vorgänge, die um das Jahr 1500 die abendländische Welt veränderten", schrieb Walter Muschg. Diese Funktion hat er sich gern selber zugeschrieben. Er notiert seine Begegnungen mit bedeutenden Leuten wie Erasmus von Rotterdam. Er legt Wert auf die Dienste, die er Zwingli erwiesen hat, und schreibt sich das Verdienst zu, die Anstellung seines Lehrers Myconius in Basel organisiert zu haben. Trotzdem wird man den Eindruck nicht los, daß hier jemand den Sinn der Erzählung, also die Lehre an den Sohn, den Beweis der göttlichen Güte, sein bescheidenes, aber gelungenes Eingreifen in die großen Bewegungen der Zeit, als eine Art von Vorwand benutzt. Die Ereignisse lenken das Interesse zurück auf den Autor. Die humanistischen Vorgänger und Zeitgenossen Platters machten sich interessant, indem sie ihre Erlebnisse und Gedanken in lateinische Verse faßten und diese mit lateinischen Widmungsgedichten hochgestellten Personen oder berühmten Humanisten zueigneten. Thomas Platter hat seine Lebensbeschreibung nicht in Verse gefaßt und nicht auf Latein geschrieben, das ihm doch als gelehrte Umgangssprache näher lag denn das Deutsche. Es gibt bei ihm ein neues und naives Vertrauen auf die Materie, eine Überzeugung, daß das Leben unliterarisch sei - und daß es sich lohne, genau dies zu dokumentieren. Natürlich gewinnt er eine solche Überzeugung aus der Erfahrung, daß er ein Erwählter des Herrn ist: Hat er nicht die tausend Gefahren des Ziegenhirtenlebens überlebt? Bekommt er nicht die Pest, ohne daran zu sterben? Aber weder ist er stolz auf seine literarische Leistung, noch glaubt er, "Aufschreibenswertes" vollbracht zu haben. Er denkt weder an eine größere Leserschaft noch an eine gedruckte Veröffentlichung. Seine Erlebnisse bleiben Realien, die er aus dem Strom der Zeit geborgen hat. Das macht sie als Quelle zur Alltagsgeschichte interessant, es gibt ihnen auch einen literarischen Status, der erst im Rückblick seine besondere und in die Zukunft weisende Qualität sehen läßt. An einigen Stationen dieses berichteten Lebens läßt sich das gut ablesen, vor allem in der Kindheit: "Da kam mein ältester Bruder aus einem Savoyer Krieg, brachte ein hölzernes Rößlein, das zog ich an einem Faden vor der Tür. Da meinte ich gänzlich, das Rößlein könnte gehen, woraus ich verstehe, daß die Kinder oft meinen, ihre Puppen und was sie sonst haben, seien lebendig." Diese kleine Beobachtung zur Kinderpsychologie des Spiels wird erzählt, weil der Erzähler sie und damit sich selbst bemerkenswert findet, aber nicht als Erwählten Gottes und nicht als Helden einer besonderen Tat, sondern als Objekt einer Untersuchung, deren Repräsentativität er erkennt und die wir heute wissenschaftlich nennen müßten. Sogleich folgt eine andere repräsentative Erinnerung an eine drohende Kinderneurose: "Mein Bruder schritt auch mit einem Fuß über mich und sprach: ,Oho, Tomilin, nun wirst nit mehr wachsen'; das bekümmerte mich."

Daß der kleine Kerl über eine Felsplatte ins Leere stürzt, daß er aus einer Felswand nur durch die Hilfe eines größeren Kameraden befreit wird, daß er eine Nacht unter einer Baumwurzel ahnungslos am Rand eines Abgrunds schläft, daß ihm kurz vor dem Erfrieren im Schlaf ein Mann erscheint, der ihm befiehlt, weiterzugehen - das alles läßt sich mit dem Hinweis auf Gottes gnädiges Eingreifen rechtfertigen. Die unglaubliche Armut und Not aber, die Ausbeutung der "armen hirtlin" durch die Bauern, läßt sich nicht so leicht in dieses Schema pressen. Der Autor versucht es auch nicht. Beiläufig erwähnt er, wie er oft großen Durst gelitten hat, "das ich manch mall mier selbs in d'Hand brintzlet han und das für den Durst getrunken." Später ist er als Bettelschüler oder besser Bettelsklave mit einem Vetter und einer Bande von "Bachanten", Bettelstudenten, in Deutschland unterwegs, um zu studieren: "Ich habe wohl Hunger gehabt, daß ich den Hunden die Knochen auf der Gasse hab abgejagt, die genagt, und Brotkrümel in der Schule aus den Ritzen gesucht und gegessen." Nach dieser Sklavenzeit gelingt es ihm, in Zürich zu "studieren". Durch eine Predigt Zwinglis läßt er sich zur neuen Lehre bekehren, wird Custos seines Lehrers Myconius. Ihm war prophezeit worden, er würde ein Priester werden. Wie der zwölfjährige Jesus im Tempel schleicht er sich auch heimlich zum Bischof in die Kirche und läßt sich firmen - freilich um das Geldstück zu bekommen, das man den Firmlingen schenkte. Erzählt er das, um die Voraussagen zu täuschen und das autobiographische Schema zu desavouieren, das ihm die Tradition bereitstellte? Er geht nicht den prophezeiten, sondern seinen eigenen Weg, disputiert mit katholischen Priestern und bekehrt seinen Onkel zur "Lutherei". Wie er es geschafft hat, neben seiner Arbeit als Seiler ein anerkannter Lehrer der lateinischen, griechischen und hebräischen Sprache zu werden, läßt sich kaum nachvollziehen. Nachdem er sich als Drucker betätigt hatte, wird er Schulmeister der Münsterschule "auf Burg" und blickt mit Stolz darauf zurück, daß er dem einzigen von der Pest verschonten von vier Kindern seiner ersten Ehe, dem Sohn Felix, jene medizinische Ausbildung in Montpellier zukommen lassen konnte, die auch ihn bei der Nachwelt berühmt machen wird.

Die Welt ist ihm eine unendliche Anekdotensammlung, und schon das Leben eines einzelnen ist in dieser Hinsicht unendlich. Den Hergang seines ganzen Lebens hat er zwar beschrieben, "doch nit alles - denn wer wolte das tun können?" - Und wer könnte das tun wollen? Auch Thomas Platter hat sich konstruiert und seine Erinnerungen zensiert, vielleicht nur weniger geschickt als spätere Selbstbiographen. Berühmt wurde seine Lebensbeschreibung ohne seinen Willen, weil eine spätere Zeit, das vorige und unser Jahrhundert, die materielle Welt und die historische, soziale und psychische Wirklichkeit als einen Wert an sich zu betrachten gelernt hat und gerade das zu schätzen versteht, was in einem Heiligen- oder Kaiserleben und selbst in einer Humanisten-Vita rein gar nichts bedeuten würde. Ohne Zweifel ist der Stoff seiner Erinnerungen eine kostbare historische Quelle. Bedeutender erscheint aber sein damit beinahe unwissentlich geleisteter Beitrag zur Literaturgeschichte, zu den tastenden Versuchen in einer zukunftsreichen literarischen Gattung, der Autobiographie.

Thomas Platter: "Lebensbeschreibung". Hrsg. von Alfred Hartmann. Zweite Auflage von Ueli Dill, mit einem Nachwort von Holger Jacob-Friesen. Schwabe & Co. AG, Basel 1999. 218 S., geb., 38,- DM.

Emmanuel Le Roy Ladurie: "Eine Welt im Umbruch. Der Aufstieg der Familie Platter im Zeitalter der Renaissance und Reformation". Aus dem Französischen übersetzt von Wolfram Bayer und Jessica Beer. Klett Cotta Verlag, Stuttgart 1998. 542 S., geb., 72,- DM.

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