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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.01.2016

Flucht durch den Abwasserkanal
Die Erinnerungen des deutschen Auswanderers Carl Schurz, der 1848/49 als Revolutionär verfolgt
wurde, Karl Marx arrogant fand und es in den USA zum Generalmajor und Innenminister brachte
VON HARALD EGGEBRECHT
Größe 5 Fuß 9 Zoll, Haare blond, Stirn frei, Augenbrauen blond, Augen grau, Nase klein, Mund gewöhnlich, Bart Schnurrbart noch schwarz, Kinn länglich, Gesichtsbildung länglich, Gesichtsfarbe gesund“. Besondere Kennzeichen: „pflegt Brille zu tragen“. So lautet der Steckbrief von 1851 im Koblenzer Landeshauptarchiv, der dem Jungrevolutionär Carl Schurz galt, der 1829 im rheinischen Liblar geboren wurde.
  Dieser Mann nahm an der zuletzt scheiternden Revolution von 1848/49 aktiv teil, entkam der Festnahme und möglichen Erschießung nach der Eroberung der Rebellenbastion in Rastatt auf einer Flucht in letzter Minute durch den Abwasserkanal, emigrierte über die Schweiz, England und Paris schließlich in die USA, wo er es vom Journalisten und Anwalt in der Lincoln- Administration bis zum Generalmajor während des Bürgerkrieges brachte, später auch noch US-Innenminister wurde und der erste Deutsche war, der in den amerikanischen Senat einzog.
  Schurz, immerhin einer der Gründungsväter der Republikanischen Partei, von der er sich später distanzierte und sich auch unter anderem mit Mark Twain gegen die imperialistische Expansionspolitik der USA unter Theodore Roosevelt wandte, starb 1906 in New York, diesseits und jenseits des Atlantiks damals hoch geachtet als bedeutendster Deutschamerikaner des 19. Jahrhunderts. Mark Twain schrieb in Harper’s Weekly einen bewegenden Nachruf auf seinen Freund und, wie er sagt, „Lehrmeister in Staatsbürgerkunde.“
  Erstaunlicherweise ist dieser, um es altmodisch zu sagen, hochgemute, so tapfere wie den Menschen zugetane Politiker heute in Deutschland so gut wie vergessen, auch wenn nach ihm Straßen, Schulen und eine Kaserne benannt sind. Dagegen zählt er in den Vereinigten Staaten weiterhin zu den wichtigsten Staatsmännern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er war es, der als Innenminister eine neue Indianer-Politik einleitete, in dem er die Zuständigkeit, die bis dahin dem Kriegsministerium oblag, in zivile Verwaltung überführte. Auch setzte er sich, darin ganz deutscher Romantiker, für den Erhalt von Wäldern und Bäumen ein.
  Dass Schurz auch ein begabter Journalist und Schriftsteller war, belegen seine höchst lesenswerten „Lebenserinnerungen“, die Daniel Göske neu herausgegeben und mit zahlreichen zusätzlichen Notaten von Schurz in Korrespondenzen und Artikeln angereichert hat, sodass die beiden Bände zusammen die bisher umfangreichste deutsche Schurz-Edition darstellen. Dazu zählt auch der ausführliche Anmerkungsapparat, der den Haupttext wie ein Generalbass begleitet und die vielen erwähnten Personen, Orte und Begegnungen mit vielfältigen Informationen anreichert und so Beziehungsgeflechte und politische Netzwerke in ihrem historischen Kontext verdeutlicht.
  Schurz begann mit der Niederschrift seiner Erinnerungen in den Achtzigerjahren erst skizzenhaft und dann um 1900 konsequent, konnte sie aber nicht vollenden. Der zweite Teil schließt mit seinem ersten großen politischen Erfolg, der Wahl zum Senator von Missouri 1869. Mit seinen späteren Jahren befassten sich dann die Historiker Frederick Bancroft und William Dunning für den dritten Band, der aber hier keine Berücksichtigung fand.
  Schurz schreibt knapp, unaufgeblasen, mit Gespür für schriftstellerische Strategie und immer selbstskeptisch: „Ich habe mich daher ernstlich bemüht, meinen eigenen Erinnerungen nicht zu viel zu trauen, sondern sie, wenn immer möglich, mit den Erinnerungen von Verwandten und Freunden zu vergleichen, sowie alte Briefe und zeitgenössische Publikationen über die darzustellenden Tatsachen zu Rate zu ziehen.“ Es gibt in diesem fesselnden Lesebuch über deutsche und amerikanische Verhältnisse in der Mitte des 19. Jahrhunderts auch richtige Kabinettstücke – wie seine Flucht aus der Festung Rastatt oder wie ihm die kühne Befreiung des revolutionären Vordenkers und seines Mentors, Gottfried Kinkel, aus dem Zuchthaus in Spandau und die anschließende Flucht nach England gelang. Schurz erzählt das dicht, doch ohne falsche Effekthascherei. Es genügt die Geschichte selbst.
  Zum Interessantesten gehören natürlich die Begegnungen mit welthistorischen Gestalten wie Abraham Lincoln oder Otto von Bismarck oder mit den revolutionären Köpfen von 1848 wie etwa Karl Marx: „Der untersetzte, kräftig gebaute Mann mit der breiten Stirn, dem pechschwarzen Haupthaar und Vollbart und den dunkel blitzenden Augen“ weckt die Wissbegier von Schurz. Doch er wird „eigentümlich“ enttäuscht: „Was Marx sagte, war in der Tat gehaltreich, logisch und klar. Aber niemals habe ich einen Menschen gesehen von so verletzender, unerträglicher Arroganz des Auftretens.“
  Auf Widerspruch oder abweichende Meinungen reagiert Marx nur mit Verachtung und verletzendem Spott: „Ich erinnere mich noch wohl des schneidend höhnischen, ich möchte sagen des ausspuckenden Tones, mit welchem er das Wort ,Bourgeois‘ aussprach“, mit dem Marx Abweichler von seiner Meinung „denunzierte“.
  Auch Richard Wagner, den er als 48er-Emigranten in Zürich trifft „war unter seinen damaligen Schicksalsgenossen keineswegs beliebt. Er galt als ein äußerst anmaßender, herrischer Geselle, mit dem niemand umgehen könne, und der seine Gattin, eine recht stattliche, gutmütige, aber geistig nicht hervorragend begabte Frau, sehr schnöde behandelte.“ Doch obwohl er die Persönlichkeit des Komponisten als „abstoßend“ empfindet, preist er das Werk hingebungsvoll. Tatsächlich steckt in Carl Schurz auch ein origineller Musikkritiker, der die Kunst der berühmten Sängerin Jenny Lind genau zu beschreiben weiß und seine tiefe Erschütterung bekennt, als er in Bayreuth die Uraufführung des „Parsifal“ miterlebt.
  Ein Letztes: Uwe Timm hat den Lebenserinnerungen von Carl Schurz einen ungemein feinfühlig den Schriftsteller, Rebellen und menschenfreundlich-pragmatischen Politiker analysierenden Essay vorangestellt, der Frage nachgehend, ob dieser „überzeugte Demokrat“ in Deutschland deshalb „als Vorbild nicht recht genehm“ ist, weil „zu viel Empörung, Eigensinn und ziviler Ungehorsam sein Leben“ prägten. Gerade deshalb ist eine neuerliche Beschäftigung mit Carl Schurz dringend geboten.
Schurz erzählt aus seinem Leben
knapp, ohne Effekthascherei,
skeptisch auch gegen sich selbst
  
  
  
Carl Schurz: Lebenserinnerungen. Zwei Bände. Herausgegeben von Daniel Göske. Mit einem Essay von Uwe Timm. Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 516 Seiten und 726 Seiten, 39 Euro.
Tusch für einen Eingewanderten aus Deutschland: die feierliche Einweihung des Denkmals für Carl Schurz im New Yorker Stadtteil Manhattan, 1913.
Foto: SZ Photo
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.2016

Die wundersame Rettung von Lincolns deutschem General durch ein Abflussrohr
Erfolgsgeschichte eines politischen Flüchtlings: Die Autobiographie des Carl Schurz, der es in den Vereinigten Staaten bis zum Innenminister brachte, in einer neuen Ausgabe

Bei einem Wahlkampfauftritt für den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Abraham Lincoln sprach Carl Schurz im vollen Saal des Cooper Institute in New York. Er war nach der gescheiterten deutschen Revolution von 1848/49 nach Amerika ausgewandert. Nun, im September 1860, demontierte er in seiner Rede den demokratischen Bewerber Stephen A. Douglas. Vorn im Publikum sah er einen alten Mann, der zunächst schläfrig schien, aber bald den Jubel begleitete, indem er immer heftiger mit seinem Schirm stampfte, bis er ihn zerbrach und nur noch die Trümmer "wie ein Triumphbanner" durch die Luft schwenken konnte.

Der rhetorisch versierte Deutschamerikaner Schurz nahm als Botschafter in Spanien, General im Bürgerkrieg, Senator in Washington, Innenminister im Kabinett von Präsident Rutherford B. Hayes sowie als Publizist und Verwaltungsreformer ein halbes Jahrhundert lang Einfluss auf die Politik seiner Wahlheimat. Schurz' "Lebenserinnerungen" sind als Erfolgsgeschichte eines politischen Flüchtlings ein Buch für unsere Zeit, das jetzt von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot Stiftung in der Reihe "Literatur bewahren!" neu aufgelegt wurde, üppig kommentiert durch den Amerikanisten Daniel Göske.

Schurz, 1829 in Liblar bei Köln geboren, wollte eigentlich Geschichtsprofessor werden und studierte in Bonn. Mit seinem Mentor Gottfried Kinkel, der Kunst- und Literaturgeschichte lehrte, begann er 1848 "eine eifrige Agitationstätigkeit", schrieb für die "Bonner Zeitung" und zog in die Nachbarorte mit dem Ziel, "den Landleuten das politische Evangelium der neuen Zeit zu predigen". Der Agitation folgte 1849 der glücklose Versuch, das Zeughaus von Siegburg einzunehmen und dort Waffen für den Kampf um die Frankfurter Reichsverfassung zu erbeuten. Schurz schloss sich daraufhin den Aufständischen in der Pfalz und in Baden an. Als preußische Truppen diese Erhebung niederschlugen, floh er durch einen Abwasserkanal aus der belagerten Festung Rastatt.

Bevor er nach Amerika auswanderte, lebte Schurz drei Jahre lang als Flüchtling in Zürich, Paris und London. Die in Exilkreisen gehegte Hoffnung auf einen baldigen revolutionären Wandel in Europa sieht er im Rückblick kritisch und spricht von der "Illusionssucht" und "Selbsttäuschungsfähigkeit" der Flüchtlinge. Über deren Kreise hinaus wurde er berühmt (beziehungsweise berüchtigt) durch die Befreiung des zu lebenslanger Haft verurteilten Kinkel aus dem Spandauer Zuchthaus.

Carl und Margarethe Schurz, frisch verheiratet, kamen im September 1852 in New York an. Im Mittleren Westen sah der deutsche Revolutionär die Vorzüge der lokalen Selbstregierung in den jungen amerikanischen Gemeinden. Wer mitbestimmt in Fragen, die ihn unmittelbar angehen, so Schurz, wird dadurch selbständiger und schlauer. Im Präsidentschaftswahlkampf von 1856 begann er sein Engagement für die neue Republikanische Partei, die die Einführung der Sklaverei in den Territorien des Westens ablehnte. Nachdem die Partei vier Jahre später mit Lincoln die Wahlen gewonnen hatte, erhielt Schurz für seine Verdienste den Posten als amerikanischer Botschafter in Madrid.

Lincoln ist die prägende Figur im zweiten Band der Lebensgeschichte. Sein Sieg führte zur Sezession der Südstaaten und zum Ausbruch des Bürgerkriegs. Schurz' Außensicht als Botschafter ergänzt die Geschichte des Kriegs um den wichtigen Aspekt der Diplomatie: Könnten die europäischen Mächte die Konföderation anerkennen oder gar zu ihren Gunsten eingreifen? Schurz blieb aber nur fünf Monate in Spanien, dann kehrte er zurück und wurde zum Brigadegeneral ernannt. Detaillierte Schlachtbeschreibungen sind für ihn so bedeutsam, dass er die Leser bittet, sie nicht zu überblättern. Es geht ihm vor allem darum, die Deutschamerikaner (die größte Einwanderergruppe unter den Unionssoldaten) gegen die Kritik der Presse an den "feigen Deutschen" zu verteidigen.

Sprache ist von zentraler Bedeutung für Schurz' Laufbahn, seine Ideale und die Entstehungs- und Publikationsgeschichte seiner "Lebenserinnerungen". Der zweisprachige Redner konnte sowohl deutschstämmige als auch amerikanische Wähler für sich gewinnen. Schurz betont in seiner Autobiographie den Beitrag der deutschsprachigen Presse Amerikas zur Integration der Einwanderer und lobt seine deutsche Heimat für ihre "ausgezeichneten Übersetzungen" aus fremden Sprachen. Den europäischen Teil der Erinnerungen schrieb er auf Deutsch, für die amerikanischen Jahre wechselte er ins Englische, starb aber 1906, ohne sein Werk beenden zu können. Es bricht 1869 ab, am Beginn der Amtszeit als Senator.

Für die Ausgabe des Berliner Reimer Verlags (1906/07) übertrugen Agathe und Marianne Schurz, die ältesten Töchter, mit der Übersetzerin Mary Nolte den amerikanischen Teil ins Deutsche. Mit Blick auf Schurz' Lob für deutsche Übersetzungsleistungen liegt eine bittere Ironie darin, wie schlecht sich der zweite Band heute liest mit Eindeutschungen wie "Zivil-Dienst-Reformer" (statt Verwaltungsreformer), "Staatsminister" (statt Außenminister) und "Schatzsekretär" (statt Finanzminister). Die häufig erwähnten "Südländer" sind die Südstaatler. Und wer bei Wahlen die Mehrheit der "popular vote" erhält, hat schlicht die meisten Wählerstimmen, nicht die "Majorität der Volksabstimmung".

Außerdem wurden damals manche Stellen entschärft und andere gekürzt, da sie vermeintlich nur amerikanische Leser interessierten. Göske beziffert diese Streichungen auf insgesamt gut einhundertfünfzig Seiten der amerikanischen Ausgabe, der er "ein deutlich kompletteres und komplexeres Bild" bescheinigt. Im Anhang trägt er einige Bruchstücke der gekürzten Stellen nach und dokumentiert die zitierten Übersetzungsfehler (und weitere). Unweigerlich wird so aber das entscheidende Problem der neuen Edition deutlich: Warum erscheint in einer Reihe namens "Literatur bewahren!" überhaupt eine mit Fehlern behaftete und unvollständige Übersetzung? Bewahrenswert ist doch nur der erste Band, während beim zweiten eine neue oder zumindest überarbeitete deutsche Fassung mit dem vollständigen Text nötig gewesen wäre.

THORSTEN GRÄBE

Carl Schurz:

"Lebenserinnerungen".

Hrsg. von Daniel Göske. Wallstein Verlag, Göttingen 2015. Zwei Bände, zus. 1273 S., geb., 39,- [Euro].

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