B Vom Autor des Erfolgsromans "Salzwasser": Eine Autobiographie en Miniature S In diesem leicht wehmütigen Roman zieht Charles Simmons das Fazit seines bisherigen Lebens: Von den ersten Kindheitserinnerungen über die verwirrenden Erfahrungen als Jugendlicher bis hin zu Ehe, Scheidung, Affären durchläuft er in jedem der über vierzig kurzen Kapitel einmal seine gesamte Biographie. Die Kapitel widmen sich jeweils einem eigenen Thema: Schmerz, erste Liebe, Familie, Geld, Sterben ... und werden immer mit einem Ausblick auf eine mögliche Zukunft beschlossen. So zeigt sich: Niemals wird das Leben leichter, immer bleibt es aufregend und spannend. Bereits in diesem frühen Buch des Autors lassen sich zahlreiche stilistische und sprachliche Merkmale finden, die seinen Erfolgsroman "Salzwasser" so ungewöhnlich und so schön machten: eine sehr sparsame, fast lakonische Skizzierung von Szenen und Figuren, die kein Wort zuviel verrät, sowie äußerst pointierte Beschreibungen, hier des N ew York der Nachkriegszeit. Personen und Plätze, Eigenschaften und Ereignisse, Begierden und Ängste - Charles Simmons entfaltet vor den Augen des Lesers den Lauf seines Lebens, nicht streng chronologisch, sondern geleitet von den Themen und Dingen, die dieses Lebensgeflecht wie mit roten Fäden durchziehen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2001Rätselhaft wie die Linien einer Hand
Charles Simmons analysiert das Leben · Von Ingeborg Harms
"Lebensfalten" nennt der amerikanische Autor Charles Simmons vierundvierzig Prosastücke, die sich wie Filmaufblendungen im Stummfilm aneinanderreihen. Der Umschlag spricht unumwunden von einem autobiographischen Fazit, die Genrebezeichnung "Roman" hingegen läßt die Natur des Buches in der Schwebe. "Falten" kündigen erworbene Weisheit an, doch der Autor verwendet den Ausdruck nicht für die Querfalten auf der Stirn, sondern für die Längsfalten, die sich durch eine Existenz wie durch einen Acker ziehen. Damit verzichtet Simmons auf das Rückgrad des traditionellen Romans, auf den zentralen Nervenstrang, der die Ereignisse in einer Haupterzählung ineinanderwindet. Statt dessen dezentriert er die Elemente, die ein Leben ausmachen, widmet sich mit gleichmäßiger Aufmerksamkeit einzelnen Motiven, Tieren, Autoritäten, Dingsymbolen, Physiognomien, aber auch so flüchtigen Gegenständen wie dem Schwung, dem Lachen oder der Bequemlichkeit von Kleidung. Die Kapitel tragen keine Überschriften, doch ihr Thema tritt beim Lesen wie ein Wasserzeichen hervor.
Ein besonderer Reiz dieser zum Teil sehr intimen Texte ist die an Camus erinnernde Distanz, die der Erzähler zu seinem Protagonisten hält, der wie alle anderen Figuren anonym bleibt. Man könnte bei "Lebensfalten" in Anlehnung an die "confessional poetry" von einer konfessionellen Prosa in der dritten Person sprechen. Der lakonische Ton verdankt sich der strengen Methode. Wie ein Strukturalist hält sich der Autor an seinen jeweiligen Gegenstand und fügt absatzlos verschiedenste und weit auseinanderliegende Episoden und Reflexionen zu einem Stück. Dabei entsteht, zu Perspektiven gebrochen, ein quasikubistisches Lebensbild. Eigentlich erzählt jede Prosaminiatur die gleiche Geschichte: Kindheit, Pubertät, Berufswechsel, Ehe, Scheidung, Affären und Alter. Die Kapitel verfahren chronologisch und bilden so die immergleiche Kurve ab. Das Tempus wechselt jeweils in der Mitte vom Präteritum ins Präsens und endet dann im Futur.
Diese "Ausblicke" sind irritierend, denn sie geben dem Erzähler eine allwissende Position. Zugleich nehmen sie der Lebenserzählung auf subtile Weise das Individuelle, als rechneten sie die Konsequenzen hoch, die sich aus bisherigen Einstellungen und Erfahrungen ergeben. Durch die gleichsam wissenschaftliche Verfahrensweise, die eine Erinnerungsspur verfolgt und ausbaut, indem sie Wiederholungen und Variationen aufspürt, erzeugt Simmons eine Kristallographie der Gefühle. Leidenschaftliche Themen kühlen zur Frostigkeit von Statistiken ab, wenn sie in eine der Lebensfalten fallen. In einem Text über Frauenkörper, der die Faszination für dünne und dicke Liebespartner schildert, findet sich der schroffe Satz: "Wenn sie ihn verläßt, wird er mit Frauen in allen Größen schlafen."
Der Protagonist hat sich, wie beiläufig zu erfahren ist, einer Psychoanalyse unterzogen. Tatsächlich versucht der Autor auf literarischem Wege zu leisten, was sonst der Seelenarzt initiiert: Tabuisiertes wird flüssig und erzählbar. Das Obszöne steht nüchtern da als entzauberte Frucht eines unbestechlichen Aufklärungswillens. Ja, manchmal scheint es, als wäre Simmons' Protagonisten die Intimität, die er in der Sexualität gesucht hat, erst im Schreiben gelungen.
Nicht nur die einzelnen Texte runden sich nach dem Vorbild der biographischen Kurve, das ganze Buch ist nach diesem Muster komponiert. Es beginnt mit "jungen" Themen, wie Ferien, Geburtstag und Lüge, und geht ihren Resonanzen bis ins Alter nach. Am Ende stehen das Alleinsein, Sterblichkeitssymptome, Alkohol, Schlaf und Tod. Dabei zeigt sich, daß das Ende bereits im Anfang steckt. Die Sterblichkeit regt sich schon in der Beobachtung, daß der Bruder der Mutter, man selbst dem Vater ähnlich sah, der Tod in dem kindlichen Wunsch, nicht zu Bett gehen zu müssen. Simmons' "Lebensfalten" sind so rätselhaft und lebendig wie Linien einer Hand. Auch zwischen ihnen gibt es Verstrebungen und Querverbindungen, im Roman erscheinen sie nicht zuletzt in Form zarter Kapitel-Enjambements. Auf den großen erzählerischen Bogen verzichtet der Autor, weil er die kittende Fiktion scheut, die um mäandernde Nervenfasern einen runden Körper spannt. "Einmal fragte ihn ein Literaturkritiker in der Gewißheit, eine positive Antwort zu erhalten, ob er nicht auch der Ansicht sei, wahre Erzähler hätten Spaß am Lügen. Er verneinte und sagte, er schreibe die Wahrheit, wann immer er könne." Daß die Wahrheit nicht das Leben, sondern der in seinen Falten verborgene Text ist, führt der Autobiograph mit chirurgischer Meisterschaft vor.
Charles Simmons: "Lebensfalten". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Susanne Hornfeck, Verlag C. H. Beck, München 2001. 221 S, geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Charles Simmons analysiert das Leben · Von Ingeborg Harms
"Lebensfalten" nennt der amerikanische Autor Charles Simmons vierundvierzig Prosastücke, die sich wie Filmaufblendungen im Stummfilm aneinanderreihen. Der Umschlag spricht unumwunden von einem autobiographischen Fazit, die Genrebezeichnung "Roman" hingegen läßt die Natur des Buches in der Schwebe. "Falten" kündigen erworbene Weisheit an, doch der Autor verwendet den Ausdruck nicht für die Querfalten auf der Stirn, sondern für die Längsfalten, die sich durch eine Existenz wie durch einen Acker ziehen. Damit verzichtet Simmons auf das Rückgrad des traditionellen Romans, auf den zentralen Nervenstrang, der die Ereignisse in einer Haupterzählung ineinanderwindet. Statt dessen dezentriert er die Elemente, die ein Leben ausmachen, widmet sich mit gleichmäßiger Aufmerksamkeit einzelnen Motiven, Tieren, Autoritäten, Dingsymbolen, Physiognomien, aber auch so flüchtigen Gegenständen wie dem Schwung, dem Lachen oder der Bequemlichkeit von Kleidung. Die Kapitel tragen keine Überschriften, doch ihr Thema tritt beim Lesen wie ein Wasserzeichen hervor.
Ein besonderer Reiz dieser zum Teil sehr intimen Texte ist die an Camus erinnernde Distanz, die der Erzähler zu seinem Protagonisten hält, der wie alle anderen Figuren anonym bleibt. Man könnte bei "Lebensfalten" in Anlehnung an die "confessional poetry" von einer konfessionellen Prosa in der dritten Person sprechen. Der lakonische Ton verdankt sich der strengen Methode. Wie ein Strukturalist hält sich der Autor an seinen jeweiligen Gegenstand und fügt absatzlos verschiedenste und weit auseinanderliegende Episoden und Reflexionen zu einem Stück. Dabei entsteht, zu Perspektiven gebrochen, ein quasikubistisches Lebensbild. Eigentlich erzählt jede Prosaminiatur die gleiche Geschichte: Kindheit, Pubertät, Berufswechsel, Ehe, Scheidung, Affären und Alter. Die Kapitel verfahren chronologisch und bilden so die immergleiche Kurve ab. Das Tempus wechselt jeweils in der Mitte vom Präteritum ins Präsens und endet dann im Futur.
Diese "Ausblicke" sind irritierend, denn sie geben dem Erzähler eine allwissende Position. Zugleich nehmen sie der Lebenserzählung auf subtile Weise das Individuelle, als rechneten sie die Konsequenzen hoch, die sich aus bisherigen Einstellungen und Erfahrungen ergeben. Durch die gleichsam wissenschaftliche Verfahrensweise, die eine Erinnerungsspur verfolgt und ausbaut, indem sie Wiederholungen und Variationen aufspürt, erzeugt Simmons eine Kristallographie der Gefühle. Leidenschaftliche Themen kühlen zur Frostigkeit von Statistiken ab, wenn sie in eine der Lebensfalten fallen. In einem Text über Frauenkörper, der die Faszination für dünne und dicke Liebespartner schildert, findet sich der schroffe Satz: "Wenn sie ihn verläßt, wird er mit Frauen in allen Größen schlafen."
Der Protagonist hat sich, wie beiläufig zu erfahren ist, einer Psychoanalyse unterzogen. Tatsächlich versucht der Autor auf literarischem Wege zu leisten, was sonst der Seelenarzt initiiert: Tabuisiertes wird flüssig und erzählbar. Das Obszöne steht nüchtern da als entzauberte Frucht eines unbestechlichen Aufklärungswillens. Ja, manchmal scheint es, als wäre Simmons' Protagonisten die Intimität, die er in der Sexualität gesucht hat, erst im Schreiben gelungen.
Nicht nur die einzelnen Texte runden sich nach dem Vorbild der biographischen Kurve, das ganze Buch ist nach diesem Muster komponiert. Es beginnt mit "jungen" Themen, wie Ferien, Geburtstag und Lüge, und geht ihren Resonanzen bis ins Alter nach. Am Ende stehen das Alleinsein, Sterblichkeitssymptome, Alkohol, Schlaf und Tod. Dabei zeigt sich, daß das Ende bereits im Anfang steckt. Die Sterblichkeit regt sich schon in der Beobachtung, daß der Bruder der Mutter, man selbst dem Vater ähnlich sah, der Tod in dem kindlichen Wunsch, nicht zu Bett gehen zu müssen. Simmons' "Lebensfalten" sind so rätselhaft und lebendig wie Linien einer Hand. Auch zwischen ihnen gibt es Verstrebungen und Querverbindungen, im Roman erscheinen sie nicht zuletzt in Form zarter Kapitel-Enjambements. Auf den großen erzählerischen Bogen verzichtet der Autor, weil er die kittende Fiktion scheut, die um mäandernde Nervenfasern einen runden Körper spannt. "Einmal fragte ihn ein Literaturkritiker in der Gewißheit, eine positive Antwort zu erhalten, ob er nicht auch der Ansicht sei, wahre Erzähler hätten Spaß am Lügen. Er verneinte und sagte, er schreibe die Wahrheit, wann immer er könne." Daß die Wahrheit nicht das Leben, sondern der in seinen Falten verborgene Text ist, führt der Autobiograph mit chirurgischer Meisterschaft vor.
Charles Simmons: "Lebensfalten". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Susanne Hornfeck, Verlag C. H. Beck, München 2001. 221 S, geb., 36,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ähnlich wie James Salter sind die Romane von Charles Simmons hierzulande im Buchmarkt untergegangen, behauptet Thomas Leuchtenmüller. Zu Unrecht, denn Simmons verfüge anders als der gleichfalls sehr phantasiereiche Salter außerdem über Selbstironie. Das hier vorgestellte Büchlein stammt im Original bereits aus dem Jahr 1978 - damals war Simmons, hauptamtlicher Literaturkritiker in New York, 54 Jahre alt, so der Rezensent. "Lebensfalten" komme ohne Handlung aus, sei stark formalisiert und von einem kindlichen Blick dominiert, der allerdings nie penetrant werde, charakterisiert Leuchtenmüller das Buch. Es gebe klare Bezüge zur Person Simmons, auch wenn ein Er-Erzähler die 44 absatzlosen Miniaturgeschichte aufschreibt, die alle Lebensbereiche - auch die äußeren wie Kleidung oder Gesichter - umfasst. Hier und da streut Simmons offenbar Lebensweisheiten ein (ist das Selbstironie?) und gesteht Missgeschicke ein, was Leuchtenmüller zu der Formulierung verführt, da offenbare sich das "(Alter) Ego eines freundlichen Clowns".
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Wenigen nur ist es gegeben, die Schwere des Seins so leichthin zu erzählen. Charles Simmons ist einer davon." (Frankfurter Allgemeine Zeitung)