Nach einem schweren Unfall und dem Tod ihres Geliebten ist Sayoko nicht mehr sie selbst. Sie hat Geheimnisse der unsichtbaren Welt erfahren. In der Tempelstadt Kyoto lernt sie das Leben so zu akzeptieren, wie es ist: voller Ungewissheiten und Rätsel, dem Tod immer nahe, ob man jung ist oder alt. Aber sie begreift auch, wie einmalig das Diesseits ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.11.2016Japanische Harmonielehre
Banana Yoshimotos heimliches Fukushima-Requiem
Die japanische Kultautorin Banana Yoshimoto wurde in den achtziger Jahren mit von süßlichen Mädchen-Manga beeinflussten, doch um aktuelle Themen, Traumata und Lebensängste junger Menschen kreisenden Werken wie "Kitchen" berühmt. Ihr neues, in Japan 2011 unter dem Titel "Sweet Hereafter" erschienenes Buch steht, ohne dass sie explizit erwähnt würde, stark im Zeichen der Katastrophe von Fukushima. Als Traumwandlerin zwischen Dies- und Jenseits, Trösterin und Trauerarbeiterin entwirft Yoshimoto eine Anleitung zum Weiterleben und Wiederneubeginnen.
Das Buch ist sentimental, unironisch, warm. Und es ist Yoshimotos bislang japanischster Roman. Fern von New-Age-Phantasien, die noch Werke wie "Amrita" geprägt haben, wurzelt das Buch in Japans Geistes- und Geisterwelt, Harmonielehren und religiösem Gedankengut.
Als die achtundzwanzigjährige Sayoko und ihr Freund Yoichi, ein Künstler, der in Kyoto ein Atelier hat, einen Ausflug in ein heißes Quellenbad unternehmen, kommt es auf dem Rückweg zum schweren Unfall, wobei Yoichi stirbt und Sayoko mit Nahtoderfahrung und Kopfwunde überlebt. Nach ihrem tröstenden Blick auf die andere Seite des Seins folgt ein Leben zwischen Trauern und Verwinden: Das Buch beleuchtet den letzten Morgen mit Yoichi, Sayokos Arbeit als Nachlassverwalterin seiner Kunstwerke und Träume, Besuche in der Provinz bei seinen Eltern und die Rückkehr in die eigene Heimatstadt Tokio. Sayoko wird Stammgast einer Bar; der ihr brüderlich zugetane Barkeeper aus Okinawa, Enkel einer Schamanin, attestiert der jungen Frau den Verlust der Mitte.
Wenn "ein Leben leergefegt wurde", ist der Wechsel von Nacht zu Tag ein wundervolles Prinzip, die Sonne erscheint als "der helle Wahnsinn". Der buddhistisch anmutende Distanzgewinn durch die Nahtoderfahrung weckt Sympathie für Schöpfung und Mitgeschöpfe. Sie nimmt aber auch einen Schnitt durch den linearen Fluss von Leben und Tod vor. Hinter dem okkulten Hang und den Gespenstergeschichten des Buchs stecken Methode und Gesellschaftskritik: In Sayokos Welt verschwimmen die Grenzen zwischen Passanten und Geistwesen. Konsumenten suchen Halt in einem Leben ohne Pointe, popliterarische Kostümspiele sind ein Vexierspiegel Japans. Bedeutsam sind die drei Orte: Tokio, wo das Unwohlsein der Moderne vorherrscht, Kyoto als Zentrum des Zen und das "spirituelle" Okinawa.
In der Fülle verpasster Gelegenheiten, die von Segen und Fluch des Überlebens erzählen, ist es für Liebesbeweise und sogar für Wut zu spät. Der Abschied trägt religiöse Züge wie bei der feuchtfröhlichen Trauerparty mit Freunden in Yoichis Atelier, um vor dem Abtransport seiner Werke die Geister gnädig zu stimmen. Anrührend ist das Bild der Erleuchtung der Herzen durch Ewigkeitsfunken der Kunst, wenn Sayoko sich vorstellt, wie deren "Licht auf der Party unsere Herzen erleuchtet und wie diese leuchtenden Herzen wie Glühwürmchen durch den Raum schweben".
Zuletzt erkennt Sayoko Trauern und Vertrauen als zwei Seiten einer Medaille. Am Daimonji-Berg bei Kyoto, wo anlässlich des O-Bon-Totenfestes Abschiedsfeuer entzündet werden, erscheint Sayoko ihre Trauer im Einklang mit Buddhas Gesetz. Yoshimotos Helden spüren die unerschöpfliche Fülle des Moments ("Alle haben alles in sich"), ihr Mitgefühl als Unterpfand des Glücks und wie sich Jenseits und Jetzt-Zeit bedingen. Wer sich Grenzziehungen entzieht, so Yoshimotos Botschaft, sieht die Einheit der Dinge. "Wie Mikroorganismen frei im Wasser schwimmen, so schweben wir frei in der Luft, finden zueinander, entfernen uns voneinander." Die Dankbarkeit der Überlebenden ist letzter Wille der von uns Gegangenen.
In Yoshimotos Pop-Prosa scheint ein tiefer Humanismus auf. "Gesättigt mit den Wünschen und Gebeten der toten Seelen", ist der Roman ein stilles Requiem auf die Toten Fukushimas, ein expressives Plädoyer gegen die Ausgrenzung des Todes.
STEFFEN GNAM
Banana Yoshimoto: "Lebensgeister". Roman.
Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg. Diogenes Verlag, Zürich 2016. 160 S., geb., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Banana Yoshimotos heimliches Fukushima-Requiem
Die japanische Kultautorin Banana Yoshimoto wurde in den achtziger Jahren mit von süßlichen Mädchen-Manga beeinflussten, doch um aktuelle Themen, Traumata und Lebensängste junger Menschen kreisenden Werken wie "Kitchen" berühmt. Ihr neues, in Japan 2011 unter dem Titel "Sweet Hereafter" erschienenes Buch steht, ohne dass sie explizit erwähnt würde, stark im Zeichen der Katastrophe von Fukushima. Als Traumwandlerin zwischen Dies- und Jenseits, Trösterin und Trauerarbeiterin entwirft Yoshimoto eine Anleitung zum Weiterleben und Wiederneubeginnen.
Das Buch ist sentimental, unironisch, warm. Und es ist Yoshimotos bislang japanischster Roman. Fern von New-Age-Phantasien, die noch Werke wie "Amrita" geprägt haben, wurzelt das Buch in Japans Geistes- und Geisterwelt, Harmonielehren und religiösem Gedankengut.
Als die achtundzwanzigjährige Sayoko und ihr Freund Yoichi, ein Künstler, der in Kyoto ein Atelier hat, einen Ausflug in ein heißes Quellenbad unternehmen, kommt es auf dem Rückweg zum schweren Unfall, wobei Yoichi stirbt und Sayoko mit Nahtoderfahrung und Kopfwunde überlebt. Nach ihrem tröstenden Blick auf die andere Seite des Seins folgt ein Leben zwischen Trauern und Verwinden: Das Buch beleuchtet den letzten Morgen mit Yoichi, Sayokos Arbeit als Nachlassverwalterin seiner Kunstwerke und Träume, Besuche in der Provinz bei seinen Eltern und die Rückkehr in die eigene Heimatstadt Tokio. Sayoko wird Stammgast einer Bar; der ihr brüderlich zugetane Barkeeper aus Okinawa, Enkel einer Schamanin, attestiert der jungen Frau den Verlust der Mitte.
Wenn "ein Leben leergefegt wurde", ist der Wechsel von Nacht zu Tag ein wundervolles Prinzip, die Sonne erscheint als "der helle Wahnsinn". Der buddhistisch anmutende Distanzgewinn durch die Nahtoderfahrung weckt Sympathie für Schöpfung und Mitgeschöpfe. Sie nimmt aber auch einen Schnitt durch den linearen Fluss von Leben und Tod vor. Hinter dem okkulten Hang und den Gespenstergeschichten des Buchs stecken Methode und Gesellschaftskritik: In Sayokos Welt verschwimmen die Grenzen zwischen Passanten und Geistwesen. Konsumenten suchen Halt in einem Leben ohne Pointe, popliterarische Kostümspiele sind ein Vexierspiegel Japans. Bedeutsam sind die drei Orte: Tokio, wo das Unwohlsein der Moderne vorherrscht, Kyoto als Zentrum des Zen und das "spirituelle" Okinawa.
In der Fülle verpasster Gelegenheiten, die von Segen und Fluch des Überlebens erzählen, ist es für Liebesbeweise und sogar für Wut zu spät. Der Abschied trägt religiöse Züge wie bei der feuchtfröhlichen Trauerparty mit Freunden in Yoichis Atelier, um vor dem Abtransport seiner Werke die Geister gnädig zu stimmen. Anrührend ist das Bild der Erleuchtung der Herzen durch Ewigkeitsfunken der Kunst, wenn Sayoko sich vorstellt, wie deren "Licht auf der Party unsere Herzen erleuchtet und wie diese leuchtenden Herzen wie Glühwürmchen durch den Raum schweben".
Zuletzt erkennt Sayoko Trauern und Vertrauen als zwei Seiten einer Medaille. Am Daimonji-Berg bei Kyoto, wo anlässlich des O-Bon-Totenfestes Abschiedsfeuer entzündet werden, erscheint Sayoko ihre Trauer im Einklang mit Buddhas Gesetz. Yoshimotos Helden spüren die unerschöpfliche Fülle des Moments ("Alle haben alles in sich"), ihr Mitgefühl als Unterpfand des Glücks und wie sich Jenseits und Jetzt-Zeit bedingen. Wer sich Grenzziehungen entzieht, so Yoshimotos Botschaft, sieht die Einheit der Dinge. "Wie Mikroorganismen frei im Wasser schwimmen, so schweben wir frei in der Luft, finden zueinander, entfernen uns voneinander." Die Dankbarkeit der Überlebenden ist letzter Wille der von uns Gegangenen.
In Yoshimotos Pop-Prosa scheint ein tiefer Humanismus auf. "Gesättigt mit den Wünschen und Gebeten der toten Seelen", ist der Roman ein stilles Requiem auf die Toten Fukushimas, ein expressives Plädoyer gegen die Ausgrenzung des Todes.
STEFFEN GNAM
Banana Yoshimoto: "Lebensgeister". Roman.
Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg. Diogenes Verlag, Zürich 2016. 160 S., geb., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Was für ein Talent! Banana Yoshimoto schreibt wunderbar subtile, wundersam verstörende Bücher, in denen Japans Jugend endlich Stimme bekommt.« Stern Stern