Julien Gracq war der große Einzelgänger der französischen Literatur, der durch seine legendäre Ablehnung des renommierten Prix Goncourt berühmt wurde. Als er 2007 im Alter von 97 Jahren verstarb, verfügte er, dass seine 29 mit »Randnotizen« betitelten Hefte nicht vor 2027 herausgegeben werden - sicher mit Rücksicht auf Zeitgenossen, die darin vorkommen. Der Nachlass birgt jedoch einen weiteren Schatz, zu dem uns kein Verbot den Zugang verwehrt: Die Lebensknoten, hellsichtige und geistreiche Beobachtungen über Landschaften und Mentalitäten, die Moden der Zeit, Politik und Geschichte, die Literatur, das Schreiben. Sie reichen von der sinnlichen Beschreibung des Pays de la Loire über die Erklärung der sonderbaren Autorität von Bauernregeln bis hin zu Reflexionen über Tolkiens Herr der Ringe. Und auch in diesen Texten teilt Gracq hin und wieder ordentlich aus, etwa wenn er die englische Sprache mit einem Dosenöffner vergleicht oder die Schweiz als »Europas Bankschließfach« ironisiert.Gracqs sprachlich umwerfend geflochtene Lebensknoten sind der Versuch, die Wahrnehmung der Welt zu verdichten und einen engen, sinnlichen Kontakt mit ihr zu knüpfen. Sie lassen einen schmunzeln über die Angriffe einer Feder, die so scharf ist wie ein Säbel, und staunen über den Weitblick eines Mannes, der von seinem Balkon an der Loire aus die Entwicklung der Welt voraussieht.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Keineswegs bloße Resteverwertung ist dieser Band mit Texten aus dem Nachlass des großen französischen Literaten Julien Gracq, so Rezensent Jan Röhnert, sondern eine genuine Fortschreibung dieses außergewöhnlichen Werks. Wie oft bei Gracq stehen auch in dieser ursprünglich tagebuchartig verfassten Prosa Begegnungen mit Orten im Zentrum, erfahren wir, denen er sich stets mit allen Sinnen gleichzeitig nähert. Den Effekt beschreibt Röhnert als eine Vergegenwärtigung, die, ausgehend von der Konkretion des physischen Wahrnehmungsakts, einem Flirren gleicht, das einen manchmal bis in mythische oder surrealistische Gefilde geleitet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.2023Psychogeograph seiner französischen Heimat
Landkarte eines synästhetischen Genies als exquisites Westentaschenbüchlein: Julien Gracqs aus dem Nachlass gewonnene "Lebensknoten"
Julien Gracq war in Frankreich das, was man in Deutschland einen Jahrhundertautor nennen würde. 1910 geboren, nahm er als kurzzeitiges KP-Mitglied fand er mit seinem ersten Roman "Auf Schloss Argol" noch vor dem Zweiten Weltkrieg Anschluss bei André Breton und der surrealistischen Gruppe, las bei Kriegsausbruch über den Ufern der Loire Ernst Jüngers "Marmorklippen", kam als Offizier nach der französischen Kapitulation 1940 in deutsche Gefangenschaft, die er bis 1941 bei Bautzen verbrachte, lebte nach dem Krieg als Lehrer für Geschichte und Erdkunde in Paris, zog sich nach seiner Pensionierung vollständig ins heimatliche Saint-Florent-le-Vieil im Loiretal zwischen Angers und Nantes zurück und hielt sich fortan jedem Autorenrummel fern. Sein Ruf als literarische Eminenz vom Rande, mit jedes Mal ereignisartig begrüßten, jedoch schwer ins Raster der Kritik passenden Werken, brachte Zuneigung von unterschiedlichsten Seiten ein: Zu Gracqs Bewunderern zählen politische Linke wie Rechte, die Frauenbewegung (Hélène Cixous hat brillante Texte über ihn verfasst), Präsident Macron - und genug Leser, dass ihn die Bibliothèque de la Pléiade schon zu Lebzeiten in ihre Reihe aufnahm. Er starb mit 97 Jahren.
Gleichermaßen mythisches wie konkretes Denken begegnen sich bei ihm, er war einer der großen Landschaftsstilisten des zwanzigsten Jahrhunderts, dem es in synästhetisch dichter, vor Sinnlichkeit flirrender Prosa immer wieder gelang, das Bezeichnende, Charakteristische eines Ortes oder einer Gegend in Präsenz zu rufen. Und er schuf historische Endzeitvisionen, die nichts von ihrer Brisanz eingebüßt haben - gerade die Drohkulisse, die sein 1951 mit dem von ihm zurückgewiesenen Prix Goncourt ausgezeichneter Roman "Das Ufer der Syrten" von einer verfeinerten Zivilisation zeichnet, die sich des Ansturms der Barbaren nicht erwehren kann, ruft beunruhigende Assoziationen zur Gegenwart hervor.
Nun ergänzt die Friedenauer Presse das reiche deutschsprachige Gracq- Angebot durch ein von Gernot Krämer übersetztes Westentaschenbüchlein mit Prosastücken aus dem Nachlass: "Lebensknoten". Es bietet keine nachgeschobenen Zusätze, sondern eine substanzielle Fortführung von Gracqs Lebenswerk, das mehr oder weniger aus der die Zeitmarken abstreifenden Form des Tagebuchs erwachsen ist.
Tatsächlich stehen zeitüberdauernde Landschaften, die Evokation von Orten und ihrer Aura im Zentrum dieses Schaffens. Das Lesen nicht nur im historischen, sondern auch im geologischen Gedächtnis einer Landschaft verleiht Gracq seine Unverwechselbarkeit, denn kaum jemand konnte es in dieser Hinsicht an sinnlicher Fülle, zugleich Exaktheit und stilistischer Geschliffenheit mit ihm aufnehmen. Seine Liebeserklärung an Nantes, "Die Form einer Stadt", ist ein Klassiker urbaner Psychogeographie, während "Die Halbinsel" das bretonische Archipel Guérande während des Nachmittags einer sich ins Endlose dehnenden Autofahrt vergegenwärtigt. Wie durch ein Prisma beleuchtet, gelingt es Gracq auch in seinen Aperçus und Reflexionen aus den letzten Lebensjahrzehnten, auf Deutsch in den Bänden "Witterungen" (wie ein Großteil seines Werks bei Droschl) und "Der Große Weg" (Hanser) erschienen, die Essenz eines Ortes in nur wenigen Sätzen atmosphärisch hervorzubringen.
Hier knüpfen auch die Lebensknoten an, die Gracqs Nachlassverwalterin Bernhild Boie zusammengetragen hat. Inhaltlich gliedern sie sich in "Wege und Straßen", "Augenblicke", "Lesen" und "Schreiben" - ebenso simple wie allumfassende Einteilungen einer geistigen Existenz, welche die Welt doch stets im Miteinander synästhetischen Empfindens erfuhr. Die subjektive Geographie des französischen Hexagons entzündet sich bei Gracq stets an einer konkreten Wahrnehmung, die dann jedoch zu flimmern beginnt, den Ort, Augenblick, die Lektüre oder Schreibsituation ins Imaginäre manchmal bis zur Halluzination überschreitet. Mit diesem Umschlag ins Surreale rührt seine späte Prosa an die frühen seismographischen Romane und es ist auch der Punkt, der ihn mit Jünger zu verbinden scheint.
Gracq denkt jedoch, statt in Analogien wie Jünger, konsequent in Synästhesien; sein Schreiben ist auch nicht auf Transzendenz ausgerichtet: Alles ist Vergegenwärtigung, Transparenz, egal ob es um den das jugendliche Ausgeschlossensein wachrufenden "schon holzigen Geruch hoch aufgeschossenen Krauts im Juni, das von der Nachmittagssonne an den Wegen aufgeheizt wird", oder um Gedichte geht, "die man sich beim Spazierengehen vorsagt, wie man ein Liedchen trällert [...], der Schritt des Flaneurs schwingt die Dichtung aus, lässt nur die flüchtigen Elemente ins Gehirn steigen, die ihn erfrischen, ehe sie sich in Luft auflösen: Lieder, die - lange, lange nach dem Tod der Dichter - noch durch die laue Luft der Straßen treiben".
Er beschwört "Wortglücksfälle" beim Dichten, in denen das Denken "Gestalt annimmt und im Kontakt mit der Sprache gerinnt, ohne auch nur den geringsten Freiheitsverlust zu empfinden". Und vielleicht ist dies das größte Wunder beim Lesen Gracqs: Seine Diagnosen nehmen den von ihm verdichteten Momenten eines puren ästhetischen Zustands im Hier und Jetzt nichts von ihrer Magie. Man darf gespannt sein, was im Jahr 2027, wenn die von Gracq verhängte zwanzigjährige Sperrfrist für seinen übrigen Nachlass erlischt, an weiteren Illuminationen dieser Art zum Vorschein kommt. JAN RÖHNERT
Julien Gracq: "Lebensknoten".
Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Friedenauer Presse, Berlin 2023. 174 S., br., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Landkarte eines synästhetischen Genies als exquisites Westentaschenbüchlein: Julien Gracqs aus dem Nachlass gewonnene "Lebensknoten"
Julien Gracq war in Frankreich das, was man in Deutschland einen Jahrhundertautor nennen würde. 1910 geboren, nahm er als kurzzeitiges KP-Mitglied fand er mit seinem ersten Roman "Auf Schloss Argol" noch vor dem Zweiten Weltkrieg Anschluss bei André Breton und der surrealistischen Gruppe, las bei Kriegsausbruch über den Ufern der Loire Ernst Jüngers "Marmorklippen", kam als Offizier nach der französischen Kapitulation 1940 in deutsche Gefangenschaft, die er bis 1941 bei Bautzen verbrachte, lebte nach dem Krieg als Lehrer für Geschichte und Erdkunde in Paris, zog sich nach seiner Pensionierung vollständig ins heimatliche Saint-Florent-le-Vieil im Loiretal zwischen Angers und Nantes zurück und hielt sich fortan jedem Autorenrummel fern. Sein Ruf als literarische Eminenz vom Rande, mit jedes Mal ereignisartig begrüßten, jedoch schwer ins Raster der Kritik passenden Werken, brachte Zuneigung von unterschiedlichsten Seiten ein: Zu Gracqs Bewunderern zählen politische Linke wie Rechte, die Frauenbewegung (Hélène Cixous hat brillante Texte über ihn verfasst), Präsident Macron - und genug Leser, dass ihn die Bibliothèque de la Pléiade schon zu Lebzeiten in ihre Reihe aufnahm. Er starb mit 97 Jahren.
Gleichermaßen mythisches wie konkretes Denken begegnen sich bei ihm, er war einer der großen Landschaftsstilisten des zwanzigsten Jahrhunderts, dem es in synästhetisch dichter, vor Sinnlichkeit flirrender Prosa immer wieder gelang, das Bezeichnende, Charakteristische eines Ortes oder einer Gegend in Präsenz zu rufen. Und er schuf historische Endzeitvisionen, die nichts von ihrer Brisanz eingebüßt haben - gerade die Drohkulisse, die sein 1951 mit dem von ihm zurückgewiesenen Prix Goncourt ausgezeichneter Roman "Das Ufer der Syrten" von einer verfeinerten Zivilisation zeichnet, die sich des Ansturms der Barbaren nicht erwehren kann, ruft beunruhigende Assoziationen zur Gegenwart hervor.
Nun ergänzt die Friedenauer Presse das reiche deutschsprachige Gracq- Angebot durch ein von Gernot Krämer übersetztes Westentaschenbüchlein mit Prosastücken aus dem Nachlass: "Lebensknoten". Es bietet keine nachgeschobenen Zusätze, sondern eine substanzielle Fortführung von Gracqs Lebenswerk, das mehr oder weniger aus der die Zeitmarken abstreifenden Form des Tagebuchs erwachsen ist.
Tatsächlich stehen zeitüberdauernde Landschaften, die Evokation von Orten und ihrer Aura im Zentrum dieses Schaffens. Das Lesen nicht nur im historischen, sondern auch im geologischen Gedächtnis einer Landschaft verleiht Gracq seine Unverwechselbarkeit, denn kaum jemand konnte es in dieser Hinsicht an sinnlicher Fülle, zugleich Exaktheit und stilistischer Geschliffenheit mit ihm aufnehmen. Seine Liebeserklärung an Nantes, "Die Form einer Stadt", ist ein Klassiker urbaner Psychogeographie, während "Die Halbinsel" das bretonische Archipel Guérande während des Nachmittags einer sich ins Endlose dehnenden Autofahrt vergegenwärtigt. Wie durch ein Prisma beleuchtet, gelingt es Gracq auch in seinen Aperçus und Reflexionen aus den letzten Lebensjahrzehnten, auf Deutsch in den Bänden "Witterungen" (wie ein Großteil seines Werks bei Droschl) und "Der Große Weg" (Hanser) erschienen, die Essenz eines Ortes in nur wenigen Sätzen atmosphärisch hervorzubringen.
Hier knüpfen auch die Lebensknoten an, die Gracqs Nachlassverwalterin Bernhild Boie zusammengetragen hat. Inhaltlich gliedern sie sich in "Wege und Straßen", "Augenblicke", "Lesen" und "Schreiben" - ebenso simple wie allumfassende Einteilungen einer geistigen Existenz, welche die Welt doch stets im Miteinander synästhetischen Empfindens erfuhr. Die subjektive Geographie des französischen Hexagons entzündet sich bei Gracq stets an einer konkreten Wahrnehmung, die dann jedoch zu flimmern beginnt, den Ort, Augenblick, die Lektüre oder Schreibsituation ins Imaginäre manchmal bis zur Halluzination überschreitet. Mit diesem Umschlag ins Surreale rührt seine späte Prosa an die frühen seismographischen Romane und es ist auch der Punkt, der ihn mit Jünger zu verbinden scheint.
Gracq denkt jedoch, statt in Analogien wie Jünger, konsequent in Synästhesien; sein Schreiben ist auch nicht auf Transzendenz ausgerichtet: Alles ist Vergegenwärtigung, Transparenz, egal ob es um den das jugendliche Ausgeschlossensein wachrufenden "schon holzigen Geruch hoch aufgeschossenen Krauts im Juni, das von der Nachmittagssonne an den Wegen aufgeheizt wird", oder um Gedichte geht, "die man sich beim Spazierengehen vorsagt, wie man ein Liedchen trällert [...], der Schritt des Flaneurs schwingt die Dichtung aus, lässt nur die flüchtigen Elemente ins Gehirn steigen, die ihn erfrischen, ehe sie sich in Luft auflösen: Lieder, die - lange, lange nach dem Tod der Dichter - noch durch die laue Luft der Straßen treiben".
Er beschwört "Wortglücksfälle" beim Dichten, in denen das Denken "Gestalt annimmt und im Kontakt mit der Sprache gerinnt, ohne auch nur den geringsten Freiheitsverlust zu empfinden". Und vielleicht ist dies das größte Wunder beim Lesen Gracqs: Seine Diagnosen nehmen den von ihm verdichteten Momenten eines puren ästhetischen Zustands im Hier und Jetzt nichts von ihrer Magie. Man darf gespannt sein, was im Jahr 2027, wenn die von Gracq verhängte zwanzigjährige Sperrfrist für seinen übrigen Nachlass erlischt, an weiteren Illuminationen dieser Art zum Vorschein kommt. JAN RÖHNERT
Julien Gracq: "Lebensknoten".
Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Friedenauer Presse, Berlin 2023. 174 S., br., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main