"Höchste Zeit, etwas gegen den Gesundheitswahn zu tun!", fand Manfred Lütz, renommierter Psychologe und begnadeter Essayist, dem in puncto Wortwitz so leicht keiner das Wasser reicht. Lütz feuert satirische Breitseiten auf das übertriebene Streben nach Hyper-Fitness, ein Alter ohne Falten und die künstliche Selbstkasteiung beim Essen. Die verbissenen Apostel des gesunden Lebens werden an diesem Buch zu kauen haben, ebenso die Halbgötter in Weiß. Lütz kämpft einfach für mehr Lebenslust - und hat die besseren Argumente auf seiner Seite.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.07.2002Karneval der Leiden
Martin Lütz lehrt mit Witz die Kunst, zu leben und zu sterben
Gegenüber dem gotischen Goslarer Rathaus steht die alte Rats-Apotheke. Über ihrem Eingang thront unter barockem Baldachin die Göttin Hygieia, "Gesundheit". Direkt ihr gegenüber grüßt aus einer Nische am Rathaus eine wohlgeformte steinerne gotische Madonna. Was die beiden Damen sich wohl zu sagen haben? Die Göttin der Gesundheit kann darauf hinweisen, daß sie älter sei, und die Madonna wird klagen, daß schon damals, in den Anfängen der Religion ihres Sohnes, die antiken Gesundheitskulte, wie des Äskulap und Serapis, die schärfsten Konkurrenten des Christentums waren. Zeitweilig hat dann die Madonna gesiegt, zwischen 200 und 1900. Die Gründe: Das Christentum ging tiefer, denn hier ist Gott selbst dicht dran am Menschen und an seinem Leid, und es verband Religion und Krankenpflege.
Doch nun regt sich neben alldem sonstigen verbreiteten Neuheidentum auch die antike Gesundheitsreligion wieder, als hätte es nie das Christentum gegeben. Manfred Lütz nennt daher in seinem neuen philosophischen Werk das Christentum die "Altreligion", und dieses angesichts der Tatsache, daß die Gesundheitsreligion fast alle Attribute und Funktionen des Christentums übernommen hat. Die neuen Halbgötter in Weiß tragen die Farbe des Himmels, die Rituale des Fastens und Pillenschluckens erinnern an klösterliche Speiseregeln, die Kliniken der Gegenwart haben die Kathedralen längst ersetzt. Und in ihren weitläufigen Fluren gibt es streng abgeriegelte, für Laien nie betretbare Räume, Kammern des Geheimnisses. Zu den Leckerbissen dieses Buches gehört die Schilderung einer Chefarztvisite, die alle Elemente einer klassischen Prozession enthält. Die besondere "Liebe" des Verfassers gilt den Fitneßstudios.
Was Manfred Lütz in satirischem Ton schildert, ist für den Religionswissenschaftler durchaus ernst zu nehmen. Es handelt sich beim modernen Gesundheitskult um eine vollständig säkularisierte Form von Religion, die durch die kompromißlose Inbrunst ihrer Anhänger die Gestalt einer Massenbewegung angenommen hat.
Nun hat der Gesundheitskult der Gegenwart ebendeshalb, weil er jedes Maß übersteigt, eine gravierende politische Dimension. Der Löwenanteil alles überhaupt in unserem Land verdienten Geldes geht in die Gesundheitssorge. Und ein Minister nach dem anderen scheitert an dem schier unlösbaren Problem der Reform des Gesundheitswesens. Dieses ist unter anderem deshalb nicht mehr bezahlbar, weil es willige und finanzsparende christliche Helferinnen wie Diakonissen und Nonnen kaum noch gibt. Zugleich möchte man aber den hohen Standard der abendländischen Krankenfürsorge bewahren.
Angesichts dieser fast aussichtslosen politischen Situation tritt Manfred Lütz in seinem Buch als witziger und weiser Bußprediger auf, nur ist er im Gegensatz zu dem, was er bekämpft, alles andere als fanatisch und verbissen. Das ist der Unterschied zu Savonarola angesichts der Florentiner Gesellschaft. Und dafür bleibt Lütz auch das Schicksal der Verbrennung wohl erspart, im Gegenteil: Als Chefarzt eines Krankenhauses lebt er von dem, was er geißelt. Um so interessierter wendet sich der Leser dann den Gegenvorschlägen zu. Nacheinander geht es Lütz um die Neuentdeckung des Wertes von Dingen, die ganz und gar nicht in Mode sind, also um Rehabilitierung der Behinderung, des Schmerzes, des Leidens, des alten Menschen und der Kunst zu sterben.
Was die Behinderung betrifft: Abgesehen davon, daß wir alle einst behindert waren oder mehrheitlich behindert sein werden, ist Behinderung Anstachelung zu unendlichem Erfindungsreichtum. Die neuen Bestrebungen, mit Hilfe von Genmanipulationen auf Kosten weggeworfener Embryonen Behinderungen überhaupt zu vermeiden, werden scharf zurückgewiesen. Was den Schmerz angeht: Es gibt eine Ambivalenz des Schmerzes, die besonders bei dem Lebensvorgang schlechthin, der Geburt, zutage tritt. Die körperlich erlebbare Lust am Leben des kleinen Kindes kann den Geburtsschmerz in die Nähe der Lebenslust rücken. Doch beläßt es Lütz, wie jeder gute Mediziner, der Regeln gibt, beim vorsichtigen "kann".
Leiden werden in unserer Gesellschaft fast völlig verdrängt. Doch eine Welt ohne Leiden wäre ohne Aufregung und zugleich ohne Anregung. Nur die völlige Gleichgültigkeit gegenüber allen Zielen ließe Leiden vermeiden. Wie weit unsere Gesellschaft auf diesem Weg schon vorangeschritten ist, zeigt die starke Popularität des Neo-Buddhismus, der genau dieses anstrebt: Vermeidung der Leiden als oberstes Ziel auf dem Wege völliger Apathie. Wer die pädagogische Szene unseres Landes kennt, weiß, wie genau dieses Ideal der herrschenden Stimmung entspricht. Den Alten weiß Lütz Tröstliches zu sagen: Sie müssen nicht alles können und leisten, dürfen aber alles genießen. Und zur Ars moriendi: Die Bitte um einen "guten Tod" ist die Bitte um ein langsames Sterben. Lütz, Chefarzt für Psychiatrie, empfiehlt: keine Resignation vor dem Tod, sondern seine Bewältigung durch einen glutvollen Glauben.
Weil aber der "Psychoglaube das innerste Heiligtum des neuen Kults" ist, liest man hier das Votum des Chefarztes besonders genau. Sein Therapievorschlag für die morbide Psychiatrie: Entlastung der Medizin von allen Heilserwartungen, die an sie gerichtet werden. Nüchtern schätzt Lütz das, was er selbst betreibt, als Handwerk ein, zu betreiben nach Regeln wie von einer Handwerkskammer aufgestellt.
Nun hat Lütz sein Buch "Lebenslust" genannt. Er findet diese Lust am Leben überhaupt nicht in all den trostlosen Versuchen, die Religion mit Gesundheit verwechseln. Vielmehr sieht er Lebenslust ganz gut aufgehoben in klassischen Ausprägungen des Christentums. Das wird viele Leser verwundern, die Christentum nur in den säuerlich-verklemmten Formen des neunzehnten Jahrhunderts kennengelernt haben. Diese Formen leben auf der Basis angelsächsischer Prüderie, aber auch des katholischen Jansenismus. Das Buch vermittelt so eine nostalgische Sehnsucht nach dem prall gefüllten Leben des "merry old England" und barocker christlicher Lebensfreude. Auf Thomas von Aquin geht der Gedanke zurück: Warum hat der liebe Gott die leibliche Lust denn geschaffen, wenn sie nicht auch gut sein soll? Daher hatte die Religion des Fleisch gewordenen Gottes traditionell keine Berührungsängste mit der Erotik. Und: Lust lebt von Spannungen: "Die Vitalität Lateinamerikas speist sich vom Kontrast zwischen dem orgiastischen Karneval in Rio und der glutvollen Frömmigkeit am Heiligtum der Madonna von Guadalupe."
Ein sehr vitales Stück Lebenslust vermittelt die Lektüre dieses Buches in einzelnen Abschnitten selbst. Es kommt nicht häufig vor, daß ich bei der Lektüre eines Buches aufstehe und meine Frau in ihrem Arbeitszimmer aufsuche, um ihr ein paar Passagen vorzulesen, die mit Sicherheit ein lebensförderliches Lachen hervorbringen. Das ist dann gesund, aber auf eine unangestrengte Weise.
KLAUS BERGER
Manfred Lütz: "Lebenslust". Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitneß-Kult. Pattloch Verlag, München 2002. 240 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Lütz lehrt mit Witz die Kunst, zu leben und zu sterben
Gegenüber dem gotischen Goslarer Rathaus steht die alte Rats-Apotheke. Über ihrem Eingang thront unter barockem Baldachin die Göttin Hygieia, "Gesundheit". Direkt ihr gegenüber grüßt aus einer Nische am Rathaus eine wohlgeformte steinerne gotische Madonna. Was die beiden Damen sich wohl zu sagen haben? Die Göttin der Gesundheit kann darauf hinweisen, daß sie älter sei, und die Madonna wird klagen, daß schon damals, in den Anfängen der Religion ihres Sohnes, die antiken Gesundheitskulte, wie des Äskulap und Serapis, die schärfsten Konkurrenten des Christentums waren. Zeitweilig hat dann die Madonna gesiegt, zwischen 200 und 1900. Die Gründe: Das Christentum ging tiefer, denn hier ist Gott selbst dicht dran am Menschen und an seinem Leid, und es verband Religion und Krankenpflege.
Doch nun regt sich neben alldem sonstigen verbreiteten Neuheidentum auch die antike Gesundheitsreligion wieder, als hätte es nie das Christentum gegeben. Manfred Lütz nennt daher in seinem neuen philosophischen Werk das Christentum die "Altreligion", und dieses angesichts der Tatsache, daß die Gesundheitsreligion fast alle Attribute und Funktionen des Christentums übernommen hat. Die neuen Halbgötter in Weiß tragen die Farbe des Himmels, die Rituale des Fastens und Pillenschluckens erinnern an klösterliche Speiseregeln, die Kliniken der Gegenwart haben die Kathedralen längst ersetzt. Und in ihren weitläufigen Fluren gibt es streng abgeriegelte, für Laien nie betretbare Räume, Kammern des Geheimnisses. Zu den Leckerbissen dieses Buches gehört die Schilderung einer Chefarztvisite, die alle Elemente einer klassischen Prozession enthält. Die besondere "Liebe" des Verfassers gilt den Fitneßstudios.
Was Manfred Lütz in satirischem Ton schildert, ist für den Religionswissenschaftler durchaus ernst zu nehmen. Es handelt sich beim modernen Gesundheitskult um eine vollständig säkularisierte Form von Religion, die durch die kompromißlose Inbrunst ihrer Anhänger die Gestalt einer Massenbewegung angenommen hat.
Nun hat der Gesundheitskult der Gegenwart ebendeshalb, weil er jedes Maß übersteigt, eine gravierende politische Dimension. Der Löwenanteil alles überhaupt in unserem Land verdienten Geldes geht in die Gesundheitssorge. Und ein Minister nach dem anderen scheitert an dem schier unlösbaren Problem der Reform des Gesundheitswesens. Dieses ist unter anderem deshalb nicht mehr bezahlbar, weil es willige und finanzsparende christliche Helferinnen wie Diakonissen und Nonnen kaum noch gibt. Zugleich möchte man aber den hohen Standard der abendländischen Krankenfürsorge bewahren.
Angesichts dieser fast aussichtslosen politischen Situation tritt Manfred Lütz in seinem Buch als witziger und weiser Bußprediger auf, nur ist er im Gegensatz zu dem, was er bekämpft, alles andere als fanatisch und verbissen. Das ist der Unterschied zu Savonarola angesichts der Florentiner Gesellschaft. Und dafür bleibt Lütz auch das Schicksal der Verbrennung wohl erspart, im Gegenteil: Als Chefarzt eines Krankenhauses lebt er von dem, was er geißelt. Um so interessierter wendet sich der Leser dann den Gegenvorschlägen zu. Nacheinander geht es Lütz um die Neuentdeckung des Wertes von Dingen, die ganz und gar nicht in Mode sind, also um Rehabilitierung der Behinderung, des Schmerzes, des Leidens, des alten Menschen und der Kunst zu sterben.
Was die Behinderung betrifft: Abgesehen davon, daß wir alle einst behindert waren oder mehrheitlich behindert sein werden, ist Behinderung Anstachelung zu unendlichem Erfindungsreichtum. Die neuen Bestrebungen, mit Hilfe von Genmanipulationen auf Kosten weggeworfener Embryonen Behinderungen überhaupt zu vermeiden, werden scharf zurückgewiesen. Was den Schmerz angeht: Es gibt eine Ambivalenz des Schmerzes, die besonders bei dem Lebensvorgang schlechthin, der Geburt, zutage tritt. Die körperlich erlebbare Lust am Leben des kleinen Kindes kann den Geburtsschmerz in die Nähe der Lebenslust rücken. Doch beläßt es Lütz, wie jeder gute Mediziner, der Regeln gibt, beim vorsichtigen "kann".
Leiden werden in unserer Gesellschaft fast völlig verdrängt. Doch eine Welt ohne Leiden wäre ohne Aufregung und zugleich ohne Anregung. Nur die völlige Gleichgültigkeit gegenüber allen Zielen ließe Leiden vermeiden. Wie weit unsere Gesellschaft auf diesem Weg schon vorangeschritten ist, zeigt die starke Popularität des Neo-Buddhismus, der genau dieses anstrebt: Vermeidung der Leiden als oberstes Ziel auf dem Wege völliger Apathie. Wer die pädagogische Szene unseres Landes kennt, weiß, wie genau dieses Ideal der herrschenden Stimmung entspricht. Den Alten weiß Lütz Tröstliches zu sagen: Sie müssen nicht alles können und leisten, dürfen aber alles genießen. Und zur Ars moriendi: Die Bitte um einen "guten Tod" ist die Bitte um ein langsames Sterben. Lütz, Chefarzt für Psychiatrie, empfiehlt: keine Resignation vor dem Tod, sondern seine Bewältigung durch einen glutvollen Glauben.
Weil aber der "Psychoglaube das innerste Heiligtum des neuen Kults" ist, liest man hier das Votum des Chefarztes besonders genau. Sein Therapievorschlag für die morbide Psychiatrie: Entlastung der Medizin von allen Heilserwartungen, die an sie gerichtet werden. Nüchtern schätzt Lütz das, was er selbst betreibt, als Handwerk ein, zu betreiben nach Regeln wie von einer Handwerkskammer aufgestellt.
Nun hat Lütz sein Buch "Lebenslust" genannt. Er findet diese Lust am Leben überhaupt nicht in all den trostlosen Versuchen, die Religion mit Gesundheit verwechseln. Vielmehr sieht er Lebenslust ganz gut aufgehoben in klassischen Ausprägungen des Christentums. Das wird viele Leser verwundern, die Christentum nur in den säuerlich-verklemmten Formen des neunzehnten Jahrhunderts kennengelernt haben. Diese Formen leben auf der Basis angelsächsischer Prüderie, aber auch des katholischen Jansenismus. Das Buch vermittelt so eine nostalgische Sehnsucht nach dem prall gefüllten Leben des "merry old England" und barocker christlicher Lebensfreude. Auf Thomas von Aquin geht der Gedanke zurück: Warum hat der liebe Gott die leibliche Lust denn geschaffen, wenn sie nicht auch gut sein soll? Daher hatte die Religion des Fleisch gewordenen Gottes traditionell keine Berührungsängste mit der Erotik. Und: Lust lebt von Spannungen: "Die Vitalität Lateinamerikas speist sich vom Kontrast zwischen dem orgiastischen Karneval in Rio und der glutvollen Frömmigkeit am Heiligtum der Madonna von Guadalupe."
Ein sehr vitales Stück Lebenslust vermittelt die Lektüre dieses Buches in einzelnen Abschnitten selbst. Es kommt nicht häufig vor, daß ich bei der Lektüre eines Buches aufstehe und meine Frau in ihrem Arbeitszimmer aufsuche, um ihr ein paar Passagen vorzulesen, die mit Sicherheit ein lebensförderliches Lachen hervorbringen. Das ist dann gesund, aber auf eine unangestrengte Weise.
KLAUS BERGER
Manfred Lütz: "Lebenslust". Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitneß-Kult. Pattloch Verlag, München 2002. 240 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main