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Produktdetails
  • Verlag: Steidl
  • Seitenzahl: 304
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 460g
  • ISBN-13: 9783882436068
  • Artikelnr.: 23981320
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.1998

Wie im echten Roman
Michael Rutschkys kleine Soziologie der Alltagsromantik

Es gibt Romane, und es gibt das Leben. Des näheren gibt es Romane, die sich vom Leben beeindrucken lassen. Nicht nur, indem sie ein Leben schildern, sondern indem sie mitunter selbst die Form des Lebens imitieren: überraschend, verworren, vielstimmig. Aber es gibt auch Leben, das sich von Romanen beeindrucken läßt. Nicht nur während der Lektüre, sondern zuweilen auch so, daß es sich selbst als ein Roman entwirft, nach romanhaften Vorlagen gelebt wird oder doch gelebt werden möchte. "Als Originale werden wir geboren und sterben als Kopien", meinte vor zweihundert Jahren Edward Young. Seit das Personal der Romane nicht mehr aus Rittern und Reitern besteht, können sich auch Leser ohne Pferd mitgemeint fühlen. Man schließt von den gewöhnlichen Helden auf sich selbst und phantasiert sich seine Karrieren in Familie, Liebe, Beruf oder Krankheit, die großen Erwartungen und die verlorenen Illusionen romanhaft zurecht.

Von solchen Tagträumen handeln die "Lebensromane" Michael Rutschkys. In zehn Kapiteln werden die Typen alltäglicher Orientierungen am Klischee abgeschritten. Erzählt wird vorzugsweise von Angestellten, die etwas ganz anderes sein möchten. Zum Beispiel Künstler, weshalb der Minister heimlich in Aquarell zu malen beginnt. Denn im Künstlerroman gilt die Phantasie vorzugsweise der "nicht entfremdeten" Arbeit, irgend etwas Großem und Einfachem. Für andere ist gerade das die Politik. An Machiavelli wird erklärt, wie die Einsamkeit des Ohnmächtigen zur Bedingung einer politischen Theorie wurde, die die Einsamkeit des Mächtigen zum Leitmotiv des politischen Romans erhob. Die Ambition des Aufsteigers macht ihn zum Helden des Gesellschaftsromans, in dem Reichtum und Macht eher psychologische Größen als Realitäten sind. Der Messianist wiederum schlüpft, als Jugendlicher ganz erfüllt von der Poesie seiner unbestimmten Zukunft, ins historische Kostüm und spielt Spätantike oder Roter Oktober. In der Liebe hingegen, so wußte schon Stendhal, wird das Gegenüber mit Romanstoff umkleidet. Und die gelebte Form des modernen Bildungsromans ist für Rutschky die Welt der Psychotherapien und Selbsterfahrungszellen.

Der Autor entnimmt all diesen Romanvarianten, daß die tiefsten Wünsche stets etwas gelten, das nicht erlangbar ist. Der Träumer konsumiert den Traum anstelle der erträumten Dinge. Aber warum bleiben sie imaginär? Hier sind bei Rutschky und auch sonst verschiedene Antworten im Angebot. Eine, die man hobbesianisch nennen könnte: Der Ehrgeiz richte sich absichtsvoll auf Unerreichbares, damit er nicht zur Ruhe kommt. Denn die Ruhe wäre der Tod. Eine aus Wien: Der Glückliche phantasiert nicht, aber Unglück ist normal. "Deshalb wird beim Happy-End der Film jewöhnlich abjeblendt", lautet hierzu der Kommentar des Berliners. Dann eine tragische Variante: Man möchte etwas sein und kann es deshalb nicht werden. Der Wunsch steht seiner eigenen Wirklichkeit im Weg. Schließlich ist auch die Theorie René Girards interessant. Ihr zufolge wüßte das Wunschwesen Mensch nur, daß es wünschen soll, aber ohne Romane wüßte es gar nicht, was es wünschen soll.

Rutschky erwähnt einige dieser Wunschdeutungen, sympathisiert mit Sigmund Freud, investiert aber seinen literarischen Ehrgeiz nicht voreilig in Erklärungen. Lieber trägt er Materialien herbei, mischt die Genres, erzählt von Bekannten und Prominenten, fügt historische Exkurse ein, plündert Statistiken und referiert Gelesenes. Seinen Bleistift führt er wie einen Spazierstock, hebt hier einen Ast, spießt da ein Blatt auf und läßt ihn dann munter durch die Luft sausen, wobei ganz nebenbei Theorieblumen elegant enthauptet werden.

Die Nonchalance, mit der hier erzählt wird, verrät Meisterschaft im Beiherspielen. Sie verdeckt jedoch nicht den Ernst, den Rutschky seinem Thema zumißt. Harmlos sind die Lebensromane nicht. Brutale Charismatiker wie Hitler oder David Koresh, der Sektenguru aus Waco in Texas erscheinen als Konsumenten des historischen Romans. Der postmoderne Neonazi phantasiert sich in einfache Stammeszustände und ins Sozialbanditentum. Zuletzt erzählt Rutschky aus dem eigenen Familienarchiv, eine ratlose Geschichte davon, wie ein Lebenslauf hinter seinen Phantasien zurückbleibt und traurig vergeht.

Abschließend ist deshalb vom Desillusionsroman die Rede. Das ist einer, der selber davon handelt, daß sich das Leben von Büchern beeindrucken läßt. Seine Protagonisten sind die Erben von Don Quixote und Werther. Sie heißen Julien Sorel, Lucien de Rubempré und Emma Bovary. Alles Leser, die ihre Erwartungen aus ihrer Lektüre ziehen und vom Leben verlangen, das Material für eine Geschichte herzugeben. Meistens geht das Leben schief dabei. Und oft gelingt gerade darum der Roman. In Glücksfällen auch der Essay. Michael Rutschky ist als "gentleman amateur" eine kluge Soziologie der Alltagsromantik gelungen. Bei ihrer Lektüre werden sich die professionellen Erforscher von "Individualisierung", "Bastelbiographie" und "Erlebnisgesellschaft" in einer stillen Stunde sagen: Freier Autor müßte man sein. JÜRGEN KAUBE

Michael Rutschky: "Lebensromane". Zehn Kapitel über das Phantasieren. Steidl Verlag, Göttingen 1998. 304 S., geb., 38,- DM.

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