Im Deutschland der Frühen Neuzeit besaß der überwiegende Teil der Bevölkerung keine ständischen Herrschaftsrechte. Unterhaltserwerb, Lebensweise und Kultur dieser unterständischen Schichten waren eng auf einander bezogen, ohne sich jedoch zu determinieren. Selbst die Teilhabe der breiten Bevölkerung am religiösen Leben und an profaner Geselligkeit der ständischen Gesellschaft war keineswegs ausgeschlossen. Der Band widmet sich diesen Aspekten der Volkskultur ebenso wie den unterschiedlichen Lebensräumen und -formen der unterständischen Bevölkerung. Er führt außerdem in die facettenreiche Forschungsgeschichte des Gegenstandes ein; eine umfassende, systematisch gegliederte Bibliografie ermöglicht die eigenständige weitere Auseinandersetzung mit der Thematik. Entstanden ist so ein wichtiges Hilfsmittel für Studierende und Forschende.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.04.2003Statistisch erfasst
Eine Enzyklopädie der Volkskultur in der Frühen Neuzeit
Der nunmehr 62. Band der „Enzyklopädie deutscher Geschichte” widmet sich der „Lebenswelt und Kultur der unterständischen Schichten in der „Frühen Neuzeit” und erhebt – in den Worten der Herausgeber – den Anspruch, ein „Arbeitsinstrument” für Fachhistoriker, Studenten und Geschichtslehrer zu sein. In der Tat: Band 62 ist ein vorzügliches Arbeitsinstrument aufgrund der gut 30 Seiten langen Bibliographie, die mehr als 400 Titel zur „Volkskulturforschung” auflistet, unter anderem zu den Themen Gemeindekultur, Konfessionalisierung, Magie. Nach der Lektüre der vorangegangenen 100 Seiten, welche Erwerbsformen, Sozialdisziplinierung, Kriminalität zu ihrem Inhalt hatten, fühlt man sich auf Augenhöhe mit der Frühneuzeitforschung, kennt ihre Debatten und Kontroversen.
Doch die Stärken des Buches machen nicht vergessen, dass die Lektüre mühsam ist. Sprachlich trocken kommen die Ausführungen des ersten Kapitels – mit „Enzyklopädischer Überblick” überschrieben – daher. Überall ist Statistikmaterial eingestreut, dessen Aussagekraft nicht immer einleuchtet. Wer eine erste Orientierung sucht, wird den Band rat- und hilflos aus der Hand legen, wenn er einen Absatz wie diesen liest: „Der Anteil bäuerlicher Anwesen unter den Gütern lag im Herzogtum Bayern zwischen 14% und höchstens 61% aller Anwesen. Neben den landarmen und landlosen Haushaltsvorständen ist das Gesinde zu nennen, dessen Anteil je nach agrarischer Ausrichtung stark schwanken konnte und in fünf Gerichten des östlichen Oberbayern zwischen 25% und 59,4% der ländlichen Bevölkerung ausmachte.”
Wer noch nicht mit der Frühen Neuzeit vertraut ist, dürfte sich wundern, warum im ersten Teil so oft von Ehre die Rede ist, ohne dass ihre Bedeutung und Funktion erklärt wird. Das wird nachgeholt im Kapitel „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung”, wobei jedoch die geschlechtsspezifische Dimension der Ehre mit nur einem Satz Erwähnung findet – im Unterschied zur gängigen Forschung. Da überrascht es nicht, dass von Friedeburg den menschlichen Körper, ansonsten ein zentraler Untersuchungsgegenstand der Historischen Anthropologie, nicht eigens thematisiert.
Ein Manko schließlich, das nicht dem Autor angelastet werden kann: Die neuen Medien – Drucke, Flugblätter, Holzschnitte – entfalteten als Konstituenten frühneuzeitlicher Öffentlichkeit eine gewichtige Wirkung, und von Friedeburg weist im Zusammenhang mit der Reformation auch darauf hin. Eine Abbildung sucht man im Buch jedoch vergebens.
FLORIAN WELLE
ROBERT VON FRIEDEBURG: Lebenswelt und Kultur der unterständischen Schichten in der Frühen Neuzeit. Oldenbourg Verlag, München 2002. 134 Seiten, 19,80 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Eine Enzyklopädie der Volkskultur in der Frühen Neuzeit
Der nunmehr 62. Band der „Enzyklopädie deutscher Geschichte” widmet sich der „Lebenswelt und Kultur der unterständischen Schichten in der „Frühen Neuzeit” und erhebt – in den Worten der Herausgeber – den Anspruch, ein „Arbeitsinstrument” für Fachhistoriker, Studenten und Geschichtslehrer zu sein. In der Tat: Band 62 ist ein vorzügliches Arbeitsinstrument aufgrund der gut 30 Seiten langen Bibliographie, die mehr als 400 Titel zur „Volkskulturforschung” auflistet, unter anderem zu den Themen Gemeindekultur, Konfessionalisierung, Magie. Nach der Lektüre der vorangegangenen 100 Seiten, welche Erwerbsformen, Sozialdisziplinierung, Kriminalität zu ihrem Inhalt hatten, fühlt man sich auf Augenhöhe mit der Frühneuzeitforschung, kennt ihre Debatten und Kontroversen.
Doch die Stärken des Buches machen nicht vergessen, dass die Lektüre mühsam ist. Sprachlich trocken kommen die Ausführungen des ersten Kapitels – mit „Enzyklopädischer Überblick” überschrieben – daher. Überall ist Statistikmaterial eingestreut, dessen Aussagekraft nicht immer einleuchtet. Wer eine erste Orientierung sucht, wird den Band rat- und hilflos aus der Hand legen, wenn er einen Absatz wie diesen liest: „Der Anteil bäuerlicher Anwesen unter den Gütern lag im Herzogtum Bayern zwischen 14% und höchstens 61% aller Anwesen. Neben den landarmen und landlosen Haushaltsvorständen ist das Gesinde zu nennen, dessen Anteil je nach agrarischer Ausrichtung stark schwanken konnte und in fünf Gerichten des östlichen Oberbayern zwischen 25% und 59,4% der ländlichen Bevölkerung ausmachte.”
Wer noch nicht mit der Frühen Neuzeit vertraut ist, dürfte sich wundern, warum im ersten Teil so oft von Ehre die Rede ist, ohne dass ihre Bedeutung und Funktion erklärt wird. Das wird nachgeholt im Kapitel „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung”, wobei jedoch die geschlechtsspezifische Dimension der Ehre mit nur einem Satz Erwähnung findet – im Unterschied zur gängigen Forschung. Da überrascht es nicht, dass von Friedeburg den menschlichen Körper, ansonsten ein zentraler Untersuchungsgegenstand der Historischen Anthropologie, nicht eigens thematisiert.
Ein Manko schließlich, das nicht dem Autor angelastet werden kann: Die neuen Medien – Drucke, Flugblätter, Holzschnitte – entfalteten als Konstituenten frühneuzeitlicher Öffentlichkeit eine gewichtige Wirkung, und von Friedeburg weist im Zusammenhang mit der Reformation auch darauf hin. Eine Abbildung sucht man im Buch jedoch vergebens.
FLORIAN WELLE
ROBERT VON FRIEDEBURG: Lebenswelt und Kultur der unterständischen Schichten in der Frühen Neuzeit. Oldenbourg Verlag, München 2002. 134 Seiten, 19,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Als "vorzügliches Arbeitsinstrument" würdigt Rezensent Florian Welle den nun vorliegenden Band "Lebenswelt und Kultur der unterständischen Schichten in der Frühen Neuzeit" von Robert von Friedeburg. Das liegt nicht zuletzt an der gut dreißig Seiten lange Bibliographie, die mehr als vierhundert Titel zur "Volkskulturforschung" auflistet. Nach der Lektüre des Bandes fühlt man sich nach Einschätzung Welles auf Augenhöhe mit der Forschung zur Frühen Neuzeit, kenne ihre Debatten und Kontroversen. Die Lektüre selbst hält Welle allerdings für "mühsam", die Ausführungen kommen seines Erachtens "sprachlich trocken" daher. Das überall eingestreute Statistikmaterial findet er in seiner Aussagekraft zudem nicht immer einleuchtend. Zum Bedauern Welles bietet der Band keine Abbildung der neuen Medien wie Drucke, Flugblätter, Holzschnitte, die als Konstituenten frühneuzeitlicher Öffentlichkeit eine gewichtige Wirkung entfalteten - ein Manko, das er allerdings nicht dem Autor anlasten möchte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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