Wie lebt man weiter, wenn das Todesurteil aufgehoben zu sein scheint? Die englische Witwe Joyce Beddoes leidet an Leberkrebs und fliegt mit ihrer alkoholsüchtigen Tochter in die Schweiz, um dort »in Würde« zu sterben. In letzter Minute verweigert sie jedoch das tödliche Gift und verlässt die Sterbeklinik. Sie driftet durch Zürich, und während sie sich von ihrer Tochter immer mehr entfernt, geht es ihr von Tag zu Tag besser. Als die Ärzte den Tumor nicht mehr nachweisen können, glauben die Mitglieder einer katholischen Gemeinde an ein Wunder. Aber je mehr sich ihre körperliche Verfassung bessert, desto entschiedener verweigert Joyce dieses geschenkte Leben ...- Will Self, brillanter Chronist der Neurosen unserer Zeit, erzählt von einer Frau, der die allgegenwärtige Sinnsuche in einer Extremsituation zur Farce gerät.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Tilman Urbach fühlt sich grotesk unterhalten bei Will Self. Dies, obgleich das Buch eigentlich zu dünn, die Figuren nicht wirklich unter die Haut gehen und Self mit den Themen Krebsdiagnose und Sterbehilfe nicht wirklich zum Wohlfühlen aufruft. Der schnoddrige Ton und die schiefen Sprachbilder im Text hält Urbach allerdings für passend zum Galgenhumor der todgeweihten Protagonistin, die dem Tod im letzten Moment doch noch von der Schippe springt, um auf den Spuren James Joyces durch Zürich zu spazieren, wie der Rezensent mitteilt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.2015Giftiger als ein Schierlingsbecher
Vermutlich ist dieser schmale Roman deshalb so befremdlich, weil er einen Großteil unserer Vorstellungen mit, wie es scheint, diebischer Freude unterläuft - jene der Moral und des Geschmacks eingeschlossen. Die siebzigjährige Jo fliegt von Birmingham nach Zürich, um dort in einer Einrichtung für Sterbehilfe ihrem Leben ein selbstgewähltes Ende zu setzen. Jo leidet, wie die Ärzte ihr prognostiziert haben, unheilbar an Leberkrebs. Wer sich kurz noch einmal den Titel des Romans in Erinnerung ruft - "Leberknödel" -, der mag eine Vorstellung von Selfs Provokationslevel haben.
Dass Jo den Giftbecher in letzter Sekunde ablehnen wird, ist nicht sonderlich überraschend. Schon im Flugzeug in die Schweiz hat sie sich mit Absturzängsten gequält, was sie an ihrer Entschlossenheit zum Sterben zumindest zweifeln ließ. Vor allem scheint es die Geringschätzung ihrer Tochter zu sein, von der Jo sich zwar begleiten lässt, die sie aber für faul, dicklich und raffgierig hält, die letztendlich den Ausschlag gibt, am Leben zu bleiben: So schnell will sie der verwöhnten Mittdreißigerin das Erbe nicht überlassen. Verkorkste Mutter-Tochter-Beziehungen haben eben die Eigenschaft, ungewöhnliche Entscheidungen zu bedingen.
Die Dynamik, die im gerade noch bewahrten Leben von Jo nun eintritt, ist allerdings eher ungewöhnlich. Die bisher siechende, inkontinente, nicht ohne eine hohe Dosis von Schmerztabletten auskommende Patientin verwandelt sich innerhalb kurzer Zeit in eine blühende alte Dame. Ein Wunder? Das jedenfalls wollen ihr ein paar eifrige Katholiken weismachen, deren Hauptanliegen indes darin besteht, den frevelhaften Machenschaften des Freitod-Instituts ein Ende zu bereiten. Ein wenig magischen Realismus scheint Will Self seinem Roman tatsächlich beigegeben zu haben, um diesen schließlich aber mit scharfem säkularem Besteck zu sezieren. Nachdem Jo sich hoffnungsvoll für das Leben entschieden hat, führt Self genüsslich dessen alltägliche Erbärmlichkeit vor Augen. Wie zu erwarten war, überzieht dieser Autor die Geschichte der vermeintlichen Wunderheilung einer sterbenskranken Freitod-Kandidatin wieder einmal mit seinem handfestem Zynismus. Wofür also die ganze Qual? Von Will Self ist keine Antwort zu erwarten. Oder vielleicht doch: Die Kapitel hat er nach der Satzfolge eines Requiems überschrieben. Von einer Lebenden hat er also schon längst nicht mehr erzählt.
WIEBKE POROMBKA.
Will Self: "Leberknödel". Roman.
Aus dem Englischen von Gregor Hens.
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 208 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vermutlich ist dieser schmale Roman deshalb so befremdlich, weil er einen Großteil unserer Vorstellungen mit, wie es scheint, diebischer Freude unterläuft - jene der Moral und des Geschmacks eingeschlossen. Die siebzigjährige Jo fliegt von Birmingham nach Zürich, um dort in einer Einrichtung für Sterbehilfe ihrem Leben ein selbstgewähltes Ende zu setzen. Jo leidet, wie die Ärzte ihr prognostiziert haben, unheilbar an Leberkrebs. Wer sich kurz noch einmal den Titel des Romans in Erinnerung ruft - "Leberknödel" -, der mag eine Vorstellung von Selfs Provokationslevel haben.
Dass Jo den Giftbecher in letzter Sekunde ablehnen wird, ist nicht sonderlich überraschend. Schon im Flugzeug in die Schweiz hat sie sich mit Absturzängsten gequält, was sie an ihrer Entschlossenheit zum Sterben zumindest zweifeln ließ. Vor allem scheint es die Geringschätzung ihrer Tochter zu sein, von der Jo sich zwar begleiten lässt, die sie aber für faul, dicklich und raffgierig hält, die letztendlich den Ausschlag gibt, am Leben zu bleiben: So schnell will sie der verwöhnten Mittdreißigerin das Erbe nicht überlassen. Verkorkste Mutter-Tochter-Beziehungen haben eben die Eigenschaft, ungewöhnliche Entscheidungen zu bedingen.
Die Dynamik, die im gerade noch bewahrten Leben von Jo nun eintritt, ist allerdings eher ungewöhnlich. Die bisher siechende, inkontinente, nicht ohne eine hohe Dosis von Schmerztabletten auskommende Patientin verwandelt sich innerhalb kurzer Zeit in eine blühende alte Dame. Ein Wunder? Das jedenfalls wollen ihr ein paar eifrige Katholiken weismachen, deren Hauptanliegen indes darin besteht, den frevelhaften Machenschaften des Freitod-Instituts ein Ende zu bereiten. Ein wenig magischen Realismus scheint Will Self seinem Roman tatsächlich beigegeben zu haben, um diesen schließlich aber mit scharfem säkularem Besteck zu sezieren. Nachdem Jo sich hoffnungsvoll für das Leben entschieden hat, führt Self genüsslich dessen alltägliche Erbärmlichkeit vor Augen. Wie zu erwarten war, überzieht dieser Autor die Geschichte der vermeintlichen Wunderheilung einer sterbenskranken Freitod-Kandidatin wieder einmal mit seinem handfestem Zynismus. Wofür also die ganze Qual? Von Will Self ist keine Antwort zu erwarten. Oder vielleicht doch: Die Kapitel hat er nach der Satzfolge eines Requiems überschrieben. Von einer Lebenden hat er also schon längst nicht mehr erzählt.
WIEBKE POROMBKA.
Will Self: "Leberknödel". Roman.
Aus dem Englischen von Gregor Hens.
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 208 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Der Leberknödel ist ein seltsames und irritierendes Gebilde, so amüsant wie erschütternd, und eben deshalb ein hochsolides Stück Literatur.« Kristina Maidt-Zinke Süddeutsche Zeitung 20151013