Festa della Liberazione - Tag der Befreiung von der deutschen Besatzung in Italien. Die achtjährige Francesca fragt ihren Opa Roberto besorgt, warum er denn seit Jahren in Berlin bei den "bösen Deutschen" lebe. Der Journalist Roberto Giardina schildert entlang deutscher Geschichte, Alltagskuriositäten und teutonischer Auffälligkeiten zunächst dem Mädchen und später der jungen Frau mal ernst, mal augenzwinkernd seine Erfahrungen mit der Wahlheimat. Zu Wort kommt ein profilierter Kenner und Betrachter deutsch-italienischer Bindungen und Befürchtungen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.2017Die Bösen trinken Cappuccino nach dem Essen
Aufräumen mit falschen Gewissheiten: Roberto Giardina diagnostiziert die deutsch-italienischen Beziehungen
Um die deutsch-italienischen Beziehungen steht es nicht zum besten. Spannungs- und vorurteilsfrei waren sie nie. "Die Deutschen lieben die Italiener, aber sie schätzen sie nicht. - Die Italiener schätzen die Deutschen, aber sie lieben sie nicht", bringt das asymmetrische Verhältnis der "fremden Freunde" auf die Formel. Seit der Einführung des Euros, die in beiden Ländern begrüßt wurde, verschieben sich die Gewichte: Deutschland wird von Italien bewundert, beneidet und auch gefürchtet. Die Bereitschaft, es für die Krise des eigenen Landes verantwortlich zu machen, wächst. Prononcierte Gegenstimmen gibt es nur wenige.
Vor allem Angelo Bolaffi, der in seiner Streitschrift "Deutsches Herz" (2014) für eine deutsche Hegemonie in Europa plädiert, findet Beachtung und in Roberto Giardina, der schon 1995 "Anleitung, die Deutschen zu lieben" vorlegte, einen Mitstreiter. Sein Buch "Lebst du bei den Bösen? Deutschland - meiner Enkelin erklärt" weist den 1940 in Palermo geborenen Journalisten als profunden Kenner aus, der mit erfrischend unvoreingenommenen Betrachtungen die Macht der Stereotypen unterläuft.
Anders als Bolaffi, der seinen Landsleuten die Vorzüge des "deutschen Modells" mit philosophischer und soziologischer Gelehrsamkeit nahebringt, geht Giardina, der seit 1986 als Korrespondent italienischer Zeitungen zuerst in Bonn und schon lange in Berlin arbeitet, von seinen Alltagserfahrungen aus. Anstoß ist eine Frage, die ihm seine damals achtjährige Enkelin Francesca 2008 am Telefon stellte, nachdem ihre Lehrerin am Vorabend des 25. April erklärt hatte, dass am nächsten Tag die Befreiung Italiens von den Nazis, den bösen Deutschen, gefeiert werde, den, so folgerte das Mädchen, Nachbarn ihres Nonno in Berlin.
Für Giardina bleibt das keine Kinderfrage, steht sie doch auch für einen Geschichtsunterricht, der verschweigt, dass die Italiener lange Verbündete der Deutschen waren. Wie er mit den vielen Klischees und falschen Gewissheiten, die den Blick auf das jeweils andere Land verstellen, umgeht (und sie umgeht), macht sein Buch bemerkenswert.
Als Journalist, der Willy Brandt nach Warschau und Jerusalem begleitet und Günter Grass interviewt hat, Albert Speer in seiner Villa in Heidelberg besucht und andere alte Nazis, vor allem solche, die an Kriegsverbrechen in Italien beteiligt waren, getroffen hat, kennt Giardina die Deutschen: Wie sie waren, und wie sie heute sind. Die Unterschiede, die er dabei aus- und oft an unscheinbaren Details festmacht, eröffnen Einblicke und Erkenntnisse. Mehr als acht Jahre wird das Gespräch mit der Enkelin, mit der er durch Berlin streift, geführt, und ihre unbefangenen Fragen sind es, die ihn offen und kritisch über Geschichte und Gegenwart reflektieren lassen: über Stolpersteine in Wilmersdorf und die nicht mehr erkennbare Grenze, wo die Mauer verlief, über das palästinensische Mädchen, das Angela Merkel zum Weinen brachte, und die Marokkanerin in Francescas Klasse in Rom, die eine der besten Schülerinnen ist und von ihrem strengen Muslimvater samstags zum Deutschlernen geschickt wird, über Gaslaternen und Pickelhauben, Geschlechterrollen und Geschwindigkeitskontrollen, Schwarzfahren und Schadenfreude, Bücher und Filme, aktuelle Nachrichten und historische Begebenheiten.
Giardina kann Verbindungen herstellen und konkret einhaken, Kant und Hegel, Kleists "Prinz von Homburg" oder Pirandellos Novellen aufrufen. Dabei haben seine Anmerkungen nichts Belehrendes oder großväterlich Betuliches. Unverkrampft kommen sie auf typisch Deutsches und Italienisches, auf Tugenden und Untugenden zu sprechen. Auch darauf, dass der Deutsche nach dem Essen Cappuccino bestellt.
Besonders irritierend an den Auskünften des Korrespondenten ist, wie sehr seine eigene Redaktion in Klischees befangen und auf Bestätigung aus ist. Am deutlichsten bekommt er das zu spüren, als sein Chefredakteur ihn vor dem WM-Finale 2016 anruft und sagt: "Du musst dich jetzt outen: Für wen bist du morgen Abend?" Giardina "wagte zu gestehen, dass ich, wenngleich nicht ohne Zweifel, zu den Deutschen halten würde. Dafür wurde ich beschuldigt, ein potentieller Nazi zu sein." Aber mit vorgefertigten Meinungen kann er nicht dienen. Francescas Frage, ob er die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen könnte, bejaht er. Um das sogleich für unnötig zu erklären: "Wir sind Europäer."
Giardina lebt Europa, seine Enkelin kennt es nicht anders: "Hier ist der einzige Ort, an dem ich mich als Fremde und gleichzeitig zu Hause fühlen kann", resümiert die inzwischen Siebzehnjährige ihre Besuche in Berlin. Europa als politische Errungenschaft und, zwei Generationen später, als Alltag. Am meisten ist diesem Buch zu wünschen, dass es auch in der Sprache erscheint, in der es geschrieben wurde.
ANDREAS ROSSMANN
Roberto Giardina:
"Lebst du bei den Bösen?"
Deutschland - meiner
Enkelin erklärt.
Aus dem Italienischen
von Bettina Müller Renzoni.
Launenweber Verlag,
Köln 2017. 254 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aufräumen mit falschen Gewissheiten: Roberto Giardina diagnostiziert die deutsch-italienischen Beziehungen
Um die deutsch-italienischen Beziehungen steht es nicht zum besten. Spannungs- und vorurteilsfrei waren sie nie. "Die Deutschen lieben die Italiener, aber sie schätzen sie nicht. - Die Italiener schätzen die Deutschen, aber sie lieben sie nicht", bringt das asymmetrische Verhältnis der "fremden Freunde" auf die Formel. Seit der Einführung des Euros, die in beiden Ländern begrüßt wurde, verschieben sich die Gewichte: Deutschland wird von Italien bewundert, beneidet und auch gefürchtet. Die Bereitschaft, es für die Krise des eigenen Landes verantwortlich zu machen, wächst. Prononcierte Gegenstimmen gibt es nur wenige.
Vor allem Angelo Bolaffi, der in seiner Streitschrift "Deutsches Herz" (2014) für eine deutsche Hegemonie in Europa plädiert, findet Beachtung und in Roberto Giardina, der schon 1995 "Anleitung, die Deutschen zu lieben" vorlegte, einen Mitstreiter. Sein Buch "Lebst du bei den Bösen? Deutschland - meiner Enkelin erklärt" weist den 1940 in Palermo geborenen Journalisten als profunden Kenner aus, der mit erfrischend unvoreingenommenen Betrachtungen die Macht der Stereotypen unterläuft.
Anders als Bolaffi, der seinen Landsleuten die Vorzüge des "deutschen Modells" mit philosophischer und soziologischer Gelehrsamkeit nahebringt, geht Giardina, der seit 1986 als Korrespondent italienischer Zeitungen zuerst in Bonn und schon lange in Berlin arbeitet, von seinen Alltagserfahrungen aus. Anstoß ist eine Frage, die ihm seine damals achtjährige Enkelin Francesca 2008 am Telefon stellte, nachdem ihre Lehrerin am Vorabend des 25. April erklärt hatte, dass am nächsten Tag die Befreiung Italiens von den Nazis, den bösen Deutschen, gefeiert werde, den, so folgerte das Mädchen, Nachbarn ihres Nonno in Berlin.
Für Giardina bleibt das keine Kinderfrage, steht sie doch auch für einen Geschichtsunterricht, der verschweigt, dass die Italiener lange Verbündete der Deutschen waren. Wie er mit den vielen Klischees und falschen Gewissheiten, die den Blick auf das jeweils andere Land verstellen, umgeht (und sie umgeht), macht sein Buch bemerkenswert.
Als Journalist, der Willy Brandt nach Warschau und Jerusalem begleitet und Günter Grass interviewt hat, Albert Speer in seiner Villa in Heidelberg besucht und andere alte Nazis, vor allem solche, die an Kriegsverbrechen in Italien beteiligt waren, getroffen hat, kennt Giardina die Deutschen: Wie sie waren, und wie sie heute sind. Die Unterschiede, die er dabei aus- und oft an unscheinbaren Details festmacht, eröffnen Einblicke und Erkenntnisse. Mehr als acht Jahre wird das Gespräch mit der Enkelin, mit der er durch Berlin streift, geführt, und ihre unbefangenen Fragen sind es, die ihn offen und kritisch über Geschichte und Gegenwart reflektieren lassen: über Stolpersteine in Wilmersdorf und die nicht mehr erkennbare Grenze, wo die Mauer verlief, über das palästinensische Mädchen, das Angela Merkel zum Weinen brachte, und die Marokkanerin in Francescas Klasse in Rom, die eine der besten Schülerinnen ist und von ihrem strengen Muslimvater samstags zum Deutschlernen geschickt wird, über Gaslaternen und Pickelhauben, Geschlechterrollen und Geschwindigkeitskontrollen, Schwarzfahren und Schadenfreude, Bücher und Filme, aktuelle Nachrichten und historische Begebenheiten.
Giardina kann Verbindungen herstellen und konkret einhaken, Kant und Hegel, Kleists "Prinz von Homburg" oder Pirandellos Novellen aufrufen. Dabei haben seine Anmerkungen nichts Belehrendes oder großväterlich Betuliches. Unverkrampft kommen sie auf typisch Deutsches und Italienisches, auf Tugenden und Untugenden zu sprechen. Auch darauf, dass der Deutsche nach dem Essen Cappuccino bestellt.
Besonders irritierend an den Auskünften des Korrespondenten ist, wie sehr seine eigene Redaktion in Klischees befangen und auf Bestätigung aus ist. Am deutlichsten bekommt er das zu spüren, als sein Chefredakteur ihn vor dem WM-Finale 2016 anruft und sagt: "Du musst dich jetzt outen: Für wen bist du morgen Abend?" Giardina "wagte zu gestehen, dass ich, wenngleich nicht ohne Zweifel, zu den Deutschen halten würde. Dafür wurde ich beschuldigt, ein potentieller Nazi zu sein." Aber mit vorgefertigten Meinungen kann er nicht dienen. Francescas Frage, ob er die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen könnte, bejaht er. Um das sogleich für unnötig zu erklären: "Wir sind Europäer."
Giardina lebt Europa, seine Enkelin kennt es nicht anders: "Hier ist der einzige Ort, an dem ich mich als Fremde und gleichzeitig zu Hause fühlen kann", resümiert die inzwischen Siebzehnjährige ihre Besuche in Berlin. Europa als politische Errungenschaft und, zwei Generationen später, als Alltag. Am meisten ist diesem Buch zu wünschen, dass es auch in der Sprache erscheint, in der es geschrieben wurde.
ANDREAS ROSSMANN
Roberto Giardina:
"Lebst du bei den Bösen?"
Deutschland - meiner
Enkelin erklärt.
Aus dem Italienischen
von Bettina Müller Renzoni.
Launenweber Verlag,
Köln 2017. 254 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main