Texte in deutscher Erstübersetzung von Shakib Arslan, Gabriel Audisio, Roland Barthes, S. D. Goitein, Taha Hussein und Claude McKayWeitere Texte von Erich Arend, Karl Eugen Gass, Jean Grenier, Giórgos Seféris, Léopold Sédar Senghor, Giuseppe Ungaretti, Eugen Gottlob Winkler und Marguerite YourcenarDie Autoren dieses Bandes reflektieren das Mittelmeer als zentralen Bezugspunkt des europäischen Bewusstseins im Moment einer radikalen Krise, die im Zeichen forcierter Modernisierungen, des Kolonialismus und der Kriege der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufbricht.Als Vorbildkultur taugt ihnen die beschriebene Méditerranée nicht mehr, jedenfalls nicht ungebrochen, und auch nicht mehr als Zentrum einer globalisierten Weltgesellschaft. So verzeichnen sie ein letztes Mal das kulturelle Inventar des Mittelmeers und lösen sich, jeweils auf spezifische Art, von der Vorstellung einer im Süden als Norm zu gewinnenden Klassizität und Humanität. Doch auch wenn das mediterrane Erbe in der Moderne radikal in Frage gestellt und die kulturelle Geographie des Mittelmeers neu geordnet wird, bleibt der Bezug zum Süden doch Teil der Bestimmungen des Europäischen. Er lässt sich als Konfrontation der Autoren mit einem leeren Zentrum beschreiben, das nicht mehr die Hoffnung auf eine Ordnung des Maßes oder das Versprechen ursprünglicher Vitalität bereithält, ohne das aber ihre ästhetischen und anthropologischen Reflexionen nicht denkbar wären.Wie über Europa nachdenken, wenn nicht aus dieser Verschiebung heraus? In der Kulturkrise Europas unserer Tage erscheinen die hier präsentierten Texte daher geradezu gegenwärtig.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wie die literarische Moderne das Mittelmeer als Krisenregion entdeckte, erfährt Lothar Müller aus diesem von Franck Hofmann und Markus Messling herausgegebenen Band mit Essays, Erzählungen und Gedichten. Vor allem die große Menge an Erstübersetzungen, z. B. von Gedichten von Giuseppe Ungaretti und Erich Arendt, in denen das Mittelmeer der Gegenwart erfunden wird, wie Müller schreibt, Auszüge aus Claude McKays Roman "Banjo" oder ein Essay von Roland Barthes über seine Griechenlandreise 1938, nimmt den Rezensenten für den Band ein. Die Idee hinter dem Sammelband, der Abschied vom mare nostrum in der literarischen Moderne, leuchtet Müller ein. Und das neue Krisenbewusstsein wird ihm offenbar, etwa in den Texten über die Rivalität von Judentum, Christentum und Islam im Mittelmeerraum.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche ZeitungZwei Schritte zum Nichts
Ein Band mit Essays, Erzählungen und Gedichten zeigt, wie die literarische Moderne das Mittelmeer als Krisenregion entdeckte
Er heißt wie sein Instrument: Banjo. Er stammt aus der Baumwollregion im Süden Amerikas. Er war Schauermann, Fabrikarbeiter, Stallbursche und als Matrose schon zweimal in Genua, einmal in Barcelona. Jetzt ist der Vagabund in der Stadt seiner Seemanns-Träume, in Marseille, hat eine Idee im Kopf („Schwarze Faxenmacher aus Amerika sind heutzutage überall gefragt“) und streunt mit wiegendem Gang durch die Menge am Strand, inmitten von „Deportierten aus Amerika, die gegen die Einwanderungsgesetze der Vereinigten Staaten verstoßen hatten, alle voll Furcht und Scham bei dem Gedanken, in ihre Heimatländer zurückkehren zu müssen, alle gestrandet in diesem grandiosen Hafen der Provence“.
Gute Anthologien folgen einer Idee, die sie zusammenhält. In dieser Anthologie über das Mittelmeer ist dies der Abschied vom römischen „mare nostrum“ in der literarischen Moderne, die Verwandlung der Inseln und Landschaften, die im Zentrum der europäischen Antikensehnsucht gestanden hatten, in Projektionsflächen des Krisenbewusstseins. Darum taucht Banjo auf, der Held des gleichnamigen Romans von Claude McKay, der im Jahr 1929 erschien, als sein aus Jamaika stammender Autor zu einem der Stars der „Harlem Renaissance“ wurde. Mit ihm kommt Luft aus der atlantischen und pazifischen Welt nach Marseille. Er trifft dort auf die Flüchtlinge, die im Roman „Transit“ (1944) von Anna Seghers von den Lagern der Nazis erzählen und sich um das Schiff nach Casablanca oder das Visum für Caracas sorgen.
Zu den Flüchtlingen gesellen sich die Heimkehrer, die, anders als Odysseus, ihre Häuser nicht mehr wiederfinden. So geht es dem Dichter Giorgos Seferis bei seiner „Ionischen Reise“, als er 1950 in das Smyrna seiner Kindheit kommt, das 1922 im griechisch-türkischen Krieg niederbrannte: „Nach dem Essen zwei Schritte zum Platz unseres Hauses: Das Nichts. Dann noch ein paar Schritte zum ,Kai‘. Du entzifferst mit Mühe erloschene Buchstaben. Ich bin ganz woanders.“
Von Smyrna, das zum türkischen Izmir wurde, geht es nach Osten, und nach Istanbul. Und in die Levante, von dort nach Kairo und Alexandria. In dem Essay, den Marguerite Yourcenar 1940 über Konstantin Kavafis geschrieben hat, den griechischen Lyriker in Alexandria, wird der Abschied vom Mittelmeer des Klassizismus greifbar: „Der Mittelpunkt unserer antiken Geschichte ist die Akropolis von Athen. Kavafis’ Humanismus führt uns durch Alexandria, Kleinasien, in geringerem Maße durch Byzanz und durch eine komplexe Reihe von griechischen Reichen, die sich immer weiter von dem entfernen, was uns als das Goldene Zeitalter erscheint.“
Gedichte von Giuseppe Ungaretti und Erich Arendt erfinden das Mittelmeer der Gegenwart. Wie die Auszüge aus dem Roman „Banjo“ gehört der 1944 publizierte Essay von Roland Barthes über seine Griechenlandreise 1938 zu den Erstübersetzungen dieser Anthologie. Er steht hier mit seiner Skepsis gegen die Statuen des Klassizismus an der Seite der jungen Deutschen Eugen Gottlob Winkler und Karl Eugen Gass, denen etwa zur gleichen Zeit die klassische Italienreise nicht mehr genügt und nicht mehr gelingt.
Drei historisch-politische Essays, die den Mittelmeerraum als Schauplatz der Durchdringung und Rivalität von Judentum, Christentum und Islam reflektieren, sind ebenfalls Erstübersetzungen. Der jüdische Gelehrte S. D. Goitein blickt 1955, nach der Staatsgründung Israels, auf die Geschichte der Juden im Mittelalter während der arabischen Herrschaft zurück und stellt – mit offenkundig aktuellem Nebensinn – die Effekte dessen heraus, was er „die jüdisch-arabische Symbiose“ nennt. Der drusische Intellektuelle Amir Shakib Arslan will 1937 eine Renaissance der islamischen Zivilisation durch einen Islam befördern, der den Koran als Quelle der Förderung der Wissenschaften liest. Und Taha Hussein plädiert 1938 für eine kulturelle Vervollständigung der politischen Unabhängigkeit Ägyptens, die – gewissermaßen mit dem Rücken zum Islam – auf das antike Ägypten und seine engen Verbindungen mit Europa zurückgeht und den Islam in das alte Dreieck aus griechischer Literatur, Philosophie und Kunst, römischer Staatskunst und christlicher Religion integriert.
An die Seite dieser Zugriffe auf die europäische Tradition und den Norden aus südlicher Perspektive steht Léopold Sédar Senghor mit seinem 1949 für die UN verfassten Essay „Die Botschaft Goethes an die ,neuen Neger‘“. Gemeint ist hier nicht nur das Bündnis zwischen „Négritude“ und europäischer Antike. Goethes Italienreise erscheint als Entwurzelung eines Nordeuropäers, der den Süden als Ferment in sich aufnimmt. Solche Entwurzelungen will diese Anthologie befördern.
LOTHAR MÜLLER
Franck Hofmann, Markus Messling (Hrsg.): Leeres Zentrum. Das Mittelmeer und die literarische Moderne. Eine Anthologie. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2015. 288 Seiten, 15 Abb., 29,80 Euro.
Der Matrose und Vagabund
Banjo streunt durch Marseille,
umgeben von Deportierten
Vergittert: Blick auf das Meer an der ligurischen Küste.
Foto: Regina Schmeken
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Ein Band mit Essays, Erzählungen und Gedichten zeigt, wie die literarische Moderne das Mittelmeer als Krisenregion entdeckte
Er heißt wie sein Instrument: Banjo. Er stammt aus der Baumwollregion im Süden Amerikas. Er war Schauermann, Fabrikarbeiter, Stallbursche und als Matrose schon zweimal in Genua, einmal in Barcelona. Jetzt ist der Vagabund in der Stadt seiner Seemanns-Träume, in Marseille, hat eine Idee im Kopf („Schwarze Faxenmacher aus Amerika sind heutzutage überall gefragt“) und streunt mit wiegendem Gang durch die Menge am Strand, inmitten von „Deportierten aus Amerika, die gegen die Einwanderungsgesetze der Vereinigten Staaten verstoßen hatten, alle voll Furcht und Scham bei dem Gedanken, in ihre Heimatländer zurückkehren zu müssen, alle gestrandet in diesem grandiosen Hafen der Provence“.
Gute Anthologien folgen einer Idee, die sie zusammenhält. In dieser Anthologie über das Mittelmeer ist dies der Abschied vom römischen „mare nostrum“ in der literarischen Moderne, die Verwandlung der Inseln und Landschaften, die im Zentrum der europäischen Antikensehnsucht gestanden hatten, in Projektionsflächen des Krisenbewusstseins. Darum taucht Banjo auf, der Held des gleichnamigen Romans von Claude McKay, der im Jahr 1929 erschien, als sein aus Jamaika stammender Autor zu einem der Stars der „Harlem Renaissance“ wurde. Mit ihm kommt Luft aus der atlantischen und pazifischen Welt nach Marseille. Er trifft dort auf die Flüchtlinge, die im Roman „Transit“ (1944) von Anna Seghers von den Lagern der Nazis erzählen und sich um das Schiff nach Casablanca oder das Visum für Caracas sorgen.
Zu den Flüchtlingen gesellen sich die Heimkehrer, die, anders als Odysseus, ihre Häuser nicht mehr wiederfinden. So geht es dem Dichter Giorgos Seferis bei seiner „Ionischen Reise“, als er 1950 in das Smyrna seiner Kindheit kommt, das 1922 im griechisch-türkischen Krieg niederbrannte: „Nach dem Essen zwei Schritte zum Platz unseres Hauses: Das Nichts. Dann noch ein paar Schritte zum ,Kai‘. Du entzifferst mit Mühe erloschene Buchstaben. Ich bin ganz woanders.“
Von Smyrna, das zum türkischen Izmir wurde, geht es nach Osten, und nach Istanbul. Und in die Levante, von dort nach Kairo und Alexandria. In dem Essay, den Marguerite Yourcenar 1940 über Konstantin Kavafis geschrieben hat, den griechischen Lyriker in Alexandria, wird der Abschied vom Mittelmeer des Klassizismus greifbar: „Der Mittelpunkt unserer antiken Geschichte ist die Akropolis von Athen. Kavafis’ Humanismus führt uns durch Alexandria, Kleinasien, in geringerem Maße durch Byzanz und durch eine komplexe Reihe von griechischen Reichen, die sich immer weiter von dem entfernen, was uns als das Goldene Zeitalter erscheint.“
Gedichte von Giuseppe Ungaretti und Erich Arendt erfinden das Mittelmeer der Gegenwart. Wie die Auszüge aus dem Roman „Banjo“ gehört der 1944 publizierte Essay von Roland Barthes über seine Griechenlandreise 1938 zu den Erstübersetzungen dieser Anthologie. Er steht hier mit seiner Skepsis gegen die Statuen des Klassizismus an der Seite der jungen Deutschen Eugen Gottlob Winkler und Karl Eugen Gass, denen etwa zur gleichen Zeit die klassische Italienreise nicht mehr genügt und nicht mehr gelingt.
Drei historisch-politische Essays, die den Mittelmeerraum als Schauplatz der Durchdringung und Rivalität von Judentum, Christentum und Islam reflektieren, sind ebenfalls Erstübersetzungen. Der jüdische Gelehrte S. D. Goitein blickt 1955, nach der Staatsgründung Israels, auf die Geschichte der Juden im Mittelalter während der arabischen Herrschaft zurück und stellt – mit offenkundig aktuellem Nebensinn – die Effekte dessen heraus, was er „die jüdisch-arabische Symbiose“ nennt. Der drusische Intellektuelle Amir Shakib Arslan will 1937 eine Renaissance der islamischen Zivilisation durch einen Islam befördern, der den Koran als Quelle der Förderung der Wissenschaften liest. Und Taha Hussein plädiert 1938 für eine kulturelle Vervollständigung der politischen Unabhängigkeit Ägyptens, die – gewissermaßen mit dem Rücken zum Islam – auf das antike Ägypten und seine engen Verbindungen mit Europa zurückgeht und den Islam in das alte Dreieck aus griechischer Literatur, Philosophie und Kunst, römischer Staatskunst und christlicher Religion integriert.
An die Seite dieser Zugriffe auf die europäische Tradition und den Norden aus südlicher Perspektive steht Léopold Sédar Senghor mit seinem 1949 für die UN verfassten Essay „Die Botschaft Goethes an die ,neuen Neger‘“. Gemeint ist hier nicht nur das Bündnis zwischen „Négritude“ und europäischer Antike. Goethes Italienreise erscheint als Entwurzelung eines Nordeuropäers, der den Süden als Ferment in sich aufnimmt. Solche Entwurzelungen will diese Anthologie befördern.
LOTHAR MÜLLER
Franck Hofmann, Markus Messling (Hrsg.): Leeres Zentrum. Das Mittelmeer und die literarische Moderne. Eine Anthologie. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2015. 288 Seiten, 15 Abb., 29,80 Euro.
Der Matrose und Vagabund
Banjo streunt durch Marseille,
umgeben von Deportierten
Vergittert: Blick auf das Meer an der ligurischen Küste.
Foto: Regina Schmeken
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