Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.2001Belastende Erinnerung
Dachau: Die Spaltung zwischen der Gemeinde und der KZ-Gedenkstätte
Harold Marcuse: Legacies of Dachau. Cambridge University Press, Cambridge 2001. 590 Seiten, 27,95 Pfund.
Das ehemalige Konzentrationslager Dachau ist mit etwa 800 000 Besuchern jährlich die am stärksten frequentierte NS-Gedenkstätte in Deutschland. Nicht zur Freude aller Bürger hat die einstige Stätte nationalsozialistischen Terrors gegen politische Gegner, Mißliebige, Unerwünschte, der Ort grausamer medizinischer Experimente an Häftlingen magnetische Anziehungskraft auf Besucher aus aller Welt. Dort lebten "Herrenmenschen" sadistische Obsessionen aus, dort wurde polnische Intelligenz zu Tode geschunden und sowjetische Kriegsgefangene gegen alles Völkerrecht ermordet.
Dachau war, im März 1933 vom kommissarischen Münchener Polizeipräsidenten Heinrich Himmler errichtet und Ende April 1945 von amerikanischen Truppen befreit, Modell und Schulungszentrum des gesamten KZ-Systems und wurde zum Synonym für die Organisation nationalsozialistischer Repression, die die SS als Staat im Staate ausübte.
Harold Marcuse, amerikanischer Historiker aus der Enkelgeneration der Emigranten aus Hitler-Deutschland (sein Großvater, der Philosoph, ist 1898 in Berlin geboren und 1933/34 in die Vereinigten Staaten emigriert), hat ein monumentales Buch zur Nachkriegsgeschichte des ehemaligen Konzentrationslagers vorgelegt. Er ist angetrieben von der Leidenschaft vieler amerikanischer Intellektueller, zu erforschen, wie die Deutschen mit ihrer Vergangenheit umgehen, und zusätzlich motiviert auf einer ersten Deutschlandreise zur biographischen Spurensuche.
Erstaunliche Kontinuitäten hat Marcuse zutage gefördert, wie die Geschichte des Bürgermeisters Hans Zauner, der von 1933 bis 1945 als NSDAP-Stadtrat amtierte. Zauner war dann von 1952 bis 1960 Oberbürgermeister - bis er einem britischen Reporter erklärte, daß man nicht glauben müsse, die KZ-Häftlinge seien alle Heroen gewesen, nein, viele von ihnen hätten der damaligen Regierung opponiert oder seien Kriminelle und Homosexuelle gewesen, also zu Recht im KZ eingesessen.
Den Eliten des Ortes und ihrer Haltung zum nationalsozialistischen Erbe widmet Marcuse bis in die Gegenwart Aufmerksamkeit, nicht minder der Zuwendung von Staats wegen, die die KZ-Gedenkstätte genießt im jahrelangen Auf und Ab um die zeitgemäße Neukonzeption der musealen und didaktischen Einrichtungen.
Die Wege von der Befreiung des KZ bis zur Einrichtung der Gedenkstätte 1967 waren steinig und verschlungen. Das KZGelände war zunächst Schauplatz von Kriegsverbrecher-Prozessen unter amerikanischer Gerichtshoheit. Es sollte dann geschleift werden, bot sich aber in der Nachkriegszeit für dringliche Nutzungen an. 1948 beschloß der Bayerische Landtag eine adäquat erscheinende Verwendung des Geländes als "Arbeitslager für asoziale Elemente" (Vorbild war die Entscheidung des Hamburger Senats von 1947, ein Gefängnis im KZ Neuengamme neu zu errichten). Statt dessen diente das Areal des KZ Dachau dann aber als Lager zur Unterbringung von Flüchtlingen, woraus sich eine Wohnsiedlung entwickelte, die bis in die sechziger Jahre bestand, während ein anderer Bereich, das ehemalige SS-Lager, bis 1974 von der United States Army benutzt wurde. Hier befindet sich heute das Hauptquartier der bayerischen Bereitschaftspolizei.
Ein Karmeliterkloster, eine evangelische Kirche und ein russisch-orthodoxes Gotteshaus gehören zum Repertoire der Nachnutzung im Dienste der Gedächtniskultur, verbunden mit Überformungen und Veränderungen, auch Rekonstruktionen, die jede Art der Musealisierung und Pädagogisierung des Geländes problematisch machen, ganz abgesehen von den psychologischen und emotionalen Schwierigkeiten des Erinnerns, die sich hier kristallisieren.
Lange haben die Bürger der schönen Stadt Dachau sich darauf zurückgezogen, ihre Gemeinde habe mit der Schreckensstätte nichts zu schaffen. Sie haben sich in Opfermentalität geflüchtet, beispielsweise das örtliche Autokennzeichen zu vermeiden versucht, weil man angeblich in Urlaubsregionen diffamiert werde, wenn man per Nummernschild als Dachauer erkannt sei. Um die Zufahrt zur Gedenkstätte, die nach jahrzehntelangem Provisorium wieder auf die Originaltrasse verlegt werden soll, ist ein Streit entbrannt, der alle Facetten kommunaler Politik in Krähwinkel demonstriert, einschließlich des Protestes aufgebrachter Kleinbürger, die um die Ruhe ihrer Eigenheime bangen, die sie zu Beginn der neunziger Jahre direkt an der Grundstücksgrenze des KZ errichtet haben.
Durch "das Gesindel", das an ihren Vorgärten vorbei zur Gedenkstätte strebe, fühlen sie sich so belästigt, daß ihnen Beleidigendes über die Besucher wie über die ehemaligen Opfer des nationalsozialistischen Regimes leicht über die Lippen kommt. Das Maß sei voll, und die Dachauer Bürger seien es nach langen Jahren des Schweigens leid, immer wieder mit der KZ-Vergangenheit konfrontiert zu werden, gibt ein über die Vergangenheitsbewältigung ergrimmter Dachauer zu Protokoll.
Die Abwehr hat Tradition. Ein früherer Bürgermeister hat die Spaltung zwischen Gemeinde und Gedenkstätte jahrzehntelang kultiviert, im Fortissimo sekundiert von einer lokalen Pressegröße. Mit wehleidiger Attitüde waren die Gäste aus aller Welt jahrelang aufgefordert, nicht nur die Gedenkstätte, sondern auch und vor allem die heile Welt des zwölfhundertjährigen Dachau zu besuchen. Ein trotzig am Eingang der Gedenkstätte errichtetes Schild warb in gebieterischer Form für die Sehenswürdigkeit der Altstadt. Der Nachfolger des langjährigen Oberbürgermeisters hat es vor einigen Jahren entfernen lassen. Viel geändert hat sich aber noch nicht am Klima zwischen der Stadt und der Gedenkstätte.
Marcuses Studie, die solche Schwierigkeiten gut recherchiert und gründlich belegt darstellt, ist keine aufgeregte Anklageschrift. Um so schwerwiegender sind die von ihm diagnostizierten Befunde von Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt geradezu zu einer Umkehr der Rollen von Opfern einerseits und Tätern wie Mitläufern andererseits führten. Mit Stereotypen über die KZ-Haft und der Autosuggestion, man habe nichts gewußt und nichts bemerkt, suchten die Bürger Dachaus ihren Frieden. Der Wunsch, die materiellen Überreste des KZ würden verschwinden und die belastete Erinnerung damit enden, war ein Symptom, die späte Errichtung der Gedenkstätte ein dazu gegenläufiges Projekt, das während des Generationenkonflikts 1968 im Skandal kulminierte, als sich jugendliche Eiferer mit Überlebenden auf dem Appellplatz bei der Einweihung des Mahnmals prügelten.
Zur Geschichte des Konzentrationslagers Dachau gibt es noch immer keine wissenschaftliche Gesamtdarstellung. Zur Geschichte des Gedenkortes Dachau, die mit der Befreiung des KZ im April 1945 einsetzt, gibt es jetzt die vorzügliche Arbeit von Harold Marcuse. Man wünscht sich bald eine deutsche Übersetzung.
WOLFGANG BENZ
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Dachau: Die Spaltung zwischen der Gemeinde und der KZ-Gedenkstätte
Harold Marcuse: Legacies of Dachau. Cambridge University Press, Cambridge 2001. 590 Seiten, 27,95 Pfund.
Das ehemalige Konzentrationslager Dachau ist mit etwa 800 000 Besuchern jährlich die am stärksten frequentierte NS-Gedenkstätte in Deutschland. Nicht zur Freude aller Bürger hat die einstige Stätte nationalsozialistischen Terrors gegen politische Gegner, Mißliebige, Unerwünschte, der Ort grausamer medizinischer Experimente an Häftlingen magnetische Anziehungskraft auf Besucher aus aller Welt. Dort lebten "Herrenmenschen" sadistische Obsessionen aus, dort wurde polnische Intelligenz zu Tode geschunden und sowjetische Kriegsgefangene gegen alles Völkerrecht ermordet.
Dachau war, im März 1933 vom kommissarischen Münchener Polizeipräsidenten Heinrich Himmler errichtet und Ende April 1945 von amerikanischen Truppen befreit, Modell und Schulungszentrum des gesamten KZ-Systems und wurde zum Synonym für die Organisation nationalsozialistischer Repression, die die SS als Staat im Staate ausübte.
Harold Marcuse, amerikanischer Historiker aus der Enkelgeneration der Emigranten aus Hitler-Deutschland (sein Großvater, der Philosoph, ist 1898 in Berlin geboren und 1933/34 in die Vereinigten Staaten emigriert), hat ein monumentales Buch zur Nachkriegsgeschichte des ehemaligen Konzentrationslagers vorgelegt. Er ist angetrieben von der Leidenschaft vieler amerikanischer Intellektueller, zu erforschen, wie die Deutschen mit ihrer Vergangenheit umgehen, und zusätzlich motiviert auf einer ersten Deutschlandreise zur biographischen Spurensuche.
Erstaunliche Kontinuitäten hat Marcuse zutage gefördert, wie die Geschichte des Bürgermeisters Hans Zauner, der von 1933 bis 1945 als NSDAP-Stadtrat amtierte. Zauner war dann von 1952 bis 1960 Oberbürgermeister - bis er einem britischen Reporter erklärte, daß man nicht glauben müsse, die KZ-Häftlinge seien alle Heroen gewesen, nein, viele von ihnen hätten der damaligen Regierung opponiert oder seien Kriminelle und Homosexuelle gewesen, also zu Recht im KZ eingesessen.
Den Eliten des Ortes und ihrer Haltung zum nationalsozialistischen Erbe widmet Marcuse bis in die Gegenwart Aufmerksamkeit, nicht minder der Zuwendung von Staats wegen, die die KZ-Gedenkstätte genießt im jahrelangen Auf und Ab um die zeitgemäße Neukonzeption der musealen und didaktischen Einrichtungen.
Die Wege von der Befreiung des KZ bis zur Einrichtung der Gedenkstätte 1967 waren steinig und verschlungen. Das KZGelände war zunächst Schauplatz von Kriegsverbrecher-Prozessen unter amerikanischer Gerichtshoheit. Es sollte dann geschleift werden, bot sich aber in der Nachkriegszeit für dringliche Nutzungen an. 1948 beschloß der Bayerische Landtag eine adäquat erscheinende Verwendung des Geländes als "Arbeitslager für asoziale Elemente" (Vorbild war die Entscheidung des Hamburger Senats von 1947, ein Gefängnis im KZ Neuengamme neu zu errichten). Statt dessen diente das Areal des KZ Dachau dann aber als Lager zur Unterbringung von Flüchtlingen, woraus sich eine Wohnsiedlung entwickelte, die bis in die sechziger Jahre bestand, während ein anderer Bereich, das ehemalige SS-Lager, bis 1974 von der United States Army benutzt wurde. Hier befindet sich heute das Hauptquartier der bayerischen Bereitschaftspolizei.
Ein Karmeliterkloster, eine evangelische Kirche und ein russisch-orthodoxes Gotteshaus gehören zum Repertoire der Nachnutzung im Dienste der Gedächtniskultur, verbunden mit Überformungen und Veränderungen, auch Rekonstruktionen, die jede Art der Musealisierung und Pädagogisierung des Geländes problematisch machen, ganz abgesehen von den psychologischen und emotionalen Schwierigkeiten des Erinnerns, die sich hier kristallisieren.
Lange haben die Bürger der schönen Stadt Dachau sich darauf zurückgezogen, ihre Gemeinde habe mit der Schreckensstätte nichts zu schaffen. Sie haben sich in Opfermentalität geflüchtet, beispielsweise das örtliche Autokennzeichen zu vermeiden versucht, weil man angeblich in Urlaubsregionen diffamiert werde, wenn man per Nummernschild als Dachauer erkannt sei. Um die Zufahrt zur Gedenkstätte, die nach jahrzehntelangem Provisorium wieder auf die Originaltrasse verlegt werden soll, ist ein Streit entbrannt, der alle Facetten kommunaler Politik in Krähwinkel demonstriert, einschließlich des Protestes aufgebrachter Kleinbürger, die um die Ruhe ihrer Eigenheime bangen, die sie zu Beginn der neunziger Jahre direkt an der Grundstücksgrenze des KZ errichtet haben.
Durch "das Gesindel", das an ihren Vorgärten vorbei zur Gedenkstätte strebe, fühlen sie sich so belästigt, daß ihnen Beleidigendes über die Besucher wie über die ehemaligen Opfer des nationalsozialistischen Regimes leicht über die Lippen kommt. Das Maß sei voll, und die Dachauer Bürger seien es nach langen Jahren des Schweigens leid, immer wieder mit der KZ-Vergangenheit konfrontiert zu werden, gibt ein über die Vergangenheitsbewältigung ergrimmter Dachauer zu Protokoll.
Die Abwehr hat Tradition. Ein früherer Bürgermeister hat die Spaltung zwischen Gemeinde und Gedenkstätte jahrzehntelang kultiviert, im Fortissimo sekundiert von einer lokalen Pressegröße. Mit wehleidiger Attitüde waren die Gäste aus aller Welt jahrelang aufgefordert, nicht nur die Gedenkstätte, sondern auch und vor allem die heile Welt des zwölfhundertjährigen Dachau zu besuchen. Ein trotzig am Eingang der Gedenkstätte errichtetes Schild warb in gebieterischer Form für die Sehenswürdigkeit der Altstadt. Der Nachfolger des langjährigen Oberbürgermeisters hat es vor einigen Jahren entfernen lassen. Viel geändert hat sich aber noch nicht am Klima zwischen der Stadt und der Gedenkstätte.
Marcuses Studie, die solche Schwierigkeiten gut recherchiert und gründlich belegt darstellt, ist keine aufgeregte Anklageschrift. Um so schwerwiegender sind die von ihm diagnostizierten Befunde von Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt geradezu zu einer Umkehr der Rollen von Opfern einerseits und Tätern wie Mitläufern andererseits führten. Mit Stereotypen über die KZ-Haft und der Autosuggestion, man habe nichts gewußt und nichts bemerkt, suchten die Bürger Dachaus ihren Frieden. Der Wunsch, die materiellen Überreste des KZ würden verschwinden und die belastete Erinnerung damit enden, war ein Symptom, die späte Errichtung der Gedenkstätte ein dazu gegenläufiges Projekt, das während des Generationenkonflikts 1968 im Skandal kulminierte, als sich jugendliche Eiferer mit Überlebenden auf dem Appellplatz bei der Einweihung des Mahnmals prügelten.
Zur Geschichte des Konzentrationslagers Dachau gibt es noch immer keine wissenschaftliche Gesamtdarstellung. Zur Geschichte des Gedenkortes Dachau, die mit der Befreiung des KZ im April 1945 einsetzt, gibt es jetzt die vorzügliche Arbeit von Harold Marcuse. Man wünscht sich bald eine deutsche Übersetzung.
WOLFGANG BENZ
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Review of the hardback: '... Marcuse has definitely identified something both strangely disturbing and of great symbolic importance.' The Times Literary Supplement