Produktdetails
- Verlag: Vorwerk 8
- 1996.
- Seitenzahl: 606
- Deutsch
- Abmessung: 220mm
- Gewicht: 912g
- ISBN-13: 9783930916061
- ISBN-10: 3930916061
- Artikelnr.: 20754903
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.1997Schlamm der Gelehrsamkeit
Ein Buch und doch keines: Theresia Birkenhauer über Hölderlin
"Ein ungewöhnliches Buch über Hölderlin, das den Horizont einer philologischen Arbeit bei weitem übersteigt" - so kündigt der Verlag das Buch Theresia Birkenhauers an. Ein zwiespältiges Kompliment. Denn schließlich ist die Verfasserin Philologin. "Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1995", in kleinem Satz und mit zähneknirschender Abkürzerei, ist das einzige äußere Zugeständnis, das dieses Buch an den Ort seiner Herkunft macht, als wäre es eine Schande.
Die philologischen Verdienste des Buchs sind beträchtlich. Mit außerordentlicher Gründlichkeit leitet es in seinem ersten Teil den Stoff des sterbenden Philosophen aus der Tradition des achtzehnten Jahrhunderts her, vor dessen Horizont das Neue, das Hölderlin hervorbringt, sich abzuheben vermag. Der zweite Teil widmet sich unbeirrbar genau der Interpretation von Hölderlins Fragmenten. Auf die zwei Fragen, die von jeher an den "Empedokles" herangetragen werden - Warum springt er eigentlich in den Ätna? und: Ist es ein mißlungenes Stück oder nicht? -, gibt sie erschöpfende Auskunft, in geduldiger Auseinandersetzung mit einer offenbar langen Tradition beharrlichen Mißverstehens.
Bemerkenswert ist vor allem ihre Antwort auf die zweite: Nein, mißlungen ist der "Empedokles" nicht, und daß er dafür hat gelten können, liegt an der klassizistischen Verkennung der klassischen griechischen Tragödie, die Hölderlin auf dem Weg des Empedokles zu begreifen beginnt; danach macht er sich an die Übersetzung des Sophokles. Der "Empedokles" erscheint statt als ein dramatisches Fragment als ein fragmentarisches Drama.
Dieser, der interessanteste Aspekt der Arbeit, nimmt aber nur einen erstaunlich geringen Teil der rund sechshundert Seiten in Anspruch. Handelte es sich bloß um eine Doktorarbeit, so wäre alles in Ordnung, und niemand könnte ihr das summa cum laude absprechen. Man fände den typischen biegsamen Umschlag der entsprechenden Verlage vor, so freudlos wie eine Schachtel der pharmazeutischen Industrie und vor allem eins signalisierend: Den Inhalt wird keiner schlucken, der nicht muß - das heißt, der nicht seinerseits ein ähnliches Gebilde hervorzubringen gedenkt, in der eigentümlich unöffentlichen Inzucht des philologischen Betriebs.
Aber Theresia Birkenhauers Buch will ja, in einem höchst berechtigten Ehrgeiz, mehr sein als das, will eben ein Buch sein. So ist es auch ausgestattet, mit Schönheit und Sorgfalt, einem Lesebändchen und Stichen des Ätna aus dem achtzehnten Jahrhundert auf den Vorsatzblättern, und allenfalls ein bißchen teuer. In Anbetracht dessen jedoch hat die Verfasserin sich zu wenig Gedanken gemacht, wer es eigentlich lesen soll. Es ist, um einfach so gelesen zu werden, viel zu lang; seine Gründlichkeit lähmt die Lektüre, und was sie wirklich zu sagen hat, tritt nicht mit Entschiedenheit hervor.
Warum gab es keinen Lektor, der von den 1300 Fußnoten, die die Seiten zwischen dem Fluß des Textes und dem Schlamm der Gelehrsamkeit spalten, mindestens 1100 gestrichen hätte? Auch ist es zwar dem Verfasser einer Doktorarbeit erlassen, nicht aber dem eines Buches, die bedeutungsvolle Kraft seines Gegenstands erst zu erweisen: Man mache dem aufgeschlossenen Laien erst deutlich, weshalb es sich lohnt, den "Empedokles" zu lesen - sonst wird er ganz sicher keine Arbeit über den "Empedokles" lesen. Es muß etwas gegeben haben, das Theresia Birkenhauer so zum Empedokles hingerissen hat wie Empedokles zum Ätna - wir erfahren es nicht. Der wissenschaftliche Ton erstickt das Temperament, und die je widerlegten Ansichten unterscheiden sich von den eigenen Birkenhauers nur so wie der Konjunktiv der indirekten Rede vom Indikativ der direkten. Hat sie sich denn gar nicht über die Ungenauigkeit und Anmaßung der existentiellen Herumdeuter geärgert? Das muß sie doch! Und wie ein solcher erkennbarer Ärger die Lektüre beflügelt hätte! So aber, das bleibt leider zu sagen, ist die Lektüre recht mühsam.
Es ist ein wahrer Jammer, daß im deutschen Sprachraum das wissenschaftliche und das lesbare Schreiben so auseinanderklaffen. Der Wissenschaftler bleibt zur Unlust verdammt, die seine gewissenhafte Arbeit erzeugt, der eingängige Essayist zur verächtlichen Windigkeit. Solange diese heillose Spaltung nicht beigelegt ist, wird es im Deutschen die Figur des Intellektuellen nicht geben können, die es doch im Englischen und Französischen gibt. Theresia Birkenhauer und ihr Verlag haben es, und das muß anerkannt werden, unternommen, diese Kluft zu überbrücken. Aber sie waren zu ängstlich und sind auf der wissenschaftlichen Seite hängengeblieben, ohne den Bogen zu schlagen. Hölderlin-Philologen werden an diesem Markstein nicht vorbeikommen; das lesende Fußvolk schon. BURKHARD MÜLLER
Theresia Birkenhauer: "Legende und Dichtung". Der Tod des Philosophen und Hölderlins Empedokles. Verlag Vorwerk 8, Berlin 1996. 606 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Buch und doch keines: Theresia Birkenhauer über Hölderlin
"Ein ungewöhnliches Buch über Hölderlin, das den Horizont einer philologischen Arbeit bei weitem übersteigt" - so kündigt der Verlag das Buch Theresia Birkenhauers an. Ein zwiespältiges Kompliment. Denn schließlich ist die Verfasserin Philologin. "Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1995", in kleinem Satz und mit zähneknirschender Abkürzerei, ist das einzige äußere Zugeständnis, das dieses Buch an den Ort seiner Herkunft macht, als wäre es eine Schande.
Die philologischen Verdienste des Buchs sind beträchtlich. Mit außerordentlicher Gründlichkeit leitet es in seinem ersten Teil den Stoff des sterbenden Philosophen aus der Tradition des achtzehnten Jahrhunderts her, vor dessen Horizont das Neue, das Hölderlin hervorbringt, sich abzuheben vermag. Der zweite Teil widmet sich unbeirrbar genau der Interpretation von Hölderlins Fragmenten. Auf die zwei Fragen, die von jeher an den "Empedokles" herangetragen werden - Warum springt er eigentlich in den Ätna? und: Ist es ein mißlungenes Stück oder nicht? -, gibt sie erschöpfende Auskunft, in geduldiger Auseinandersetzung mit einer offenbar langen Tradition beharrlichen Mißverstehens.
Bemerkenswert ist vor allem ihre Antwort auf die zweite: Nein, mißlungen ist der "Empedokles" nicht, und daß er dafür hat gelten können, liegt an der klassizistischen Verkennung der klassischen griechischen Tragödie, die Hölderlin auf dem Weg des Empedokles zu begreifen beginnt; danach macht er sich an die Übersetzung des Sophokles. Der "Empedokles" erscheint statt als ein dramatisches Fragment als ein fragmentarisches Drama.
Dieser, der interessanteste Aspekt der Arbeit, nimmt aber nur einen erstaunlich geringen Teil der rund sechshundert Seiten in Anspruch. Handelte es sich bloß um eine Doktorarbeit, so wäre alles in Ordnung, und niemand könnte ihr das summa cum laude absprechen. Man fände den typischen biegsamen Umschlag der entsprechenden Verlage vor, so freudlos wie eine Schachtel der pharmazeutischen Industrie und vor allem eins signalisierend: Den Inhalt wird keiner schlucken, der nicht muß - das heißt, der nicht seinerseits ein ähnliches Gebilde hervorzubringen gedenkt, in der eigentümlich unöffentlichen Inzucht des philologischen Betriebs.
Aber Theresia Birkenhauers Buch will ja, in einem höchst berechtigten Ehrgeiz, mehr sein als das, will eben ein Buch sein. So ist es auch ausgestattet, mit Schönheit und Sorgfalt, einem Lesebändchen und Stichen des Ätna aus dem achtzehnten Jahrhundert auf den Vorsatzblättern, und allenfalls ein bißchen teuer. In Anbetracht dessen jedoch hat die Verfasserin sich zu wenig Gedanken gemacht, wer es eigentlich lesen soll. Es ist, um einfach so gelesen zu werden, viel zu lang; seine Gründlichkeit lähmt die Lektüre, und was sie wirklich zu sagen hat, tritt nicht mit Entschiedenheit hervor.
Warum gab es keinen Lektor, der von den 1300 Fußnoten, die die Seiten zwischen dem Fluß des Textes und dem Schlamm der Gelehrsamkeit spalten, mindestens 1100 gestrichen hätte? Auch ist es zwar dem Verfasser einer Doktorarbeit erlassen, nicht aber dem eines Buches, die bedeutungsvolle Kraft seines Gegenstands erst zu erweisen: Man mache dem aufgeschlossenen Laien erst deutlich, weshalb es sich lohnt, den "Empedokles" zu lesen - sonst wird er ganz sicher keine Arbeit über den "Empedokles" lesen. Es muß etwas gegeben haben, das Theresia Birkenhauer so zum Empedokles hingerissen hat wie Empedokles zum Ätna - wir erfahren es nicht. Der wissenschaftliche Ton erstickt das Temperament, und die je widerlegten Ansichten unterscheiden sich von den eigenen Birkenhauers nur so wie der Konjunktiv der indirekten Rede vom Indikativ der direkten. Hat sie sich denn gar nicht über die Ungenauigkeit und Anmaßung der existentiellen Herumdeuter geärgert? Das muß sie doch! Und wie ein solcher erkennbarer Ärger die Lektüre beflügelt hätte! So aber, das bleibt leider zu sagen, ist die Lektüre recht mühsam.
Es ist ein wahrer Jammer, daß im deutschen Sprachraum das wissenschaftliche und das lesbare Schreiben so auseinanderklaffen. Der Wissenschaftler bleibt zur Unlust verdammt, die seine gewissenhafte Arbeit erzeugt, der eingängige Essayist zur verächtlichen Windigkeit. Solange diese heillose Spaltung nicht beigelegt ist, wird es im Deutschen die Figur des Intellektuellen nicht geben können, die es doch im Englischen und Französischen gibt. Theresia Birkenhauer und ihr Verlag haben es, und das muß anerkannt werden, unternommen, diese Kluft zu überbrücken. Aber sie waren zu ängstlich und sind auf der wissenschaftlichen Seite hängengeblieben, ohne den Bogen zu schlagen. Hölderlin-Philologen werden an diesem Markstein nicht vorbeikommen; das lesende Fußvolk schon. BURKHARD MÜLLER
Theresia Birkenhauer: "Legende und Dichtung". Der Tod des Philosophen und Hölderlins Empedokles. Verlag Vorwerk 8, Berlin 1996. 606 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main