»Eine grandiose Neuübersetzung.« Maxim Biller, SZ
Frédéric Moreau ist 18 und es wird ernst. Auf einem Seine-Dampfer verliebt er sich sofort und lebenslänglich. Doch Madame Arnoux ist verheiratet! Der Held tröstet sich mit Rosanette und stolpert in die 48er-Revolution, die eine ganze Gesellschaft aus der Bahn wirft. Flaubert folgt ihm zu den verwirrenden Frauen und den langweiligen Männern bis hin zu dem berühmten, illusionslosen Schluss: Ja, wenn das Männlichkeit sein soll ... In der Neuübersetzung von Elisabeth Edl ist Flauberts epochaler Roman noch einmal ganz anders zu entdecken.
Frédéric Moreau ist 18 und es wird ernst. Auf einem Seine-Dampfer verliebt er sich sofort und lebenslänglich. Doch Madame Arnoux ist verheiratet! Der Held tröstet sich mit Rosanette und stolpert in die 48er-Revolution, die eine ganze Gesellschaft aus der Bahn wirft. Flaubert folgt ihm zu den verwirrenden Frauen und den langweiligen Männern bis hin zu dem berühmten, illusionslosen Schluss: Ja, wenn das Männlichkeit sein soll ... In der Neuübersetzung von Elisabeth Edl ist Flauberts epochaler Roman noch einmal ganz anders zu entdecken.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.2020Frédéric Moreau, das sind wir
Ironie über 180 Jahre hinweg: Zur Neuübersetzung von Gustave Flauberts "L'Éducation sentimentale"
Zu den literarischen Moden gehört es, Klassiker im "neuen Gewand" erscheinen zu lassen. Am verblüffendsten ist es, ein fremdsprachiges Werk, dessen Titelübersetzung auch im Deutschen emblematisch geworden ist, neu zu benennen. Das bekannteste Beispiel der letzten Jahrzehnte dürfte "Schuld und Sühne" sein. Im Original verwendet Dostojewskis Titel die russischen Rechtsbegriffe für "Verbrechen und Strafe". Im Französischen wurde daraus folgerichtig "Crime et Châtiment", im Englischen "Crime and Punishment". Der deutsche Titel "Schuld und Sühne" hingegen verwendete Begriffe, die, zumindest nach heutiger Lesart, nicht der juristischen, sondern der moralisch-religiösen Sphäre entstammen. Ihn nun durch "Verbrechen und Strafe" zu ersetzen war ein echter Coup, der auch philologisch überzeugend erschien. Leider lässt sich der Trick nicht beliebig oft wiederholen. Warum aus "Der Jüngling" "Ein grüner Junge" wurde und aus "Die Dämonen" "Böse Geister", lässt sich kaum schlüssig begründen.
Was also ist geschehen, dass aus "L'Éducation sentimental" im Deutschen "Lehrjahre der Männlichkeit" werden mussten? Ist das wirklich später Flaubert? Oder nicht doch eher früher Ernst Jünger? Doch diese erste Irritation stellt sich nur ein, weil "Männlichkeit" heute für viele an sich schon zum toxischen Begriff geworden ist.
Probleme, für seinen Roman den richtigen Titel zu finden, hatte schon Flaubert selbst. Er hatte sogar den Verdacht, seine Schwierigkeiten hätten ihre Ursache in einer konzeptionellen Schwäche des Werkes. Er kannte Goethes "Wilhelm Meister". Obwohl er ihn bewunderte, schwebte Flaubert für sein eigenes Buch das Gegenteil vor: Es sollte eine Art umgekehrter Bildungsroman werden.
"Éducation sentimental" war eine Wortschöpfung, die Flaubert für einen frühen, nie veröffentlichten autobiographischen Roman verwendet hatte. Er griff sie in Briefen zur Beschreibung seiner eigenen Entwicklung immer wieder auf: Sie stand für den Verlust der Empfindsamkeit, der Illusionen, der Schwärmerei. Eine bittere, eine ironische Wendung also.
Im Deutschen hat man eine ganze Fülle von Entsprechungen versucht: "Die Erziehung der Gefühle", "Die Erziehung des Herzens", "Die Erziehung des Gefühls", "Lehrjahre des Gefühls", "Lehrjahre des Herzens", "Die Schule der Empfindsamkeit" und "Der Roman eines jungen Mannes". Die Ironie blieb dabei immer auf der Strecke. Anstatt dieser Reihe eine weitere Variante mit Herz und Gefühl hinzuzufügen, beschritt die Übersetzerin Elisabeth Edl einen anderen Weg. "Lehrjahre der Männlichkeit" ist nicht etwa ihre Erfindung, es ist eine Kapitelüberschrift aus dem Roman "Lucinde" von Friedrich Schlegel, der durchaus als romantisches Gegenstück zum "Wilhelm Meister" verstanden werden kann. Ob Flaubert Schlegels Roman kannte, wissen wir nicht. Für Elisabeth Edl war diese Frage aber auch nicht ausschlaggebend. Im Nachwort schreibt sie: "Lehrjahre der Männlichkeit. Geschichte einer Jugend übersetzt im strengen Sinne alles, was in L'Éducation sentimental. Histoire d'un jeune homme gesagt ist - mit der kleinen Differenz, dass die männliche Bestimmung vom Untertitel nach oben wandert."
Die oberflächliche Abneigung gegen das Wort Männlichkeit im Titel geht somit an der Sache vorbei. Elisabeth Edl nimmt diesen (vielleicht nur vermeintlichen) Schaden hin und rettet damit die schon am Originaltitel gerne übersehene Ironie.
Die selbsternannten Gewährsleute der neuen Männlichkeit werden ohnehin nicht glücklich mit diesem Roman. Flaubert, und das ist durchaus als Kompliment gemeint, ist ein ganz und gar "unmännlicher" Schriftsteller. Die Männer in seinen Romanen sind eher arme Narren als große Helden. Geltungssüchtig, verschlagen, getrieben von bemitleidenswerten Begierden, die ein Leben lang zwischen ihnen und der Vernunft stehen, zu der sie nie kommen. Zugegeben, die Frauen sind auf ihre Weise kein Stück besser, manchmal etwas schlauer, wovon sie am Ende aber auch nichts haben.
Auf der ersten Seite des Romans lernen wir Frédéric Moreau als Achtzehnjährigen kennen. Gleich zu Beginn werden alle zentralen Themen gestreift: Geld, Kunst, Liebe, Politik. Genau in dieser Reihenfolge. Aber das geschieht nicht abstrakt, sondern sehr konkret und dabei doch ganz beiläufig.
Zuerst erfahren wir, dass Frédérics Mutter auf eine Erbschaft von einem Onkel spekuliert, mit der ihrem Jungen das Studium und der Eintritt in die Gesellschaft ermöglicht werden soll. Mme Moreau ist verwitwet und in finanziell angespannter Lage, sie weiß, dass etwas getan werden muss, wenn es ihr Sohn einmal zu etwas bringen soll. Aber Frédéric scheint das bevorstehende Jurastudium vor allem als Einladung zu einem Bohèmeleben zu verstehen. Man könnte sagen, mit seinen achtzehn Jahren ist er schon ein ganz schön verzogenes Früchtchen. Aber er ist auch ein Kind seiner Zeit. Von seinem Autor wurde er geschickt an der Schnittstelle zwischen Bürgertum und Künstlerschaft positioniert.
Das brandneue Phänomen des Bohèmelebens hat, genau in dem Jahr, in dem die Handlung des Romans einsetzt, 1840, Honoré de Balzac in seiner Erzählung "Ein Fürst der Bohème" so beschrieben: "Die Bohème hat nichts und lebt von dem, was sie hat. Die Hoffnung ist ihre Religion, der Glaube an sich selbst ihr Gesetzbuch, die Wohlfahrt gilt ihr als Budget. Alle diese jungen Menschen sind größer als ihr Unglück, sie befinden sich unterhalb des Reichtums, aber stehen immer über ihrem Geschick. Stets sitzen sie hoch zu Ross auf einem ,Wenn'; sie sind witzig wie Feuilletons, frohgemut wie Leute, die Schulden haben, oh, sie haben genauso viele Schulden, wie sie trinken! Und schließlich, darauf möchte ich hinaus, sind sie alle verliebt, über die Maßen verliebt . . .!"
Frédérics Mutter nennt ihrem Sohn Rastignac als Vorbild, den berühmten Karrieristen aus Balzacs "Menschlicher Komödie". Aber Frédéric ist kein Rastignac. Er verachtet das Nützliche, er strebt nach Höherem, er will sich nicht korrumpieren, sondern seinem Herzen folgen. Das macht ihn sympathisch, aber nicht glücklich. Warum eigentlich nicht? Das ist doch angeblich genau das, was wir alle tun sollen: unserem Herzen folgen. Dumm nur, dass es andauernd die Richtung ändert. "Ohne Geschäft und ohne Zweck trieb er sich umher unter den Dingen und unter den Menschen wie einer, der mit Angst etwas sucht, woran sein ganzes Glück hängt", schreibt Schlegel über seinen Protagonisten Julius in "Lucinde". Der Satz taugte auch als Charakterisierung Frédérics.
Es gilt heute als Qualitätsmerkmal eines Romans, wenn aus ihm "tiefe Menschlichkeit" spricht, wenn sein Autor Sympathie und Mitgefühl für seine Figuren empfindet und sie nicht etwa "vorführt" oder gar "denunziert". Flaubert ist der menschlichen Natur weniger gewogen, und ein besonderer Graus ist ihm der Bourgeois in all dessen Pracht und Doofheit. Er weiß dabei sehr wohl, dass er selbst einer ist. Ebendeshalb kann er auf den Grund von dessen Herz blicken. Er weiß, wovon er spricht, und das tut er keineswegs immer nur gehässig. Dennoch, sein Stil wird gerne als kalt, klinisch, unbarmherzig oder gar grausam beschrieben. Andererseits macht er aus seinen Figuren keine Knallchargen. Doch seine Menschenkenntnis bewahrt ihn davor, auch nur in die Nähe der Gefühlsduselei zu geraten. Er weiß, wie wir uns selbst zum Narren halten, und findet, um der Wahrheit willen, nichts daran zu beschönigen. "Außergewöhnliche Empfindungen schaffen erhabene Werke", sagt Frédéric, und man hört, während man den Satz liest, Flaubert grimmig lachen.
Gerne wird behauptet, in dem Roman geschehe nicht viel. Das ist nicht richtig, er bordet über von Geschehnissen, von Handlungen und Handlung. Nur bleibt das weitaus meiste, beinahe alles, folgenlos. Der tiefere Sinn, den wir uns alle so sehr wünschen, bleibt aus. Gerade deshalb ziehen manche Flaubert-Leser die "Éducation" der "Madame Bovary" vor, denn sie ist in diesem Sinn noch realistischer, noch illusionsloser. Mochte man auch Emma Bovarys märchenhafte Träume belächeln, immerhin hatte sie ein Schicksal. Was Frédéric Moreau widerfährt, verdient kaum diesen Namen. Am Ende ist es die Erinnerung an einen missglückten Bordellbesuch, der ihm und seinem letzten verbliebenen Freund als das Beste im Leben erscheint.
Wedeln wir den Klassikerweihrauch für einen Moment beiseite: Warum sollte es Vergnügen bereiten, einem durchschnittlichen Mann und einigen Dutzend anderer Leute über fünfhundert Seiten in Superzeitlupe beim Scheitern zuzusehen? 1840 mochte man die Bohème noch für eine kurzlebige Modeerscheinung gehalten haben. 180 Jahre später ist sie zu einem globalen Lebensstil geworden, eigentlich zum Inbegriff moderner Bürgerlichkeit. Flaubert sagte, "Madame Bovary, das bin ich." Daran ließe sich anschließen: Frédéric Moreau, das sind wir.
Elisabeth Edls Übersetzung liest sich, als wäre der Roman auf Deutsch geschrieben worden. Es ist ihr gelungen, eine Sprache zu finden, die nicht aufdringlich historisiert und, das vor allem, einen Sinn hat für die verhaltene, oft erst auf den zweiten Blick erkennbare bittere Komik des Originals. In dieser Form, in dieser Fassung ist der Roman für unsere Gegenwart wiedergewonnen.
GEORG OSWALD.
Gustave Flaubert: "Lehrjahre der Männlichkeit". Roman.
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2020. 800 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ironie über 180 Jahre hinweg: Zur Neuübersetzung von Gustave Flauberts "L'Éducation sentimentale"
Zu den literarischen Moden gehört es, Klassiker im "neuen Gewand" erscheinen zu lassen. Am verblüffendsten ist es, ein fremdsprachiges Werk, dessen Titelübersetzung auch im Deutschen emblematisch geworden ist, neu zu benennen. Das bekannteste Beispiel der letzten Jahrzehnte dürfte "Schuld und Sühne" sein. Im Original verwendet Dostojewskis Titel die russischen Rechtsbegriffe für "Verbrechen und Strafe". Im Französischen wurde daraus folgerichtig "Crime et Châtiment", im Englischen "Crime and Punishment". Der deutsche Titel "Schuld und Sühne" hingegen verwendete Begriffe, die, zumindest nach heutiger Lesart, nicht der juristischen, sondern der moralisch-religiösen Sphäre entstammen. Ihn nun durch "Verbrechen und Strafe" zu ersetzen war ein echter Coup, der auch philologisch überzeugend erschien. Leider lässt sich der Trick nicht beliebig oft wiederholen. Warum aus "Der Jüngling" "Ein grüner Junge" wurde und aus "Die Dämonen" "Böse Geister", lässt sich kaum schlüssig begründen.
Was also ist geschehen, dass aus "L'Éducation sentimental" im Deutschen "Lehrjahre der Männlichkeit" werden mussten? Ist das wirklich später Flaubert? Oder nicht doch eher früher Ernst Jünger? Doch diese erste Irritation stellt sich nur ein, weil "Männlichkeit" heute für viele an sich schon zum toxischen Begriff geworden ist.
Probleme, für seinen Roman den richtigen Titel zu finden, hatte schon Flaubert selbst. Er hatte sogar den Verdacht, seine Schwierigkeiten hätten ihre Ursache in einer konzeptionellen Schwäche des Werkes. Er kannte Goethes "Wilhelm Meister". Obwohl er ihn bewunderte, schwebte Flaubert für sein eigenes Buch das Gegenteil vor: Es sollte eine Art umgekehrter Bildungsroman werden.
"Éducation sentimental" war eine Wortschöpfung, die Flaubert für einen frühen, nie veröffentlichten autobiographischen Roman verwendet hatte. Er griff sie in Briefen zur Beschreibung seiner eigenen Entwicklung immer wieder auf: Sie stand für den Verlust der Empfindsamkeit, der Illusionen, der Schwärmerei. Eine bittere, eine ironische Wendung also.
Im Deutschen hat man eine ganze Fülle von Entsprechungen versucht: "Die Erziehung der Gefühle", "Die Erziehung des Herzens", "Die Erziehung des Gefühls", "Lehrjahre des Gefühls", "Lehrjahre des Herzens", "Die Schule der Empfindsamkeit" und "Der Roman eines jungen Mannes". Die Ironie blieb dabei immer auf der Strecke. Anstatt dieser Reihe eine weitere Variante mit Herz und Gefühl hinzuzufügen, beschritt die Übersetzerin Elisabeth Edl einen anderen Weg. "Lehrjahre der Männlichkeit" ist nicht etwa ihre Erfindung, es ist eine Kapitelüberschrift aus dem Roman "Lucinde" von Friedrich Schlegel, der durchaus als romantisches Gegenstück zum "Wilhelm Meister" verstanden werden kann. Ob Flaubert Schlegels Roman kannte, wissen wir nicht. Für Elisabeth Edl war diese Frage aber auch nicht ausschlaggebend. Im Nachwort schreibt sie: "Lehrjahre der Männlichkeit. Geschichte einer Jugend übersetzt im strengen Sinne alles, was in L'Éducation sentimental. Histoire d'un jeune homme gesagt ist - mit der kleinen Differenz, dass die männliche Bestimmung vom Untertitel nach oben wandert."
Die oberflächliche Abneigung gegen das Wort Männlichkeit im Titel geht somit an der Sache vorbei. Elisabeth Edl nimmt diesen (vielleicht nur vermeintlichen) Schaden hin und rettet damit die schon am Originaltitel gerne übersehene Ironie.
Die selbsternannten Gewährsleute der neuen Männlichkeit werden ohnehin nicht glücklich mit diesem Roman. Flaubert, und das ist durchaus als Kompliment gemeint, ist ein ganz und gar "unmännlicher" Schriftsteller. Die Männer in seinen Romanen sind eher arme Narren als große Helden. Geltungssüchtig, verschlagen, getrieben von bemitleidenswerten Begierden, die ein Leben lang zwischen ihnen und der Vernunft stehen, zu der sie nie kommen. Zugegeben, die Frauen sind auf ihre Weise kein Stück besser, manchmal etwas schlauer, wovon sie am Ende aber auch nichts haben.
Auf der ersten Seite des Romans lernen wir Frédéric Moreau als Achtzehnjährigen kennen. Gleich zu Beginn werden alle zentralen Themen gestreift: Geld, Kunst, Liebe, Politik. Genau in dieser Reihenfolge. Aber das geschieht nicht abstrakt, sondern sehr konkret und dabei doch ganz beiläufig.
Zuerst erfahren wir, dass Frédérics Mutter auf eine Erbschaft von einem Onkel spekuliert, mit der ihrem Jungen das Studium und der Eintritt in die Gesellschaft ermöglicht werden soll. Mme Moreau ist verwitwet und in finanziell angespannter Lage, sie weiß, dass etwas getan werden muss, wenn es ihr Sohn einmal zu etwas bringen soll. Aber Frédéric scheint das bevorstehende Jurastudium vor allem als Einladung zu einem Bohèmeleben zu verstehen. Man könnte sagen, mit seinen achtzehn Jahren ist er schon ein ganz schön verzogenes Früchtchen. Aber er ist auch ein Kind seiner Zeit. Von seinem Autor wurde er geschickt an der Schnittstelle zwischen Bürgertum und Künstlerschaft positioniert.
Das brandneue Phänomen des Bohèmelebens hat, genau in dem Jahr, in dem die Handlung des Romans einsetzt, 1840, Honoré de Balzac in seiner Erzählung "Ein Fürst der Bohème" so beschrieben: "Die Bohème hat nichts und lebt von dem, was sie hat. Die Hoffnung ist ihre Religion, der Glaube an sich selbst ihr Gesetzbuch, die Wohlfahrt gilt ihr als Budget. Alle diese jungen Menschen sind größer als ihr Unglück, sie befinden sich unterhalb des Reichtums, aber stehen immer über ihrem Geschick. Stets sitzen sie hoch zu Ross auf einem ,Wenn'; sie sind witzig wie Feuilletons, frohgemut wie Leute, die Schulden haben, oh, sie haben genauso viele Schulden, wie sie trinken! Und schließlich, darauf möchte ich hinaus, sind sie alle verliebt, über die Maßen verliebt . . .!"
Frédérics Mutter nennt ihrem Sohn Rastignac als Vorbild, den berühmten Karrieristen aus Balzacs "Menschlicher Komödie". Aber Frédéric ist kein Rastignac. Er verachtet das Nützliche, er strebt nach Höherem, er will sich nicht korrumpieren, sondern seinem Herzen folgen. Das macht ihn sympathisch, aber nicht glücklich. Warum eigentlich nicht? Das ist doch angeblich genau das, was wir alle tun sollen: unserem Herzen folgen. Dumm nur, dass es andauernd die Richtung ändert. "Ohne Geschäft und ohne Zweck trieb er sich umher unter den Dingen und unter den Menschen wie einer, der mit Angst etwas sucht, woran sein ganzes Glück hängt", schreibt Schlegel über seinen Protagonisten Julius in "Lucinde". Der Satz taugte auch als Charakterisierung Frédérics.
Es gilt heute als Qualitätsmerkmal eines Romans, wenn aus ihm "tiefe Menschlichkeit" spricht, wenn sein Autor Sympathie und Mitgefühl für seine Figuren empfindet und sie nicht etwa "vorführt" oder gar "denunziert". Flaubert ist der menschlichen Natur weniger gewogen, und ein besonderer Graus ist ihm der Bourgeois in all dessen Pracht und Doofheit. Er weiß dabei sehr wohl, dass er selbst einer ist. Ebendeshalb kann er auf den Grund von dessen Herz blicken. Er weiß, wovon er spricht, und das tut er keineswegs immer nur gehässig. Dennoch, sein Stil wird gerne als kalt, klinisch, unbarmherzig oder gar grausam beschrieben. Andererseits macht er aus seinen Figuren keine Knallchargen. Doch seine Menschenkenntnis bewahrt ihn davor, auch nur in die Nähe der Gefühlsduselei zu geraten. Er weiß, wie wir uns selbst zum Narren halten, und findet, um der Wahrheit willen, nichts daran zu beschönigen. "Außergewöhnliche Empfindungen schaffen erhabene Werke", sagt Frédéric, und man hört, während man den Satz liest, Flaubert grimmig lachen.
Gerne wird behauptet, in dem Roman geschehe nicht viel. Das ist nicht richtig, er bordet über von Geschehnissen, von Handlungen und Handlung. Nur bleibt das weitaus meiste, beinahe alles, folgenlos. Der tiefere Sinn, den wir uns alle so sehr wünschen, bleibt aus. Gerade deshalb ziehen manche Flaubert-Leser die "Éducation" der "Madame Bovary" vor, denn sie ist in diesem Sinn noch realistischer, noch illusionsloser. Mochte man auch Emma Bovarys märchenhafte Träume belächeln, immerhin hatte sie ein Schicksal. Was Frédéric Moreau widerfährt, verdient kaum diesen Namen. Am Ende ist es die Erinnerung an einen missglückten Bordellbesuch, der ihm und seinem letzten verbliebenen Freund als das Beste im Leben erscheint.
Wedeln wir den Klassikerweihrauch für einen Moment beiseite: Warum sollte es Vergnügen bereiten, einem durchschnittlichen Mann und einigen Dutzend anderer Leute über fünfhundert Seiten in Superzeitlupe beim Scheitern zuzusehen? 1840 mochte man die Bohème noch für eine kurzlebige Modeerscheinung gehalten haben. 180 Jahre später ist sie zu einem globalen Lebensstil geworden, eigentlich zum Inbegriff moderner Bürgerlichkeit. Flaubert sagte, "Madame Bovary, das bin ich." Daran ließe sich anschließen: Frédéric Moreau, das sind wir.
Elisabeth Edls Übersetzung liest sich, als wäre der Roman auf Deutsch geschrieben worden. Es ist ihr gelungen, eine Sprache zu finden, die nicht aufdringlich historisiert und, das vor allem, einen Sinn hat für die verhaltene, oft erst auf den zweiten Blick erkennbare bittere Komik des Originals. In dieser Form, in dieser Fassung ist der Roman für unsere Gegenwart wiedergewonnen.
GEORG OSWALD.
Gustave Flaubert: "Lehrjahre der Männlichkeit". Roman.
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2020. 800 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Moritz Rainer geht hart ins Gericht mit der Übersetzerin Elisabeth Edl und ihrer Neuübertragung von Gustave Flauberts Roman. Zwar kann der Leser Flauberts gekonnter Verquickung von Individual- und Nationalgeschichte auch in Edls Fassung durchaus mit Gefallen folgen, meint er, einen Anlass ältere Übersetzungen aus dem Regal zu nehmen, erkennt der Rezensent aber nicht. Im Gegenteil. Ihm geht Edls seiner Meinung nach allzu selbstbewusste Fassung mitunter zu weit, wird unpasssend umgangssprachlich oder greift zu irreführenden Wendungen (Champagnerwein statt Champagner). Allein schon über die Wahl des deutschen Buchtitels kann sich Rainer echauffieren. Dennoch: Flauberts Stil, seine Interpunktion, seine Detailgenauigkeit bei der Beschreibung von Interieurs, Garderoben, Kutschen etc. bildet Edl oft genug hervorragend ab, räumt der Rezensent ein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Über Flauberts anderen Romanen thront neben 'Madame Bovary' die 'Éducation sentimentale' ('Lehrjahre der Männlichkeit'), Flauberts moralische Geschichte über die Männer seiner Generation; sein epochal-kunstvoller Groß- und Desillusionierungsroman mit den vielen beeindruckenden szenischen Tableaus und nicht zuletzt der autobiografischen Grundierung." Gerrit Bartels, Tagesspiegel, 10.12.21
"Funkelnd, frisch und zugleich subtil ... Der Roman, ist wie die Übersetzung, ein absolutes Meisterwerk." Gert Scobel, ZDFkultur 'Dein Buch', 08.10.21
"Eine grandiose Neuübersetzung." Maxim Biller, Süddeutsche Zeitung, 29.12.20
"Eine tolle Neuübersetzung von Elisabeth Edl." Jan Küveler, Die Welt, 29.11.20
"Luxusproblem der Lektüre: Die Anmerkungen machen dem Roman Konkurrenz. Beides nicht zu übertreffen." Ursula März, Die Zeit, 19.11.20
"Elisabeth Edl hat sich der Genauigkeit und dem Rhythmus von Flauberts Prosa aufs Schönste angeschmiegt. ... Ganz zu schweigen von ihrem großartigen Anmerkungsteil, der nicht nur politische Zeithintergründe liefert und eine Vielzahl realer historischer Figuren erklärt, sondern selbst eine Art Flaubert-Wörterbuch ist, eine Werkschau im Kleinen." Gerrit Bartels, Tagesspiegel, 13.11.20
"Flauberts Klassiker bietet einen grandiosen Einblick in die Zeit des 19. Jahrhunderts. ... Elisabeth Edls Neuübersetzung ist nun dichter am Original als alle bisherigen. Sie hat sich Flauberts Ethos der Genauigkeit auf die Fahnen geschrieben. Und das ist ein Gewinn." Wolfgang Schneider, Deutschlandfunk Kultur, 28.10.20
"Edls Nachworte könnte man als Einführungsbände jeweils auskoppeln, so reich und fundiert sind sie." Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung, 29.10.20
"Eine großartige Übersetzung von Elisabeth Edl. ... Man bemerkt die Sprachkunst in der Übersetzung ... Ein Genuss." Thedel von Wallmoden, NDR Kultur, 12.10.20
"Elisabeth Edl hat auf großartige Weise übersetzt. Es ist ihr gelungen, diesen ganz und gar in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts verankerten Roman zu einem vollkommen gegenwärtigen Buch zu machen." Ernst Osterkamp, Die Welt, 24.10.20
"Dieser Flaubert wird auf Jahrzehnte der unsere sein. ... Ihre Sensibilität für die Musikalität von Flauberts Sprache, der ja seine Sätze laut deklamierte, sie über die Kehle gleiten ließ, stellt Elisabeth Edl besonders in der berühmten Passage unter Beweis, da Frédéric und die Cocotte Rosanette im Wald von Fontainebleau spazieren ... Hier ist man Flauberts Traum vom Buch über nichts, das nur Musik wäre, nahe." Jürgen Ritte, Süddeutsche Zeitung, 19.10.20
"Schon rein äußerlich eine prachtvolle neue deutsche Ausgabe. ... Gedruckt und ausgestattet wie zu Zeiten, als es noch einen Unterschied zwischen Hard- und Paperbacks gegeben hat: wunderbares Papier, Leinen, zwei verschiedenfarbene Lesebändchen, ein ausführliches, kenntnisreiches Nachwort, verlässliche und ausführliche Anmerkungen." Stephan Wackwitz, Die Tageszeitung, 13.10.20
"Elisabeth Edl hat 'L'Éducation sentimentale' in ein makelloses Deutsch übersetzt." Elmar Krekeler, Die Welt, 10.10.20
"Das ist die gelungenste Klassiker-Ausgabe, die es seit Schönes 'Faust' und Birus' 'Divan' hierzulande zu kaufen gibt. Das 70-seitige Nachwort ist eine brillante Monografie für sich. 150 Seiten umfassende Anmerkungen mit traumhaft gut gemachten Hinweisen zu Text und Textgeschichte ... Erstmals liegt eine Übersetzung vor, die dem Präzisions- und Rhythmus-Fanatiker Flaubert vollauf gerecht wird." Andreas Isenschmid, Die Zeit, 08.10.20
"Die 'Lehrjahre' gehören zu den wenigen Romanen, die wahrhaft die Totalität einer Epoche darstellen." Andreas Isenschmid, Die Zeit, 08.10.20
"Es ist Flauberts Stil, der uns direkt ins Geschehen zieht, es sind die bis in Detail durchkomponierten Satzverläufe, eine Vielfalt der Register.... So frisch, federnd und plastisch liest sich die 'Education' bei Elisabeth Edl, dass man beim Wiederlesen des Buches nach drei Dekaden glaubt, das Buch zum ersten Mal zu verstehen." Andrea Köhler, Neue Zürcher Zeitung, 03.10.20
"Elisabeth Edls Übersetzung liest sich, als wäre der Roman auf Deutsch geschrieben worden. ... In dieser Form, in dieser Fassung ist der Roman für unsere Gegenwart wiedergewonnen." Georg Oswald, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.09.20
"Funkelnd, frisch und zugleich subtil ... Der Roman, ist wie die Übersetzung, ein absolutes Meisterwerk." Gert Scobel, ZDFkultur 'Dein Buch', 08.10.21
"Eine grandiose Neuübersetzung." Maxim Biller, Süddeutsche Zeitung, 29.12.20
"Eine tolle Neuübersetzung von Elisabeth Edl." Jan Küveler, Die Welt, 29.11.20
"Luxusproblem der Lektüre: Die Anmerkungen machen dem Roman Konkurrenz. Beides nicht zu übertreffen." Ursula März, Die Zeit, 19.11.20
"Elisabeth Edl hat sich der Genauigkeit und dem Rhythmus von Flauberts Prosa aufs Schönste angeschmiegt. ... Ganz zu schweigen von ihrem großartigen Anmerkungsteil, der nicht nur politische Zeithintergründe liefert und eine Vielzahl realer historischer Figuren erklärt, sondern selbst eine Art Flaubert-Wörterbuch ist, eine Werkschau im Kleinen." Gerrit Bartels, Tagesspiegel, 13.11.20
"Flauberts Klassiker bietet einen grandiosen Einblick in die Zeit des 19. Jahrhunderts. ... Elisabeth Edls Neuübersetzung ist nun dichter am Original als alle bisherigen. Sie hat sich Flauberts Ethos der Genauigkeit auf die Fahnen geschrieben. Und das ist ein Gewinn." Wolfgang Schneider, Deutschlandfunk Kultur, 28.10.20
"Edls Nachworte könnte man als Einführungsbände jeweils auskoppeln, so reich und fundiert sind sie." Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung, 29.10.20
"Eine großartige Übersetzung von Elisabeth Edl. ... Man bemerkt die Sprachkunst in der Übersetzung ... Ein Genuss." Thedel von Wallmoden, NDR Kultur, 12.10.20
"Elisabeth Edl hat auf großartige Weise übersetzt. Es ist ihr gelungen, diesen ganz und gar in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts verankerten Roman zu einem vollkommen gegenwärtigen Buch zu machen." Ernst Osterkamp, Die Welt, 24.10.20
"Dieser Flaubert wird auf Jahrzehnte der unsere sein. ... Ihre Sensibilität für die Musikalität von Flauberts Sprache, der ja seine Sätze laut deklamierte, sie über die Kehle gleiten ließ, stellt Elisabeth Edl besonders in der berühmten Passage unter Beweis, da Frédéric und die Cocotte Rosanette im Wald von Fontainebleau spazieren ... Hier ist man Flauberts Traum vom Buch über nichts, das nur Musik wäre, nahe." Jürgen Ritte, Süddeutsche Zeitung, 19.10.20
"Schon rein äußerlich eine prachtvolle neue deutsche Ausgabe. ... Gedruckt und ausgestattet wie zu Zeiten, als es noch einen Unterschied zwischen Hard- und Paperbacks gegeben hat: wunderbares Papier, Leinen, zwei verschiedenfarbene Lesebändchen, ein ausführliches, kenntnisreiches Nachwort, verlässliche und ausführliche Anmerkungen." Stephan Wackwitz, Die Tageszeitung, 13.10.20
"Elisabeth Edl hat 'L'Éducation sentimentale' in ein makelloses Deutsch übersetzt." Elmar Krekeler, Die Welt, 10.10.20
"Das ist die gelungenste Klassiker-Ausgabe, die es seit Schönes 'Faust' und Birus' 'Divan' hierzulande zu kaufen gibt. Das 70-seitige Nachwort ist eine brillante Monografie für sich. 150 Seiten umfassende Anmerkungen mit traumhaft gut gemachten Hinweisen zu Text und Textgeschichte ... Erstmals liegt eine Übersetzung vor, die dem Präzisions- und Rhythmus-Fanatiker Flaubert vollauf gerecht wird." Andreas Isenschmid, Die Zeit, 08.10.20
"Die 'Lehrjahre' gehören zu den wenigen Romanen, die wahrhaft die Totalität einer Epoche darstellen." Andreas Isenschmid, Die Zeit, 08.10.20
"Es ist Flauberts Stil, der uns direkt ins Geschehen zieht, es sind die bis in Detail durchkomponierten Satzverläufe, eine Vielfalt der Register.... So frisch, federnd und plastisch liest sich die 'Education' bei Elisabeth Edl, dass man beim Wiederlesen des Buches nach drei Dekaden glaubt, das Buch zum ersten Mal zu verstehen." Andrea Köhler, Neue Zürcher Zeitung, 03.10.20
"Elisabeth Edls Übersetzung liest sich, als wäre der Roman auf Deutsch geschrieben worden. ... In dieser Form, in dieser Fassung ist der Roman für unsere Gegenwart wiedergewonnen." Georg Oswald, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.09.20
»Wer wüsste nicht, dass Flaubert der Auftakt zum modernen Roman war?« DIE ZEIT