Was muss passieren, damit aus einem Menschen, der bisher ein völlig normales Leben gelebt hat, ein Krimineller wird?
Das ist die spannende Frage, der die brasilianische Autorin Patrícia Melo (die aber mittlerweile in der Schweiz lebt), in ihrem neuesten Buch nachgeht. Auch wenn der Handlungsort
Lateinamerika ist und Drogen keine unbedeutende Rolle spielen, scheint es mir falsch, das Buch als…mehrWas muss passieren, damit aus einem Menschen, der bisher ein völlig normales Leben gelebt hat, ein Krimineller wird?
Das ist die spannende Frage, der die brasilianische Autorin Patrícia Melo (die aber mittlerweile in der Schweiz lebt), in ihrem neuesten Buch nachgeht. Auch wenn der Handlungsort Lateinamerika ist und Drogen keine unbedeutende Rolle spielen, scheint es mir falsch, das Buch als Thriller zu bezeichnen, denn "Leichendieb" ist eher die Charakterstudie eine Leichtverführbaren.
Der zu Beginn der Handlung namenlose Ich-Erzähler hat seinen Manager-Job in einem Call-Center in Sao Paolo verloren. Der Rausschmiss ist selbstverschuldet, denn nachdem er eine seiner Mitarbeiterinnen geohrfeigt hat, begeht diese Selbstmord. Gefrustet und ausgebrannt beschließt er auszusteigen und der Stadt den Rücken zu kehren. Der Ort seiner Wahl ist Corumbá, eine Städtchen an der Grenze zu Paraguay und Bolivien. Dort lässt er sich die Sonne auf den Bauch scheinen und lebt in den Tag hinein.
Bei einem Angelausflug wird er Zeuge eines Flugzeugabsturzes und findet in dem Wrack einen Rucksack mit einem Kilogramm Kokain. Seine leichten, wirklich sehr leichten Bedenken, wischt er flugs zur Seite und beschließt, das Kokain zu verkaufen. Und damit begibt er sich in eine moralische Abwärtsspirale, aus der es für ihn kein Entrinnen gibt.
Schnell kann es gehen, wenn ein vormals ehrbarer Mensch sich auf krumme Geschäfte einlässt. Denn dem Kopf der Hydra vergleichbar, zieht ein Fehlverhalten des Protagonisten fast zwangsläufig die nächste, schwerwiegendere Ungesetzlichkeit nach sich, bis es schließlich für ihn um Leib und Leben geht.
Diese Ereignisse beschreibt Patrícia Melo nachvollziehbar und mit leichter Hand, sodass die Entwicklung ihrer Hauptfigur vom Namenlosen zum "Porco" (ja, Sie vermuten richtig) völlig logisch erscheint. Ihr Stil ist eher karg, dafür aber herrlich lakonisch und mit trockenem Humor - zumindest was die Aktivitäten des Protagonisten angeht.
Ganz anders sieht es aus, wenn Melo die Zustände in Corumbá schildert und dabei ganz beiläufig den Finger auf die Wunde legt. Ob das nun das äußere Erscheinungsbild der heruntergekommenen Grenzstadt, die Korruption, die allgegenwärtige Armut, die dysfunktionalen Familien, die gestörten Beziehungen, die Kriminalität oder der Gegensatz zwischen Reich und Arm ist – hier nimmt die Autorin kein Blatt vor den Mund und liefert ihren Lesern erschreckend realistische Beschreibungen.
Mit "Leichendieb" hat Patrícia Melo eine spannende Geschichte mit unverhohlener Kritik an der brasilianischen Gesellschaft verknüpft – sehr lesenswert und wärmstens empfohlen!