»Leichte Gedichte« in einer Zeit schwerer globaler Krisen - kann das gutgehen? Und was wollen sie uns sagen? Doch kurzweilig wird es allemal, wenn ein Dichter und ein Bildkünstler vom Range Enzensbergers und Tripps uns den Schein des Lebens vor Augen führen. Mit Lust und Laune wirbeln beide ihn auf, den Staub unserer irdischen Verhältnisse in Gestalt von Menschen, Tieren und Dingen. Da wird noch auf einer Beisetzung die Nacht durch getanzt, als sich herausstellt: Der Tote ist gar nicht endgültig tot. Makaber? Nicht, solange alles in ein paar Binnenreime, ein Liedchen à la Heine, eine Villanelle oder eine Bildsequenz passt. Und was danach? Ohne Eintrittskarte auf eine unheilige Auferstehung zu warten kann Nerven kosten. Hauptsache also, es ist schnell vorbei und alle Beteiligten befinden erleichtert: »Schwamm drüber!«
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Das Wichtigste ist es, nie eindeutig zu sein, lernt der hier rezensierende FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube. "Schwer" seien Enzensberger Gedichte nun ohnehin nie gewesen, und so stehen die hier nachgelieferten Brosamen ganz und gar in der bekannten Enzensbergerschen Tradition der Ironie und Offenheit, bestens geeignet auch für die Schullektüre, findet Kaube, denn diese Gedichte sind nicht nur leicht, sondern auch leicht verständlich. Großen Witz beziehen sie laut Rezensent aus der Gleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, die Enzensberger offenbar aus der Zeitungslektüre oder dem Briefkasten entgegenpurzelt. Die Liste, die ja auch im Internet populär ist, erkennt Kaube neben "Variationen auf Phrasen des Alltags" oder spöttisch gewendeten Pathosformeln als ein häufiges Stilmittel: "die Leberwerte, das Führungszeugnis".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.09.2023Warum sind Binnenreime innen?
Achtunddreißig Gedichte loben ohne jedes Pathos ein Weltverhältnis, das sich nicht in sonnenklare Ansichten verbeißt und sich der Tatsache bewusst ist, dass im Grunde niemand weiß, wo es langgeht: Lyrik aus dem Nachlass von Hans Magnus Enzensberger.
Weshalb leichte Gedichte? Er schrieb nie schwere. Seit er 1957 debütierte, war Hans Magnus Enzensbergers Lyrik ohne großen Aufwand verständlich. Sie fand auch deshalb den Weg in die Lesebücher, weil sie zu entschlüsseln von der Untersekunda an zugemutet werden durfte. Etwa in "Wortbildungslehre": "In den toten Hemden / ruhn die blinden Hunde / Um die kranken Kassen / gehn die wunden Wäscher". Mitunter waren es solche Wortspiele, mitunter Variationen auf die Phrasen des Alltags oder die Sprüche der Tradition ("Der Kampf aller gegen alle soll, / wie aus Kreisen verlautet, / die dem Innenministerium nahestehn, / demnächst verstaatlicht werden, / bis auf den letzten Blutfleck"), mitunter Verdichtungen von Essays auf Postkartengröße. Verrätselt war das meist nur im Sinne der Kreuzworträtsel in den Magazinen. Der große Kenner der Weltlyrik aller Avantgarden hielt es selbst mit dem Klartext. Enzensberger suchte deshalb meist nicht nach irritierenden Bildern, sondern führte vor, was alles gesagt wird und was daraus wird, wenn man die Worte herumdreht.
Im vergangenen November verstorben, hatte Enzensberger zuvor seine Schreibtischschubladen geräumt. Die Gedichte, die nun vor uns liegen, wirken aber nicht wie etwas, das noch übrig war. Sie sind gekennzeichnet von aphoristischer Gelassenheit gegenüber dem gewissen Ende, das dem mehr als Neunzigjährigen natürlich vor Augen stand. Es sind Versuche, sich dadurch nicht zu letzten Worten verführen zu lassen und den ironischen Stil tänzelnder Distanz zu gravitätischen Gesten, den Enzensberger immer mehr pflegte, bis zum Schluss durchzuhalten.
"Kümmere dich nicht", "Am besten man schaut sich nicht um", "Kein Mensch ist ohne Aber", "Übrigens können wir das meiste lassen", "Auch der härteste Stein wird weichgespült durch die Erosion", "Alles geht so weiter, sowieso", "Wer weiß, wo es langgeht? / Nicht ich bins", "Schwamm drüber", "Das macht nix", "Die Menschheit, ja, / Ans Herz damit, /mit einem Federstrich, / doch ohne mich."
Das sind nur einige der vielen Wendungen, in denen der Autor mitteilt, alles nicht gar so ernst zu nehmen und jedenfalls keinen unerfüllbaren Erwartungen zu folgen: "Künstler bilden sich ein, / daß sie etwas Besonderes sind", doch "Selbst die Fixsterne flackern". Alles unterliegt dem Zufall, aus dem die Evolution Muster schafft. Außerdem gibt es in Natur und Gesellschaft viel Indifferenz: "Die Elster lacht immer." Und wir können "das meiste vermeiden, / weil es überflüssig ist". Seid nicht so entschlossen, ist der Imperativ, den uns Enzensberger empfiehlt.
So schreibt er über dreizehn Gründe, sich über die Nachbarn zu ärgern, die aber so viel über die Nachbarn sagen wie über den, der sich über sie ärgert. Er hält fest, dass ihn die Nachrichten aus den Medien bedrängen. Am 1. Mai wird appelliert, auf die Straße zu gehen, ein pathetischer Unfug, der ihm - "Am Tag der Arbeit mach ich blau" - gleich zwei Gedichte wert ist, eines gegen den 1. Mai, eines gegen diejenigen, die sagen "Das bringt doch nichts!". Es folgt ein Gedicht über Schnee im Frühling - "Der Mai hielt nicht, was er versprach. / Dies war die Regel, die er heuer brach" - und eines darüber, dass am 1. Mai der Tierpark Hagenbeck geschlossen ist.
Was Enzensberger der Aufdringlichkeit seiner Umwelt entgegensetzt, die ihn dazu bewegen will, eindeutig zu sein, pessimistisch oder optimistisch, apokalyptisch oder demütig, ist die Technik, die prominent 1946 Jacques Prévert in seinem "Inventar" - "Une triperie, deux pierres / Trois fleurs, un oiseau / Vingt-deux fossoyeurs, un amour / Le raton laveur, une madame untel / Un citron, un pain / Un grand rayon de soleil" - genutzt hat: die aufzählende Liste dessen, was wichtig für einen ist oder einfach nur in der Küche oder im Briefkasten liegt: bei Enzensberger die Bankauskunft, die Beurteilung des Personalchefs, das Horoskop, die Leberwerte, das Führungszeugnis. So auch, was die Medien anspülen: "Busunglücke in Pakistan, Entlassungen von Handballtrainern", "die Einweisung / in ein paradiesisches Altersheim, / ein Tsunami, eine Bagatelle / oder das Jüngste Gericht". Will heißen: Es ist nicht auf einen Reim, gar einen Begriff zu bringen, was an einem vorbeizieht oder um einen herum ist.
Das andere Gegenmittel gegen die Eindeutigkeit im Verhalten zur Welt ist der Eigensinn der Worte. "Warum sind Binnenreime innen?" lautet der Titel eines Gedichts: "Er hörte schlecht und nie auf das, / was andre läuten, denn er scheute, / wie Leichenglocken Leute freuten. / Mit seinem Reimlein klebt er weiter, / So wird der Reim im Keim gescheiter /Und ganz alexandrinisch breiter". Enzensbergers Sympathie ist aufseiten der schilderungsfreudigen, beweglichen und unverlässlichen Künstler wie Grandville, Guillaume Apollinaire oder Heinrich Heine, denen einzelne Verse gelten.
Wogegen diese leichten Gedichte geschrieben sind, ist die Faszination durch Schwere und Hartnäckigkeit. Hans Magnus Enzensberger versucht den deutschen Stimmungen mit französischen entgegenzuarbeiten, und er schaudert manchmal: "Das Geflüster der stolzen Greisinnen, / die sich nicht einmal schämen, / daß sie nie verliebt waren." So schreckt er vor Besen und den Versuchen zurück, alles sauber zu machen. Er hält es vielmehr mit dem Staub und den Fusseln, die wir nie loswerden. Nie wieder reine oder reinliche Vernunft! Die achtunddreißig Gedichte, die hier versammelt sind, loben ohne jedes Pathos ein Weltverhältnis, das sich nicht in sonnenklare Ansichten verbeißt und sich der Tatsache bewusst ist, dass im Grunde niemand weiß, wo es langgeht. Die Lektüre bewirkt, ohne dass die Verse von krampfhafter Ironie bestimmt wären, eine ruhige, heitere Stimmung, die dem Alter besonders angemessen ist. JÜRGEN KAUBE
Hans Magnus Enzensberger: "Leichte Gedichte".
Insel Verlag, Berlin 2023. 88 S., geb., 14,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Achtunddreißig Gedichte loben ohne jedes Pathos ein Weltverhältnis, das sich nicht in sonnenklare Ansichten verbeißt und sich der Tatsache bewusst ist, dass im Grunde niemand weiß, wo es langgeht: Lyrik aus dem Nachlass von Hans Magnus Enzensberger.
Weshalb leichte Gedichte? Er schrieb nie schwere. Seit er 1957 debütierte, war Hans Magnus Enzensbergers Lyrik ohne großen Aufwand verständlich. Sie fand auch deshalb den Weg in die Lesebücher, weil sie zu entschlüsseln von der Untersekunda an zugemutet werden durfte. Etwa in "Wortbildungslehre": "In den toten Hemden / ruhn die blinden Hunde / Um die kranken Kassen / gehn die wunden Wäscher". Mitunter waren es solche Wortspiele, mitunter Variationen auf die Phrasen des Alltags oder die Sprüche der Tradition ("Der Kampf aller gegen alle soll, / wie aus Kreisen verlautet, / die dem Innenministerium nahestehn, / demnächst verstaatlicht werden, / bis auf den letzten Blutfleck"), mitunter Verdichtungen von Essays auf Postkartengröße. Verrätselt war das meist nur im Sinne der Kreuzworträtsel in den Magazinen. Der große Kenner der Weltlyrik aller Avantgarden hielt es selbst mit dem Klartext. Enzensberger suchte deshalb meist nicht nach irritierenden Bildern, sondern führte vor, was alles gesagt wird und was daraus wird, wenn man die Worte herumdreht.
Im vergangenen November verstorben, hatte Enzensberger zuvor seine Schreibtischschubladen geräumt. Die Gedichte, die nun vor uns liegen, wirken aber nicht wie etwas, das noch übrig war. Sie sind gekennzeichnet von aphoristischer Gelassenheit gegenüber dem gewissen Ende, das dem mehr als Neunzigjährigen natürlich vor Augen stand. Es sind Versuche, sich dadurch nicht zu letzten Worten verführen zu lassen und den ironischen Stil tänzelnder Distanz zu gravitätischen Gesten, den Enzensberger immer mehr pflegte, bis zum Schluss durchzuhalten.
"Kümmere dich nicht", "Am besten man schaut sich nicht um", "Kein Mensch ist ohne Aber", "Übrigens können wir das meiste lassen", "Auch der härteste Stein wird weichgespült durch die Erosion", "Alles geht so weiter, sowieso", "Wer weiß, wo es langgeht? / Nicht ich bins", "Schwamm drüber", "Das macht nix", "Die Menschheit, ja, / Ans Herz damit, /mit einem Federstrich, / doch ohne mich."
Das sind nur einige der vielen Wendungen, in denen der Autor mitteilt, alles nicht gar so ernst zu nehmen und jedenfalls keinen unerfüllbaren Erwartungen zu folgen: "Künstler bilden sich ein, / daß sie etwas Besonderes sind", doch "Selbst die Fixsterne flackern". Alles unterliegt dem Zufall, aus dem die Evolution Muster schafft. Außerdem gibt es in Natur und Gesellschaft viel Indifferenz: "Die Elster lacht immer." Und wir können "das meiste vermeiden, / weil es überflüssig ist". Seid nicht so entschlossen, ist der Imperativ, den uns Enzensberger empfiehlt.
So schreibt er über dreizehn Gründe, sich über die Nachbarn zu ärgern, die aber so viel über die Nachbarn sagen wie über den, der sich über sie ärgert. Er hält fest, dass ihn die Nachrichten aus den Medien bedrängen. Am 1. Mai wird appelliert, auf die Straße zu gehen, ein pathetischer Unfug, der ihm - "Am Tag der Arbeit mach ich blau" - gleich zwei Gedichte wert ist, eines gegen den 1. Mai, eines gegen diejenigen, die sagen "Das bringt doch nichts!". Es folgt ein Gedicht über Schnee im Frühling - "Der Mai hielt nicht, was er versprach. / Dies war die Regel, die er heuer brach" - und eines darüber, dass am 1. Mai der Tierpark Hagenbeck geschlossen ist.
Was Enzensberger der Aufdringlichkeit seiner Umwelt entgegensetzt, die ihn dazu bewegen will, eindeutig zu sein, pessimistisch oder optimistisch, apokalyptisch oder demütig, ist die Technik, die prominent 1946 Jacques Prévert in seinem "Inventar" - "Une triperie, deux pierres / Trois fleurs, un oiseau / Vingt-deux fossoyeurs, un amour / Le raton laveur, une madame untel / Un citron, un pain / Un grand rayon de soleil" - genutzt hat: die aufzählende Liste dessen, was wichtig für einen ist oder einfach nur in der Küche oder im Briefkasten liegt: bei Enzensberger die Bankauskunft, die Beurteilung des Personalchefs, das Horoskop, die Leberwerte, das Führungszeugnis. So auch, was die Medien anspülen: "Busunglücke in Pakistan, Entlassungen von Handballtrainern", "die Einweisung / in ein paradiesisches Altersheim, / ein Tsunami, eine Bagatelle / oder das Jüngste Gericht". Will heißen: Es ist nicht auf einen Reim, gar einen Begriff zu bringen, was an einem vorbeizieht oder um einen herum ist.
Das andere Gegenmittel gegen die Eindeutigkeit im Verhalten zur Welt ist der Eigensinn der Worte. "Warum sind Binnenreime innen?" lautet der Titel eines Gedichts: "Er hörte schlecht und nie auf das, / was andre läuten, denn er scheute, / wie Leichenglocken Leute freuten. / Mit seinem Reimlein klebt er weiter, / So wird der Reim im Keim gescheiter /Und ganz alexandrinisch breiter". Enzensbergers Sympathie ist aufseiten der schilderungsfreudigen, beweglichen und unverlässlichen Künstler wie Grandville, Guillaume Apollinaire oder Heinrich Heine, denen einzelne Verse gelten.
Wogegen diese leichten Gedichte geschrieben sind, ist die Faszination durch Schwere und Hartnäckigkeit. Hans Magnus Enzensberger versucht den deutschen Stimmungen mit französischen entgegenzuarbeiten, und er schaudert manchmal: "Das Geflüster der stolzen Greisinnen, / die sich nicht einmal schämen, / daß sie nie verliebt waren." So schreckt er vor Besen und den Versuchen zurück, alles sauber zu machen. Er hält es vielmehr mit dem Staub und den Fusseln, die wir nie loswerden. Nie wieder reine oder reinliche Vernunft! Die achtunddreißig Gedichte, die hier versammelt sind, loben ohne jedes Pathos ein Weltverhältnis, das sich nicht in sonnenklare Ansichten verbeißt und sich der Tatsache bewusst ist, dass im Grunde niemand weiß, wo es langgeht. Die Lektüre bewirkt, ohne dass die Verse von krampfhafter Ironie bestimmt wären, eine ruhige, heitere Stimmung, die dem Alter besonders angemessen ist. JÜRGEN KAUBE
Hans Magnus Enzensberger: "Leichte Gedichte".
Insel Verlag, Berlin 2023. 88 S., geb., 14,- Euro.
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»... durchschaubar, ohne banal zu sein, griffig, ohne simpel zu sein.« Frankfurter Rundschau 20231212