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"Leichter als Luft" sind diese heiteren, ironischen und zugleich ernsten und konkreten Verse. Die Vielfalt der poetischen Mittel reicht vom Kalenderspruch über die reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen bis hin zum Schlager. Auch Terzinen und Ghaselen sind erlaubt.
Was haben Gedichte gemeinsam mit dem Helium, den Heiligenscheinen und dem Ich? Daß sie leichter als Luft sind, behauptet Enzensberger; und in der Tat sind seine Verse nie durch bleierne Füße aufgefallen. Die mürrischen, die schrillen, die jammernden Töne gefallen ihm nicht. Auch zeichnet sich, was er schreibt, nicht durch…mehr

Produktbeschreibung
"Leichter als Luft" sind diese heiteren, ironischen und zugleich ernsten und konkreten Verse. Die Vielfalt der poetischen Mittel reicht vom Kalenderspruch über die reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen bis hin zum Schlager. Auch Terzinen und Ghaselen sind erlaubt.
Was haben Gedichte gemeinsam mit dem Helium, den Heiligenscheinen und dem Ich? Daß sie leichter als Luft sind, behauptet Enzensberger; und in der Tat sind seine Verse nie durch bleierne Füße aufgefallen. Die mürrischen, die schrillen, die jammernden Töne gefallen ihm nicht. Auch zeichnet sich, was er schreibt, nicht durch Unverständlichkeit aus. Leichter als Luft heißt nicht, daß er auf der Flucht nach oben wäre, in die menschenleeren Sphären des Idealismus. Den Ballast der Gegenwart über Bord zu werfen - dazu war Enzensberger nie bereit. Das gibt auch der Untertitel seines neuen Buches zu verstehen, der wie ein ironisches Echo aus dem 18. Jahrhundert klingt. Die Moral, von der hier die Rede ist, verzichtet auf philosophische Daumenschrauben. Sie hält sich ans Konkrete. Am Ende des Jahrhunderts ist das einzig Richtige nirgends in Sicht. Wo Politik und Alltag, Krieg und Liebe, Wahn und Vernunft, Idyll und Katastrophe unauflöslich ineinander verknäult sind, läßt sich das, was der Fall ist, nur noch im Modus des Tragikomischen beschreiben. Dem entspricht die Vielfalt und Gebrochenheit der poetischen Mittel. Neben die "reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen" treten Formen wie der Schlager und der Kalenderspruch, und sogar Terzinen und Ghaselen sind erlaubt, wenn es darum geht, zu zeigen, was von uns übriggeblieben ist.
Autorenporträt
Hans Magnus Enzensberger, geboren 1929 in Kaufbeuren, lebt in München. 1963 erhielt Hans Magnus Enzensberger den Georg-Büchner-Preis, im Jahr 2015 wurde ihm der Frank-Schirrmacher-Preis verliehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.1999

Erkenne die Lage
Gedichte von Hans Magnus Enzensberger · Von Lothar Müller

In seinem Abgesang auf die siebziger Jahre, dem Gedichtband "Die Furie des Verschwindens" (1980), ließ Hans Magnus Enzensberger jemanden von sich sagen, seine Lieblingsdroge sei die Aufmerksamkeit und seine Moral bestehe darin, "nicht zu ermüden". Dann schwieg der Lyriker eine zeitlang und ließ dem Essayisten den Vortritt. Jetzt hat er nach der "Zukunftsmusik" (1991) und dem "Kiosk" (1995) seinen dritten Band mit Gedichten aus den neunziger Jahren veröffentlicht und damit eine Trilogie der Wachheit abgeschlossen, die allem Kokettieren mit Fin de Siècle-Stimmungen die kalte Schulter zeigt. Sie überspringt die vorige Jahrhundertwende mit ihren Apotheosen der Müdigkeit und des heillosen Erschöpftseins, um als ihren Schlusspunkt einen Untertitel zu setzen, der seine Herkunft aus der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts nicht verleugnet: "Moralische Gedichte". Freilich stammt der kategorische Imperativ, dem sie verpflichtet sind, nicht von Immanuel Kant, sondern von Gottfried Benn: "Erkenne die Lage."

In Enzensbergers Kehraus dieses Jahrzehnts spielt die Chronik der Ereignisse nur eine Nebenrolle. Aber in strenger Auswahl, in Abbreviaturen und Anklängen sind sie anwesend. Durch ein kleinen Lobgesang auf den Schneepflug hallt, verstärkt von der Vorstellung, er sei ausgeblieben, das Echo fast schon wieder vergessener Lawinen. Wie ein Kinderrätsel, bei dem das gesuchte Wort nur in Umschreibungen genannt werden darf, kommt ein Gedicht mit dem Titel "Das, was vorher war" daher. Man kann es als Kommentar zum Streit zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis lesen: "Daß es niemand verstehen kann, / dabei wird es bleiben. / Es soll welche geben, / die es nicht mehr hören können. / Der eine oder andre / bestreitet es einfach. / Die meisten glauben, / es sei vorbei." Am Ende steht der Befund, dass "es" kein Ende nimmt. Aber nicht dies ist der Kern des Gedichts, sondern der Versuch, der Beschädigung eines Wortes durch seine Aussparung entgegenzuarbeiten.

Nicht nur wegen solcher Verdichtungen wird jeder, der sie erlebt hat, die Bundesrepublik der neunziger Jahre in Enzensbergers Zeilen wiederfinden, sondern auch wegen ihrer Mimikry mit dem atmosphärischen Grundrauschen dieser Zeit. Weil die großen Gedankengebäude längst eingestürzt sind, wird sie kaum mehr zum Gegenstand poetischer Ideologiekritik. Weniger ihre Parolen als ihre Stimmungen sind hier eingefangen. Hier wie in den vorangegangenen Bänden finden die entscheidenden Niederlagen nicht im Parlament, sondern im Abflugterminal oder Fitnesscenter statt. Nicht die Thesenanschläge, sondern das Kleingedruckte in den Versicherungsverträgen ist entscheidend.

Geradezu obsessiv taucht das Phantasma einer plötzlichen Unterbrechung der unablässigen Zirkulation auf, des Umschlags hochkomplexer Ordnung in die elementare Katastrophe, für deren Auslösung eine Minimalabweichung ausreicht. Einmal fällt die Formel dieser Umschlagsstimmung: "panische Stille". Gedichte wie das vom Kosmologen, dessen Gleichungen unversehens im Zahnschmerz zerschmelzen, sind ganz auf solche Schrecksekunden hin pointiert. Manche dieser Inszenierungen des Schwarzwerdens vor den Augen wirken wie alte Bekannte, sind Reprisen oder Variationen eines erprobten Musters. Es gibt zudem Nachträge zum längst errichteten "Mausoleum", dieser dunkle und zweideutig schillernden Ahnengalerie der Entdecker, Erfinder und Märtyrer des Fortschritts, so das Porträt des Mathematikers John von Neumann.

Neu aber ist die Konsequenz, mit der Enzensberger in diesem Band nicht nur dem Gebot "Erkenne die Lage", sondern auch seiner Entsprechung, dem "Erkenne dich selbst" Rechnung trägt. Die elliptische Spannung zwischen diesen Polen geht freilich nicht aus unmittelbaren autobiographischen Bekenntnissen hervor, sondern aus der Eindringlichkeit, mit hier der Dichter noch einmal die Grundzüge seiner poetischen Existenz darlegt. In auffällig vielen Gedichten schreitet er den Raum ab, in dem er den eigenen Ton gefunden hat, in dem sowohl der Brecht der Buckower Elegien (samt Erinnerung an die "Hauspostille") wie der Benn der Nachkriegsjahre unauffällig anwesend sind.

Eines dieser Gedichte heißt "Der Nichtschwimmer". Es verweigert sich lakonisch dem "Ur"-Pathos ("Alles ist Ufer" / "Ewig ruft das Meer") des jungen Benn: " ,Oh, daß wir unsere Ur-ur-Ahnen wären.' / Nein, lieber nicht". Enzensbergers Moral, "nicht zu ermüden", findet ihre Entsprechung in seiner Poetik, die man eine Poetik der alten Mitte nennen könnte, der "aurea mediocritas", die Horaz mit der Warnung vor dem Meer verbunden hatte. Mit der Seligsprechung des dumpfen, risikolosen Lebens hatte das alte Lob der Mitte nie etwas zu tun. Enzensberger konnte nur darum in seinen essayistischen Verteidigungen der Normalität und seiner Aufwertung des Mittelmaßes gegenüber dem ästhetisch attraktiveren Wahn daran anknüpfen.

In seiner Lyrik entspricht dem, auch in diesem Band, die überbordende Lust an der neuen Inszenierung jenes Stolperschrittes, durch den das Erhaben zum Lächerlichen wird. Eine der hier zusammengestellten "Optionen für einen Dichter" lautet: "vielsagend schweigen". In diesem Werk wird sie in aller Regel ausgeschlagen. Gegen die Traditionen der hermetischen Lyrik, das um sich herum die Suggestion eines möglichst großen Hofes von Schweigen oder Unaussprechlichem erzeugt, aus dem es hervorgegangen ist, hat Enzensberger stets am verständlichen Gedicht festgehalten. Das heißt nicht: am unmittelbar verständlichen. Aber man kann jedem seiner Gedichte mit Geduld auf die Schliche kommen. Manchmal auch mit einem Lexikon.

Denn dieser Lyriker ist ein Erbe der Enzyklopädisten auch in dem pragmatischen Sinn, dass er stets Wörterbücher und Nachschlagewerke zur Hand hat und das auch von seinen Lesern erwartet, wenn er poetische Gebilde wie den Schachtelhalm oder eine mächtige Rosskastanie in terminologischer Verkleidung auftreten lässt. Auch diese Beschränkung auf das allgemein Zugängliche, Wissbare gehört zur Poetik der alten Mitte, zur Auffassung des Gedichtes als Artefakt, als Handwerksprodukt. Dieser Aufwertung des Enzyklopädisch-Lexikalischen gegen den Enthusiasmus, die Inspiration oder gar die Trance entspricht die polemische Abfuhr für alle Selbstinszenierungen des Dichters als antibürgerlichem Sonderwesen. Enzensbergers Abscheu vor der längst verblichenen Mode solcher Stilisierungen ist noch in diesem Band mit Händen zu greifen.

Enzensberger hat sich mit Fleiß den Ruf eines heiter-gelassenen Aufklärers, eines skeptischen, aber treuen Anwalts der Vernunft erworben. Seine Meisterschaft aber hat er sich als Mythologe erworben. Denn das ist er vor allem: einer, der mit Inbrunst eine Mythologie der Leichtigkeit entwirft, in der die schwere Welt aufgehoben sein soll. Zeus ist darin nur schwer zu erkennen, aus dem geflügelten Merkur von einst ist der fliegende Robert geworden. Zu dem Gedicht "Chinesische Akrobaten" aus der "Zukunftsmusik", das in der Illusion der leichten Körper sich selbst ins Bild setzte, gibt es in diesem Band ein lakonischeres Gegenstück. Es heißt "Semantik" und handelt von der Leichtigkeit, die der Stein als Wort durch seine Benennung gewinnt, und von der Schwere, die er dennoch behält.

Damit ist ein Grundthema dieses Buches angeschlagen, die Spannung zwischen der Mythologie der Leichtigkeit und den Kräften, die zur Erde hinabziehen. Deutlicher als in den Anspielungen auf den bevorstehenden siebzigsten Geburtstag, im Loblied auf das Sich-Entziehen und die Bewahrung nicht-festlegbarer Identität als Lebensstrategie ist in der großen Aufmerksamkeit auf die Steine, die Erde und was zu ihnen gehört, die Abstandsverringerung zwischen dem lyrischen Ich und seinem Autor zu spüren. Hier vor allem werden sie kenntlich als Altersgedichte. Unscheinbar in der Reverenz an die Schuhe unter dem Titel "Curriculum Vitae", wenn der Leser in der Schachtel des letzten Verses erst auf den zweiten Blick den Sarg erkennt. Nicht übersehbar im Gedicht auf die Füße, die den Lebensweg zu Ende gegangen sind. Unmissverständlich akzentuiert im "Abschiedsgruß an die Astronauten", der im Blick auf neue Welten abwinkt und auf die Utopie der Schwerelosigkeit verzichtet.

Zu dem Sisyphos aus der "Verteidigung der Wölfe", zu Prometheus oder anderen Heroen, die etwas von Steinen verstehen, nimmt Enzensberger auch jetzt keine Zuflucht. Die Poetik der alten Mitte gilt für das Ding an sich in seinem poetischen Kosmos, die Nicht-Vorstellbarkeit des eigenen Todes. Der Ton bleibt leicht. Nur eines ist auffällig: der breite Raum, den in diesem Band das Spiel mit überlieferten und aktuellen Formen des Reims einnimmt, von der Ghasele bis zum Schlager. Darunter sind Virtuosenstücke aus jener Werkstatt, in der Enzensberger unter dem Pseudonym Andreas Thalmayr nicht erst seit den "Wasserzeichen der Poesie" (1985) zu Hause ist, sondern seit der Dissertation über Clemens Brentano, seit der Sammlung von Kinderreimen "Allerleirauh" (1961). Früher hat er in die Terzinenform die Biographie Brechts hineingeschrieben, jetzt die Erinnerung an die eigene Kindheit. Und eingerahmt in die unsichtbaren Anführungszeichen des Titels "Kalendersprüche" darf der gelassene Ton in den Ton schwerer Glocken aus der Zeit des Matthias Claudius übergehen.

Sein Spott über Reinkarnationslehren, Aromatherapie und erschöpfte Betriebsame, die an den Pforten eines Trappistenklosters klingeln, ist vergnüglich zu lesen. Oder die Parodie mystischer Beschwörungen der letzten Reise in der "Letzten Leerung" eines kleinen Briefkastens, die Hintanstellung der Vorbereitung auf Fegefeuer und Paradies unter dem Motto "First things first". Spannungsreicher aber geht es dort zu, wo er sich im höheren poetischen Schwierigkeitsgrad übt: der Entschwerung der letzten Dinge, ohne ihnen ihr Gewicht zu nehmen. Dazu gehört das Gedicht "In Jerusalem". Darin geht es um einen Stein, um einen heiligen sogar: "Niemand weiß, / wozu er gut ist. Schön / kann man ihn nicht nennen. / Auch einer wie ich, / der ihn nicht brauchen kann, / ist darüber gestolpert". Die Entschwerung der letzten Dinge, ohne ihnen ihr Gewicht zu nehmen. Das gelingt hier nicht immer.

Hans Magnus Enzensberger: "Leichter als Luft". Moralische Gedichte. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1999. 132 S., geb., 32,- DM.

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