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Der »Leidenschaftliche Leitfaden«, 1940 bis 1944 in Paris entstanden, umfaßt zwei handgeschriebene Oktavhefte mit siebzig fortlaufend numerierten Abschnitten, die trotz aller aphoristischer Sprunghaftigkeit festgefügt und geschlossen wirken. Diese allerletzte rumänische Schrift Ciorans ist sein Abschiedsgesang auf die rumänische Sprache. Es handelt sich um ein an bekenntnishaftem Pathos kaum zu überbietendes Werk, das die jugendliche Schaffensperiode vor dem Hintergrund völliger Vereinsamung und Verunsicherung in Paris zusammenfaßt und verschärft. In keinem seiner Jugendwerke bekennt Cioran…mehr

Produktbeschreibung
Der »Leidenschaftliche Leitfaden«, 1940 bis 1944 in Paris entstanden, umfaßt zwei handgeschriebene Oktavhefte mit siebzig fortlaufend numerierten Abschnitten, die trotz aller aphoristischer Sprunghaftigkeit festgefügt und geschlossen wirken. Diese allerletzte rumänische Schrift Ciorans ist sein Abschiedsgesang auf die rumänische Sprache. Es handelt sich um ein an bekenntnishaftem Pathos kaum zu überbietendes Werk, das die jugendliche Schaffensperiode vor dem Hintergrund völliger Vereinsamung und Verunsicherung in Paris zusammenfaßt und verschärft. In keinem seiner Jugendwerke bekennt Cioran sich so besessen zur eigenen Abgeschiedenheit und Weltferne, in keinem schlägt er unerbittlichere Saiten an.
Autorenporträt
Cioran, E. M.E. M. Cioran wurde 1911 in Rasinari bei Hermannstadt in Siebenbürgen als Sohn eines griechisch-orthodoxen Priesters geboren. 1928 bis 1931 Studium der Philosophie an der Universität Bukarest. Bis 1939 erschienen fünf Bücher in rumänischer Sprache. 1937 kam Cioran als Stipendiat nach Paris, wo er als freier Schriftsteller lebte. Er starb am 20.6.1995 in Paris.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.1996

Kein Himmel über Paris
E. M. Cioran ist nicht Nero, aber er kultiviert die Verzweiflung

Der Rumäne E. M. Cioran ist ein großer französischer Autor geworden, und sein Ruhm - so darf man vermuten - ist ohne die Teilnahme am Pariser Literaturbetrieb nicht zu denken. Er war einer der gebildeten Rumänen, für die "Paris ein Absolutes, Frankreich eine Religion" bedeutete. Freilich nahm Cioran sich Zeit, um die französische Option zu treffen und zu realisieren, und zu seinem Denken und Schreiben gehört, daß Paris ihm jenes Nicht-zu-Hause-Sein bot, dessen er bedurfte. Es war weder Exil noch Heimat, und die französische Sprache wurde für ihn ein "geliehenes Idiom", das ihm die äußerste Präzision abverlangte. Doch manchmal, beim Schreiben in "durchdachten und immer wieder durchdachten Wörtern", sehnte er sich nach dem "Geruch von Frische und Fäulnis" der rumänischen Sprache zurück.

In dieser Sprache hatte Cioran immerhin eine Reihe von Büchern verfaßt, und schon das erste, 1933 in Bukarest veröffentlicht, trug einen Titel, der über seinem gesamten Werk stehen könnte: "Auf den Gipfeln der Verzweiflung". Diese Titelmetapher war verpflichtend: Von diesen Gipfeln gab es keinen erlaubten Abstieg. Oder doch? Cioran hat sich ein Buch wirklich verübelt, die mit der faschistischen Eisernen Garde sympathisierende "Veränderung des Antlitzes Rumäniens" von 1936. Fasziniert habe ihn nicht die politische Idee, erklärte er später, sondern die Exaktheit, die "Idee des Todes". Immerhin stimmte Cioran einer rumänischen Neuausgabe zu, mit der Auflage von Streichungen, zur Unterdrückung seiner "prähistorischen Frechheiten".

Es ist anzunehmen, daß solche Erfahrungen weit in Ciorans Pariser Erfahrungen hineinwirkten. Der ewige Student, 1937 nach Paris wegen einer Doktorarbeit gekommen, die er nie schrieb, entdeckte, daß er eines Tages sterben werde, und beschloß, "der Mitwelt über eine so bemerkenswerte Entdeckung die Augen zu öffnen". Weniger ironisch gesagt: Cioran hatte seine metaphysische Thematik gefunden.

Das Handeln galt ihm fortan als die "Mutter aller Übel", der Weltlauf führte auf die "notwendige Katastrophe", die "Lehre vom Zerfall" - so der Titel des seinerzeit von Paul Celan übersetzten Werkes - war fortan zu variieren: Gipfel um Gipfel der Verzweiflung eines nächtlichen, schlaflosen Denkens, glanzvolle "Syllogismen der Bitterkeit", wenn auch goutierbar, ja mit Lust zu lesen - Produkte eines an Montaigne wie an östlicher Mystik geschulten Aphoristikers. Ein französischer Nietzsche, wie Susan Sontag meint. Oder vielleicht ein französischer Thomas Bernhard, mit philosophischen Totalsätzen. Zumeist sind es apodiktische Sätze wie: "Wer den Umweg um die Geschichte wagt, stürzt gnadenlos ab in sich selbst" - ein Satz, offenbar an die eigene Adresse gerichtet, zu lesen als Resümee von Ciorans Beschäftigung mit Politik und Zeitgeschichte.

Man findet diese Einsicht in dem nun erschienenen Band "Leidenschaftlicher Leitfaden". Man möchte dieses Bändchen mit Denkbildern und Aphorismen ein Brevier nennen - und das nicht allein deshalb, weil sein Verfasser zunächst den Titel "Leidenschaftliches Brevier" erwogen hatte. Es ist, in den Kriegsjahren (1940 bis 1944) geschrieben, Ciorans letzte auf rumänisch geschriebene Arbeit.

"Unlesbar, unbrauchbar, unpublizierbar", so lautete 1963 das Verdikt ihres Urhebers. Das klingt wie eine Rationalisierung und war zwar moros gedacht, aber wohl nicht völlig ernst gemeint. Der Autor jedenfalls hat über Jahrzehnte die Existenz des Manuskripts geheimgehalten und später nur wenige Vertraute eingeweiht. Seinem Bruder in Hermannstadt schrieb er 1981: "Diese Art von zügellosem Lyrismus ist mir völlig fremd geworden. Er ist zu poetisch, zu ,jugendlich', zu ,enthusiastisch'." Verdikte, die man aber auch ins Positive wenden könnte. Zehn Jahre später gibt es eine Buchausgabe und jetzt, knapp zwei Jahre nach Ciorans Tod, die deutsche Übersetzung.

Es ist wahr, dieser Cioran der frühen vierziger Jahre ist "poetisch", "jugendlich" und "enthusiastisch" - er ist vor allem leidenschaftlich. Man findet alles wieder, was die Faszination dieses Autors ausmacht: die Denkschärfe seiner Aphorismen; den Anspielungsreichtum seiner Exkurse; vor allem aber den Gestus, der seiner selbst immer sicher ist, ganz gleich, worauf die Gebärde zielt. Aber alles weniger kontrolliert, frischer. Wenn der Stil der Mensch ist, dann erscheint Cioran hier als junger, leidenschaftlicher Mann, der sich ein wenig als Zyniker geriert, doch dem Habit einer frommen Tradition noch nicht entwachsen ist - Ciorans Vater war immerhin Pope. Aber es spricht schon unverkennbar ein Mystiker ohne Gott.

Anders gewendet: Der Freigeist hat ein Brevier geschrieben. In ihm verbindet sich negative Theologie mit Mystik, Mystik mit clarté, clarté mit Musik. Das schlingt sich oft wunderbar ineinander, hat aber in der Raffung ein fast zu deutliches System. Die Idiosynkrasien zeigen sich nackt und selbstverliebt. Natürlich ist das Christentum der "uneleganteste Glaube, den es jemals gab". Selbst Nero, der zweitausend Jahre lang verleumdet worden sei, ist für Cioran "weniger banal" als Jesus. Überhaupt ist das Christentum eine "Reaktion wider die Sonne", und wäre Religion nicht möglich (und nötig), wenn wir in Gärten lebten? Doch wir leben in Paris, das "keinen Himmel" hat, und mokieren uns über jene Menschen, die sich nicht schämen dazusein. Aber weil er "Leidenschaften nährt in einer schemenhaften Welt, verdient der Mensch seinen Ruhm" - verführerisch, weiter zu zitieren, aber auch nicht gerecht.

Ein halbes Dutzend "Blüten", so zusammengesteckt, ergeben ein allzu absichtsvolles Arrangement. Der Cioran dieser Epoche will jedoch weniger aufs Kulinarische oder Lehrhafte hinaus als auf den Selbstausdruck, mehr: auf die Ausgießung seines Geistes. Auch das Apropos möchte Eruption sein. Einmal heißt es: "Verzweifeln? - Interjektionell leben." Vielleicht die beste Formel: ein Imperativ vorerst, nicht gelebtes Leben. Der Stil geht der Existenz voraus. Die Sätze, ja ganze Abschnitte haben den Charakter von Interjektionen. Möglich, daß Cioran eben dies poetisch, jugendlich, enthusiastisch erschien.

Wer dem selbstkritischen Autor halb zustimmt, darf ihm auch widersprechen. Gewiß hatte für ihn dieser mit Leidenschaft gesponnene Faden seine Funktion erfüllt - Leitfaden im Labyrinth der Pariser Zeit zu sein. Das schränkt seinen Wert für den passionierten oder nur impressionablen Leser nicht ein. Zwar ist manches in diesem Brevier forciert, ist manche Provokation inzwischen verbraucht; aber einiges berührt den Leser weit über das Stilistische und Gedankliche hinaus: Ciorans Liebe zu Rumänien, als "Quelle von Untröstlichem"; seine Liebe zur Musik ("Bachs Largo - Ihm verdanke ich mich"); oder der Satz: "Gott - Hast du je einen im Bösen sanfteren Sohn gehabt?" Ein Satz, den sich der - wie sagt man? - reife Cioran nicht mehr gestattet hätte. Ein Satz aber auch, der einem dieses kleine Buch sehr nahe bringt. HARALD HARTUNG

E. M. Cioran: "Leidenschaftlicher Leitfaden". Aus dem Rumänischen übersetzt und mit einer Nachbemerkung versehen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 156 Seiten, geb., 32,- DM.

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