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Produktdetails
  • Verlag: Transit Berlin
  • Seitenzahl: 201
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 658g
  • ISBN-13: 9783887471323
  • ISBN-10: 3887471326
  • Artikelnr.: 24183983
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.1998

Die karnevalisierte Zerschlagung
Dieter Kunzelmann sorgt für seinen Nachruhm

Dieter Kunzelmann: "Leisten Sie keinen Widerstand!" Bilder aus meinem Leben. Transit Buchverlag, Berlin 1998. 207 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 38,- Mark.

Dieter Kunzelmanns Autobiographie erschien an einem symbolträchtigen Tag: Als der Potsdamer Platz in Berlin vor wenigen Wochen festlich eingeweiht wurde, lag das Buch in den Schaufenstern. Zur Eröffnung des neu erbauten Areals sprachen alte Bekannte des Revoluzzers, Kommunarden und Bürgerschrecks: Bundespräsident Roman Herzog, der 1967 als Vorsitzender des Disziplinarausschusses der Freien Universität die Untersuchungen gegen die "Kommune I" geführt hatte, und Eberhard Diepgen, der Regierende Bürgermeister von Berlin, damals Vorsitzender des RCDS; Kunzelmann betrachtete ihn als Intimfeind und hatte ihn während der letzten Jahre mehrfach mit Eierwürfen attackiert.

Am 11. Oktober 1993, als Diepgen zum ersten Spatenstich am Potsdamer Platz vorfuhr, war Kunzelmann auf die Kühlerhaube der Limousine gesprungen und hatte auf der Windschutzscheibe ein Ei zerdeppert. Eine Gerichtsverhandlung war die Folge, bei der der Angeklagte den als Zeugen geladenen Diepgen wiederum mit einem Ei angriff und hinzufügte: "Frohe Ostern, Sie Weihnachtsmann." Als die Strafe - knapp ein Jahr Gefängnis - im vergangenen Herbst rechtskräftig wurde, ging Kunzelmann in den ihm vertrauten Untergrund.

Als er, noch nicht zwanzigjährig, aus der Banklehre im fränkischen Coburg flüchtete, um in Paris die Existenz eines Clochard zu führen, begegnete Kunzelmann zum ersten Mal einer Großstadt von unten. Noch standen die alten Markthallen, in denen er sich mit Hilfsarbeiten für einige Zeit über Wasser halten konnte, noch waren die Ufer der Seine nicht mit Schnellstraßen bebaut. Kunzelmann hegte eine romantische Sympathie für die Gescheiterten und Ausgestoßenen. Er, der Sohn eines Sparkassendirektors, nächtigte stolz unter Brücken: "Das Wagnis, sich häuslichem Wohlbehagen und bürgerlicher Sicherheit zu entziehen durch ein extremes Leben auf der Straße, hat tiefe Spuren hinterlassen."

In Schwabing trat er der avantgardistischen Künstler- und Intellektuellengruppe der "Situationistischen Internationale" bei. Die Gruppe hatte 1959 ein Manifest des "Unitären Urbanismus" veröffentlicht, das auf die aktionistische Zweckentfremdung der städtischen Architektur hinauslief. Man widersetze sich dem "passiven Spektakel, dem Grundsatz unserer Kultur", der Musealisierung für touristische Zwecke, man proklamierte die "Behauptung eines spielerischen städtischen Raumes" jenseits der "polizeilichen Verordnungen". Noch war das alles Theorie. Aber bald folgten die Schwabinger Unruhen, bei denen in den Sommernächten des Jahres 1962 in Rangeleien zwischen jungen Kaffeehausgästen und der Polizei ein Probelauf für das Kommende veranstaltet wurde.

"Kanon der Revolution" heißt ein Text Kunzelmanns aus jener Zeit, schön illustriert wie die radikalen Künstlermanifeste seit je. Er gibt der situationistischen Kulturkritik ein Echo: "Die Städte werden Sandspielkästen für erwachsene Kinder; jeder Mensch besitzt seinen Weltraumvolkswagen; Staaten werden zu Tischtennisbällen, die von transobjektiven Kräften zur allgemeinen Belustigung über Planeten geschmettert werden." Nach ersten Kontakten zwischen der radikalisierten Boheme und den antiautoritären Jungtürken des SDS, die sich vom Verbands-Marxismus traditioneller Spielart verabschiedeten, entschloß man sich, so Kunzelmann, die Kräfte auf eine Stadt zu konzentrieren, und die konnte "aufgrund der Standortvorteile nur Berlin sein". Bernd Rabehl, ein Mitstreiter von damals, schildert seine Erscheinung: "Er war fahrig, zupfte nervös an seinem Bart, folgte keinerlei Logik in seinem Gespräch, spielte auch nicht den Gebildeten oder den Durchblicker."

Die "Kommune I", die Kunzelmann mit Fritz Teufel und Rainer Langhans in Berlin gründete, war ein Experiment der karnevalisierenden Zerschlagung der bürgerlichen Familie. Blättert man in den Bildern dieses Bandes, dann wird freilich deutlich, wie stark Kunzelmann an die familialen Symbole gefesselt blieb. Das Schwabinger Atelier ist mit einem Lebkuchenplakat geschmückt, Weihnachtsbäume und Adventskränze wurden bei Demonstrationen mitgeführt; vom Ostereierverzehr mit der Schwester Liesl 1943 scheint eine gerade Linie zu den ersten Eierwürfen auf das Berliner Amerikahaus zu führen, denen sich später zahllose weitere anschlossen. Als "Fürsorger Eiermann" erscheint er in einem Brief Andreas Baaders vom Juni 1968, der hier dokumentiert ist. Von Kunzelmanns "Obsession des Eierwerfens" ist einmal in den Erinnerungen des Freundes Hilmar Buddee die Rede. Das Ei: Es war, wie Filz und Fett bei Joseph Beuys, das stumme Weltanschauungssymbol des Aktionskünstlers.

Kunzelmann - und, wie man hinzufügen muß: seinen Herausgebern Gudrun Fröba und Rainer Nitsche - ist ein erstaunlich gut lesbares, exzellent illustriertes Buch gelungen. Die Selbstverklärung hält sich in Grenzen, entschuldigende Legenden werden nicht gestrickt. Mit großer Schärfe faßt Kunzelmann die Scheinsiege der linksradikalen Bewegung ins Auge, die sich als Niederlagen entpuppten. Hier finden sich schöne Sittenbilder des Jahres 1968: Als bei den Osterunruhen die Scheiben im Vorbau des Springer-Hauses zu Bruch gehen, beobachtet er Horst Mahler, den Anwalt der radikalen Studenten, "wie er durch die Halle stolzierte, als wäre sie der Vorraum seiner neuen Kanzlei". Seine Verhaftung nach dem terroristischen Intermezzo der "Tupamaros Westberlin" betrachtet er als glückliche Fügung des Schicksals: "Nicht nur, daß ich am Leben blieb, verdanke ich diesem Umstand, auch daß ich - was bei einer weiteren Existenz als Stadtguerrillero nicht auszuschließen war - keine Aktionen zu verantworten habe, denen Menschen zum Opfer fielen."

Besonders überraschend mag manchem scheinen, daß der Gründer der "Kommune I" auch die Eltern nicht anklagt: "Die Liebe meiner Mutter und die Aufgeschlossenheit, Liberalität und auch Großzügigkeit meines Vaters trugen dazu bei, daß ich ein ungewöhnliches Selbstbewußtsein und vor allem einen enormen Drang nach Autonomie entwickelt habe . . . Der Grundstein für dieses Leben war in meiner Familie gelegt worden, in der ich Liebe, Sympathie und Toleranz erfuhr." Steckt nicht in diesen Sätzen die schärfste Provokation dieses Buches?

1997 tauchte Kunzelmann unter. Das letzte Bild zeigt ihn, wie er noch einmal vom Baugerüst einer Wohnung am Landwehrkanal auf die Stadt blickt; danach verschwand er nach Island. Am 3. April 1998 erschien in einer Berliner Zeitung die lakonische Todesanzeige: "nicht nur über sein Leben, auch über seinen Tod hat er frei bestimmt / Dieter Kunzelmann 1939-1998". Man schrieb die Vorosterwoche. In den deutschen Kaufhäusern und Supermärkten stapelten sich die Eier aller Größen, Farben und Geschmacksrichtungen.

LORENZ JÄGER

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