Produktdetails
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • Seitenzahl: 189
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 314g
  • ISBN-13: 9783462027846
  • ISBN-10: 3462027840
  • Artikelnr.: 24007705
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.07.1999

Klirrende Vitrinen
Eine jüdische Tochter

Helena Janeczek ist die Tochter zweier polnischer Juden, die dem Holocaust entkamen. Sie selber wurde erst lange nach Mord und Schrecken geboren, 1964 in München, wuchs im prosperierenden Westdeutschland auf, ging nach Italien, heiratete einen Italiener. So ist sie einerseits die Erbin eines großen Entsetzens, andererseits Kind des westeuropäischen Friedens und Aufschwungs. In ihren italienisch geschriebenen "Lektionen des Verborgenen" sagt sie: "Meine Mutter und mein Vater sind am Leben geblieben, daher wollten sie leben. Daher wollten sie mich, ein Kind. Für dieses Kind ist es nicht leicht, die Verkörperung dieses Das-Leben-geht-weiter zu sein, ist es nicht möglich, es sei denn zu dem Preis, daß dieses Leben nicht seines ist."

Damit haben wir das Problem dieser Autorin. Helena Janeczek muß ein Schicksal mittragen, das nicht ihres war, und läuft Gefahr, unter dem Druck der fatalen Überlieferung sich selbst zu verpassen. Hinzu kommt, daß die schwierige Forderung ganz von der Mutter ausgeht; der Vater, dem Bösen mit ruinierter Gesundheit entronnen, überlebte nicht lange. Macht es einen Unterschied, welcher der einst Verfolgten auf die nächste Generation einwirkt? Oft genug und hier gewiß. Hier geht es um das, was jüdische Eltern ihren Kindern zu erzählen haben, und um das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter, ein altes Problem, das nicht zwingend dem Holocaust entspringen muß. So erzählt uns die Autorin nicht eine Geschichte, sondern zwei. Beide handeln von denselben Menschen, aber gehorchen verschiedenen Perspektiven.

Die Tochter begleitet ihre Mutter auf einer Reise ins polnische Ursprungsstädtchen und zu den Vernichtungsstätten von Auschwitz. Hier macht sie uns zu Zeugen des mütterlichen Zusammenbruchs, denn die Davongekommene ist nie damit fertig geworden, daß sie nicht bei ihren Eltern ausharrte. Die Autorin notiert: "Wie ein Adler kreischt sie im Museum von Auschwitz, in jenem gediegenen Hotelkomplex, wo weder sie noch die anderen Juden gewesen sind, und vor einem Schaukasten, der ein Muster von Zyklon B zeigt, schreit sie wieder wie ein kleines Kind ,Mama, Mama'." In solchen Augenblicken verschmelzen beide Frauen, sind eins vom jüdischen, vom familiären, vom humanen Standpunkt aus. Die Tochter kommentiert: "Ich habe sie mit bedingungsloser, stolzer Liebe für ihre Szene ,in aller Öffentlichkeit' geliebt."Schon im nächsten Satz dämmert die andere Seite der Beziehung auf, das gewöhnliche Mutter-Tochter-Unbehagen. Da heißt es: "Ich liebe eine Mutter, die überlebt hat, die Brot auf der Straße aufhebt, und viel weniger die andere, die jeden Morgen auf die Waage steigt, und es gelingt mir nicht, sie beide zusammenzufügen, und ich weiß, . . . daß ich sie sogar viel zu gut kenne und daß all unser Streit nicht mehr und nicht weniger ist als der übliche Konflikt und der gewöhnliche Familienwahnsinn."

Das ist kein Anlaß zum Wundern: Im Prinzip sind ehemals Verfolgte und ihre Nachkommen Menschen wie andere auch, und warum sollten sie nicht nach Menschenart aufeinander reagieren? Darauf könnten wir uns mit der Autorin einigen, hätte sie nicht die besondere Aura der jüdischen Familienexistenz in und nach dem Genozid so nachdrücklich zur Geltung kommen lassen. Das macht die moralische Seite der Buchfabel aus. Aber Literatur fordert außer den moralischen auch gestalterische Rücksichten. Zum Beispiel, daß Verhängnis und Alltag einander bedingen, verdeutlichen. Eine schwierige Aufgabe, der die Autorin nicht ganz gerecht wurde. Ihr Handicap ist, daß sie ihre beiden Rollen - belastetes Verfolgtenkind und verärgerte Muttertochter - nicht zur Einheit komponieren konnte. Über Seiten hinweg sind wir Zeugen durchschnittlicher Ärgernisse, wie sie Mütter ihren weiblichen Kindern zu bereiten pflegen, töchterlicher Abwehrversuche und beiderseitiger Niederlagen. So etwas lenkt gefährlich ab vom jüdischen Leidenselement, das dieses Buch nicht ohne Einbußen entbehren kann, und so ist es, bis das Generalthema wieder zur Geltung kommt, eher langweilig.

SABINE BRANDT.

Helena Janeczek: "Lektionen des Verborgenen". Aus dem Italienischen übersetzt von Moshe Kahn. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999. 191 S., geb., 38,- DM.

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