Ein Meisterwerk!
Ian McEwan entfaltet in seinem neuen Roman das Leben eines ganz gewöhnlichen Mannes. Geboren wird Roland Baines 1948 als Sohn eines britischen Offiziers. Seine frühe Kindheit verbringt er in Libyen, wo sein Vater stationiert ist. Mit elf Jahren kommt er nach England in ein
Internat. Die Trennung von der Mutter fällt dem sensiblen Jungen schwer, doch das Internatsleben erweist…mehrEin Meisterwerk!
Ian McEwan entfaltet in seinem neuen Roman das Leben eines ganz gewöhnlichen Mannes. Geboren wird Roland Baines 1948 als Sohn eines britischen Offiziers. Seine frühe Kindheit verbringt er in Libyen, wo sein Vater stationiert ist. Mit elf Jahren kommt er nach England in ein Internat. Die Trennung von der Mutter fällt dem sensiblen Jungen schwer, doch das Internatsleben erweist sich als weniger schlimm wie befürchtet. Dagegen wird die Begegnung mit der mehr als zehn Jahre älteren Klavierlehrerin prägend für sein weiteres Leben. Belässt sie es bei dem elfjährigen Jungen noch bei sonderbaren körperlichen Übergriffen, entwickelt sich drei Jahre später daraus eine obsessive sexuelle Beziehung. Erst als Erwachsener wird Roland erkennen, welche seelischen Narben dieser Missbrauch bei ihm hinterlassen .
Nur mit der Flucht von der Schule schafft es Roland, sich aus diesem Verhältnis zu befreien. Doch er wird ruhelos sich durch sein weiteres Leben treiben lassen, wird nichts aus seinen Talenten machen. Kein Dichter, sondern Verfasser von Gebrauchstexten, keine Karriere als klassischer Pianist, sondern nur einen Job als Barpianiist. Auch privat scheitert er.
In der Anfangsszene des Romans befindet sich der Enddreißiger Roland sitzengelassen von seiner Frau Alissa mit dem 7 Monate alten Baby in seiner Londoner Wohnung. Alissa hat ihn verlassen, weil ein Familienleben mit Kleinkind sich nicht mit ihren Vorstellungen eines Schriftstellerlebens vereinbaren ließ. Nun versucht Roland völlig überfordert von seiner neuen Rolle als alleinerziehender Vater, seinen Sohn von der drohenden atomaren Wolke aus dem fernen Tschernobyl zu schützen.
McEwan begleitet seinen Protagonisten bis in sein 7. Jahrzehnt. Sein Anliegen ist es, ein individuelles Leben zu beschreiben und gleichzeitig die politischen Hintergründe und die gesellschaftlichen Entwicklungen in die Biographie einzuarbeiten. So treibt die Angst vor einem dritten Weltkrieg Roland in die offenen Arme seiner Klavierlehrerin. Vom Nachkriegsdeutschland über die Suez- Krise, vom Dissidentenleben in Ostberlin bis zum Fall der Berliner Mauer, vom Brexit bis zum Lockdown in Corona- Zeiten, all das beeinflusst mal mehr, mal weniger das Schicksal seines Protagonisten.
McEwan greift in diesem Roman viele Fragen auf. Was bestimmt unser Leben? Sind es die Prägungen, die man durch Eltern und das soziale Umfeld erlebt? Sind es Zufälle, die ihre Spuren hinterlassen und was entscheidet man dabei selbst? Und wann gilt ein Leben als gelungen und erfolgreich? Wenn man, wie Alissa ein großes literarisches Werk hinterlässt, dafür aber Mann und Kind geopfert hat und nun einsam und krank in der Wohnung sitzt. Oder kann nicht Roland die bessere Lebensbilanz aufweisen, obwohl er nichts aus seinen Talenten gemacht hat, eher planlos durchs Leben gestolpert ist, dafür aber am Ende seinen Frieden gefunden hat und glücklich im Kreis seiner Familie lebt?
McEwan liefert keine eindeutigen Antworten. Es gibt keine direkten Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung. Dafür zeigt er, wie Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt, welche Konsequenzen einmal getroffene Entscheidungen haben können.
Das ist dramaturgisch höchst kunstvoll gelöst. McEwan erzählt nicht streng chronologisch, sondern springt vor und zurück in der Handlung. Dabei verbinden sich die verschiedenen Ebenen sehr organisch, die einzelnen Erzählfäden werden immer wieder aufgegriffen. Er erzählt in einer klaren und präzisen Sprache, nüchtern und schnörkellos. Dabei entwickelt das Buch einen Lesesog, dem ich mich kaum entziehen konnte.
Roland Baines ist eine Figur, die mir am Ende richtiggehend ans Herz gewachsen ist. Mag er gesellschaftlich eher auf der Verliererseite stehen, so ist er menschlich gereift.
Aber auch die ganz privaten Themen, die im Leben dieses Anti- Helden eine Rolle spielen, sind von allgemeiner Gültigkeit. Über Kindererziehung, Beziehungsfragen, dem Verhältnis zu den Eltern, über das Alter, Krankheit und Tod macht sich Roland seine Gedanken und der Leser vergleicht mit seinen eigenen Erfahrungen.
Dies ist McEwans umfangreichster Roman, aber auch sein persönlichster. Nicht nur teilen der Autor und seine Hauptfigur dasselbe Geburtsjahr und denselben Geburtsort, es lassen sich zahlreiche weitere Parallelen zu McEwans eigener Biographie finden. Seine Kindheit in Libyen als Sohn eines Offiziers, seine Jahre im Internat, seine Erfahrungen beim Fall der Berliner Mauer fließen in den Roman ein. Auch McEwan erfuhr erst nach dem Tod seiner Mutter, dass es einen älteren Bruder gab, der bei Adoptiveltern aufgewachsen ist. Nur eine solche Klavierlehrerin gab es nicht.
Der Roman ist für mich ein klassisches Alterswerk. McEwan hat hier alles reingepackt, was ihm das Leben als Lektionen erteilt hat. Dazu passt der versöhnliche Ton im Privaten und die Skepsis, was die Weltlage betrifft. Ein Meisterwerk!