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Lektüre ist der schöne Glücksfall der Vorstellung von Literatur durch einen Schriftsteller.In den sechziger Jahren hat Stephan Hermlin im Deutschlandsender regelmäßig - bis die Sendung zensiert wurde - Bücher vorgestellt. Die Sendung wurde von vielen in der DDR gehört: sie war ein seltenes Beispiel für Mut, Literaturkenntnis, Würde.Das daraus entstandene, lange vergriffene Buch wurde hier wieder zugänglich gemacht, erweitert um einige Texte, einem Vorwort und ausführlichen Literaturhinweisen.

Produktbeschreibung
Lektüre ist der schöne Glücksfall der Vorstellung von Literatur durch einen Schriftsteller.In den sechziger Jahren hat Stephan Hermlin im Deutschlandsender regelmäßig - bis die Sendung zensiert wurde - Bücher vorgestellt. Die Sendung wurde von vielen in der DDR gehört: sie war ein seltenes Beispiel für Mut, Literaturkenntnis, Würde.Das daraus entstandene, lange vergriffene Buch wurde hier wieder zugänglich gemacht, erweitert um einige Texte, einem Vorwort und ausführlichen Literaturhinweisen.
Autorenporträt
Stephan Hermlin wurde 1915 in Chemnitz geboren. 1931 schloß er sich den Kommunisten an, arbeitete nach 1933 drei Jahre im Untergrund, bevor nach Frankreich emigrierte und sich der Resistance anschloß. Nach dem Krieg kehrte er nach Deutschland zurück, zunächst nach Frankfurt am Main, wo er als Rundfunkredakteur arbeitete. 1947 zog er nach Ost-Berlin, wurde SED-Mitglied und Mitarbeiter der Zeitschriften "Aufbau" und "Ulenspiegel". Der Lyriker, Prosaautor und Übersetzer (unter anderem Nerudas und Aragons) wurde rasch einer der wichtigsten DDR-Autoren, der als Mitglied des PEN und als Teilnehmer vieler Kongresse auch international sehr präsent war. 1976 gehörte er zu den Unterzeichnern des Protestschreibens gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Fünf Jahre später organisierte er das vielbeachtete Treffen ost- und westdeutscher Schriftsteller in Ost-Berlin. Hermlin starb 1997 in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.1997

Hochfahrende Treue
Was Stephan Hermlin gern las · Von Friedrich Dieckmann

Stephan Hermlin ist zu DDR-Zeiten niemals eine Gesamtausgabe beschieden gewesen. Auch Klaus Wagenbach, der Hermlin in den sechziger Jahren für seinen Verlag entdeckte (der Autor, der es mit den Kultur-Administratoren der Ulbricht-Ära gründlich verdorben hatte, war zu dieser Zeit faktisch verlagslos), ist nicht zu gesammelten Werken vorgestoßen. Doch haben die Editionen, die Wagenbach, seit 1990 im Alleinbesitz der Verlagsrechte, in den letzten Jahren von diesem Autor veranstaltete, den Charakter einer Werkausgabe letzter Hand; so sind 1995, zum achtzigsten Geburtstag, sämtliche Erzählungen Hermlins in einem Vierhundert-Seiten-Band erschienen und im gleichen Jahr eine Sammlung politischer Prosa.

Als letztes Buch, an dessen Vorbereitung der Autor teilnahm (das Vorwort, das er ihm mit auf den Weg gab, ist sein letzter veröffentlichter Text), ist jetzt "Lektüre" erschienen, eine Sammlung von neununddreißig Aufsätzen "über Autoren, Bücher, Leser", deren Spannweite von Villon bis zu Bobrowski reicht; sie verdanken ihre Entstehung fast alle einer Sendereihe im Ost-Berliner Deutschlandsender. Vier Jahre lang, von Ende 1964 bis Anfang 1969, gelang es dem Autor, von dieser Stelle aus seinen Begriff von Literatur zur Geltung zu bringen, der ein anderer war als jener, der unter dem Losungswort vom sozialistischen Realismus die Fuchtel der Doktrinäre war; Anfang 1969 brach er die Mitwirkung ab, als er bemerkte, daß der Sender hinter seinem Rücken eine Textkürzung vorgenommen hatte. Der Vorgang war symptomatisch für das sich nach dem Eiswind, der über den Prager Frühling gefahren war, verschärfende kulturpolitische Klima.

Im Mai 1968 hatte die Zeitschrift "Sinn und Form" begonnen, einige dieser Porträts zu veröffentlichen; neunzehn der in "Lektüre" gesammelten Texte sind zuerst dort erschienen. 1973 gab sie der Aufbau-Verlag gesammelt heraus und fügte noch einige Auszüge aus Interviews und Gesprächen hinzu, in denen des Autors Distanz zu der ästhetischen Dogmatik der sechziger Jahre unverblümt zum Ausdruck gekommen war. Das Erscheinen des Bandes, den der Suhrkamp Verlag ein Jahr später größtenteils übernahm, war charakteristisch für die kulturpolitische Lockerung, mit der Honecker sich nach Ulbrichts Sturz von seinem Amtsvorgänger abgesetzt hatte; Hermlin wurde als Vorkämpfer einer ästhetischen Revision kenntlich.

Er ging über sie hinaus, als er der parteieigenen Lehre von den zwei deutschen Literaturen eine Abfuhr erteilte und nur einen Unterschied gelten ließ: den zwischen Literatur und Nicht-Literatur. Niemals mischen sich bei ihm ideologische Floskeln oder gar Kriterien in die Bewertung von Büchern ein, doch kennt er einen Feind: den Nationalsozialismus. Zwei Hauptstücke der Sammlung gelten Büchern über den Genozid an den Juden; von Heinz Seydels 1968 in Ost-Berlin erschienener Anthologie von "Gedichten in deutscher Sprache, die der deutschen Judenverfolgung gelten", spricht das eine, das andere von Jean-François Steiners Buch über Treblinka, "die geheimnisvollste, entlegenste und vielleicht perfekteste Mordeinrichtung der deutschen Faschisten", und den Aufstand der Häftlinge gegen "diese vollendete Mordstätte".

Mit Attila József, dem großen ungarischen Lyriker, beginnt der schön gedruckte Wagenbach-Band, mit dem Blick auf eine Erich-Arendt-Ausstellung endet er. Aber solche Bücher liest man nicht von Anfang bis Ende; man schlägt sie irgendwo auf und erlebt dann wohl, daß man nicht weiterkommt, zu den Büchern greifend (oder sie suchend), die dieser fühlsame Leser vorstellt. Mit einer an Hofmannsthal geschulten Sprach- und Schilderungskunst setzt er seine Bücherlust in Szene und gewinnt den Dichtern seiner Wahl Leser und Wieder-Leser.

Chateaubriand gehört zu ihnen, auf dessen Memoiren Hermlin anhand einer Münchner Ausgabe aus dem Jahre 1968 zu sprechen kommt; sein Bücherblick ist nicht auf einheimische Editionen beschränkt. "Den Namen des Mannes findet man heutzutage außerhalb Frankreichs vor allem auf Speisekarten", hebt sein Kommentar an, der im folgenden Absatz Marx' Brief-Verdikt über diesen Autor präsentiert, um im dritten Chateaubriands Erinnerungen "ein hochbedeutendes, sogar einzigartiges Buch" zu nennen, obschon es "im historischen Sinne nur in beschränktem Maße stichhaltig" sei. Das Timbre, das der Kommentator seinen Zitaten gibt, läßt erkennen, wie nah er sich diesem als Reaktionär verfemten Autor fühlt. "Niemals war es mir möglich, Zurückhaltung und jenes innere Alleinsein zu überwinden, das mich hindert, von dem zu reden, was mich anrührt", wird der Memoirenschreiber Chateaubriand berufen und: "Bin ich auch aufrichtig, so mangelt es mir doch an Offenheit des Herzens: meine Seele strebt immer danach, sich zu verschließen." Aber auch einen anderen Satz hebt Hermlin heraus, der 1841 im Rückblick auf die Französische Revolution geschrieben wurde: "Nach zweiundfünfzig Jahren errichtet man fünfzehn Bastillen, um jene Freiheit zu unterdrücken, um derentwillen man die erste Bastille zerstörte."

Aus diesen Porträt-Miszellen spricht kein Literaturkritiker und kein Apologet; Liebe und Kennerschaft werben um Bücher, um Autoren, die ihnen wichtig sind. Nur selten geht der Lichtkegel der Betrachtung hinter das zwanzigste Jahrhundert zurück. Villon und Mozart, der Briefschreiber, sind Ausnahmen ebenso wie Beckford, der Autor des phantastischen Romans "Vathek", den Hermlin als "Findling in der literarischen Landschaft" bezeichnet, oder Ambrose Bierce, dessen Pessimismus er verteidigt. "Der Chronist einer neuen Apokalypse" sei dieser Autor, seine Prosastücke "Reportagen von den Katalaunischen Feldern".

Es sind die Schwierigen, die Entlegenen, die den Autor vornehmlich fesseln. An Trakl, Heym, Else Lasker-Schüler gewinnt seine Porträtkunst eine besondere Intensität. Von den Weggefährten treten Becher und Rudolf Leonhard, Fühmann und Bobrowski ins Licht, dem Hermlin 1965 die Grabrede hält. Lyriker erscheinen bevorzugt: Neruda, Machado und Hernández, Verlaine, Eluard, Aragon und Majakowski. Doch ist Thomas Mann keineswegs vergessen; schon 1960 hatte ihm eine Huldigung des Autors gegolten. Der vom Verlag mit einigen schwer erschließbaren Anmerkungen (es fehlen die Seitenangaben) versehene Band enthält die Texte der Ausgabe von 1971 in unveränderter Reihenfolge, verzichtet aber auf die Gesprächsausschnitte und fügt statt dessen fünf nach 1973 entstandene Texte ein, darunter einen Nachruf auf Peter Huchel, der Anfang und Ende einer engen Beziehung in Sicht bringt.

Im Herbst 1962, als Huchel als Leiter der Zeitschrift "Sinn und Form" zurücktritt, steht Hermlin an seiner Seite und wird im folgenden Jahr selbst als Akademie-Sekretär abgesetzt; dann schleicht sich eine Entfremdung ein, die sich als unbehebbar erweist. "Aber gerade er, der mich geehrt hatte, tat mir später unrecht", schreibt der Zurückblickende, "und gerade zu einer Zeit, da ich seiner Hilfe besonders bedurfte. Vielleicht bedurfte er auch der meinen, aber auf unbegreifliche Weise war eine Freundschaft zerbrochen, die fest gegründet schien." Und zuletzt: "Jetzt, da ich ihm ins Nichts nachschaue, finde ich keinen Rest des langen, sinnlosen Grolls mehr in mir."

Hermlins Verletzlichkeit scheint hier auf, die durch eine Situation ständigen Verkanntseins verschärft wurde, die er in gewisser Weise selbst bewirkte durch eine Art hochfahrender Treue zu eben der Partei, mit deren Beschränktheit und Aggressivität er lebenslang nicht nur im Zwist, sondern geradezu im Krieg lag. Diese Treue, der 1956, dem Jahr der Chruschtschowschen Enthüllungen, der Glaube dauerhaft abhanden gekommen war, wurzelte, so denke ich mir, im Schutzbedürfnis dessen, der nie vergaß, daß er es den Armeen des kommunistischen Rußlands zu verdanken hatte, daß er in seine Heimat hatte zurückkehren können.

Ein kurzer Text am Ende von Hermlins gesammelten Erzählungen - er ist von der Intensität eines Prosagedichts - zeigt unter der Moosbacher Linde im Angesicht der Wartburg eine Gestalt, in der man den sich selbst ins Auge fassenden Autor erkennt. "Ich hatte einst ein schönes Vaterland", hatte Heinrich Heine im Pariser Exil geschrieben; der Text des vierundsiebzigjährigen Stephan Hermlin wandelt den Vers gleichsam ab: Ich habe doch ein schönes Vaterland . . . Der dort in eine als hold beschriebene Landschaft blickt, gemahnt an den dem Hörselberg entronnenen Tannhäuser, wie er dem flöteblasenden Hirten lauscht, ehe die Hofgesellschaft ihn wieder an sich und in ihre Kunstprojekte zieht. Aber nicht die sanguinische Tannhäuser-Rolle war die seine, sondern die Wolfram von Eschenbachs, des melancholischen Vermittlers, der die Risse zu mildern, die Widersprüche zu überbrücken sucht. Es war seine Rolle bis hin zu jenem fehlschlagenden Fürstenappell (und darüber hinaus), der den neuen Tannhäuser, den verbannten Liedermacher, in die Wartburg-Zone zurückzuholen versuchte.

Die Spannung, die diese Porträts und Miszellen durchzieht, hat mit einer Widerständigkeit zu tun, die wie ein stilles Feuer in ihnen glüht. Ende der siebziger Jahre ließ Hermlin ein Deutsches Lesebuch folgen, das ein Streifzug durch vier Jahrhunderte deutscher Literatur war; auch dies Buch verdiente, dem heutigen Leser wieder zugänglich gemacht zu werden.

Stephan Hermlin: "Lektüre". Über Autoren, Bücher, Leser. Wagenbach Verlag, Berlin 1997. 224 S., br., 22,80 DM.

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