Produktdetails
- Verlag: Klett
- ISBN-13: 9783129223666
- ISBN-10: 3129223665
- Artikelnr.: 23937164
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2002Nachlese zu Schlinks "Vorleser"
Deutsche Literatur, so wird immer wieder geklagt, lasse sich schlecht exportieren. Tatsächlich werden im Ausland immer dieselben Namen genannt, wenn es um deutsche Autoren seit 1945 geht: Günter Grass, Patrick Süskind und neuerdings Bernhard Schlink. Während die literarischen Qualitäten der "Blechtrommel", auch des "Parfüms" unumstritten sind, scheiden sich an Bernhard Schlinks "Vorleser" die Geister - heute offenbar noch mehr als beim Erscheinen des Buches 1995. Der Roman schildert die Liebesgeschichte des fünfzehnjährigen Michael Berg mit der gut zwanzig Jahre älteren Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz im Deutschland der fünfziger Jahre. Nach einer über Monate währenden Affäre mit dem Jungen verschwindet die Geliebte. Jahre später sieht der junge Mann sie in einem Gerichtssaal wieder: Sie ist angeklagt, als Lageraufseherin an dem Massenmord jüdischer Frauen beteiligt gewesen zu sein. Berg, der dem Prozeß als Jurastudent beiwohnt, begreift, daß Hanna Schmitz Analphabetin ist, und er interpretiert ihre Verbrechen als Kaschierungsversuche dieser Schwäche: "Sie kämpfte nicht nur im Prozeß. Sie kämpfte immer und hatte immer gekämpft, nicht um zu zeigen, was sie kann, sondern um zu verbergen, was sie nicht kann."
Schlinks schmaler Roman, der sich seit 1995 mehr als 500 000mal in Deutschland verkauft hat, wurde von hymnischen Kritiken begleitet. Auch in den Vereinigten Staaten erreichte das Buch mittlerweile eine Auflage von über 750 000, in Großbritannien immerhin von 200 000 Exemplaren. Nun ist auch Schlinks Erzählungsband "Liebesfluchten" (deutsch 2000) in Großbritannien erschienen - und auf einmal wird "Der Vorleser" neu zur Diskussion gestellt. Auf eine insgesamt freundliche Rezension des neuen Buches im "Times Literary Supplement" (TLS) antworteten entrüstete Leserbriefe, die vor allem auf den "Vorleser" eingingen. Der Schriftsteller Gabriel Josipovici klagte, es sei ein "schlecht geschriebenes, sentimentales und moralisch empörendes Buch". Josipovici fragte auch, warum "so viele intelligente Menschen, darunter auch viele Juden", diesen Roman so "ergreifend und tiefgründig" fänden. Jeremy Adler, Germanist am Londoner King's College und Sohn von Hans G. Adler, dem Verfasser von "Theresienstadt 1941-1945", hat eine Antwort: Der Roman impliziere eine Verbindung zwischen Kultur und Barbarei, indem er den Leser glauben lasse, daß Hanna Schmitz vor allem aufgrund ihrer Ungebildetheit zur Mörderin werden konnte. Weil sie später im Gefängnis lesen lernt und dann vor allem Bücher über den Holocaust studiert, Primo Levi und Hannah Arendt, erscheine sie fast wie eine Heilige. Der Leser solle sich in seinem Glauben an "die erlösende Kraft der Literatur" bestätigt finden. Adler bezeichnet den Roman als ein "Kitschbild, das an die Propaganda der Nazis erinnert".
Nachdenklich stimmt, warum es erst jetzt zu dieser Art von Kritik kommt. Noch vor wenigen Jahren hatte George Steiner empfohlen, man möge das Buch "lesen und wiederlesen". Heute erklärt Frank Finlay, Professor für Germanistik in Leeds, Schlinks Roman habe wohl auch deshalb in der englischsprachigen Welt so großen Erfolg gehabt, weil seine schlichte, unkomplizierte Art "eher angelsächsisch" anmute. Zum Erfolg des Buches in England dürfte aber auch beigetragen haben, daß ein deutscher Autor Verständnis für eine Nazi-Täterin aufbringt. Es fallen einem auch manche angelsächsische Bücher ein, die wohl anders aufgenommen worden wären, wenn ihre Autoren Deutsche gewesen wären - Robert Harris' "Fatherland" und "Enigma", aber auch Kressmann Taylors fiktiver Briefwechsel "Adressat unbekannt" sind als Bücher deutscher Autoren schwer vorstellbar. Ein interessanter Fall in diesem Zusammenhang ist die in Berlin lebende Deutsch-Australierin Rachel Seiffert, die ihren Roman "Die dunkle Kammer" auf englisch geschrieben und zunächst in Großbritannien veröffentlicht hat, wo ihre Geschichte von Menschen, die im Nationalsozialismus Mörder und reizende Verwandte zugleich waren, sogar in die engere Auswahl für den Booker-Preis gekommen ist.
Auch Schlink wurde zunächst gefeiert. Nun hat ihn doch noch eingeholt, was nicht zuletzt durch den Erfolg seines Romans überwunden schien: Das Diktum, daß nur ausländische Autoren frei über alle Aspekte der deutschen Vergangenheit verfügen dürfen.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deutsche Literatur, so wird immer wieder geklagt, lasse sich schlecht exportieren. Tatsächlich werden im Ausland immer dieselben Namen genannt, wenn es um deutsche Autoren seit 1945 geht: Günter Grass, Patrick Süskind und neuerdings Bernhard Schlink. Während die literarischen Qualitäten der "Blechtrommel", auch des "Parfüms" unumstritten sind, scheiden sich an Bernhard Schlinks "Vorleser" die Geister - heute offenbar noch mehr als beim Erscheinen des Buches 1995. Der Roman schildert die Liebesgeschichte des fünfzehnjährigen Michael Berg mit der gut zwanzig Jahre älteren Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz im Deutschland der fünfziger Jahre. Nach einer über Monate währenden Affäre mit dem Jungen verschwindet die Geliebte. Jahre später sieht der junge Mann sie in einem Gerichtssaal wieder: Sie ist angeklagt, als Lageraufseherin an dem Massenmord jüdischer Frauen beteiligt gewesen zu sein. Berg, der dem Prozeß als Jurastudent beiwohnt, begreift, daß Hanna Schmitz Analphabetin ist, und er interpretiert ihre Verbrechen als Kaschierungsversuche dieser Schwäche: "Sie kämpfte nicht nur im Prozeß. Sie kämpfte immer und hatte immer gekämpft, nicht um zu zeigen, was sie kann, sondern um zu verbergen, was sie nicht kann."
Schlinks schmaler Roman, der sich seit 1995 mehr als 500 000mal in Deutschland verkauft hat, wurde von hymnischen Kritiken begleitet. Auch in den Vereinigten Staaten erreichte das Buch mittlerweile eine Auflage von über 750 000, in Großbritannien immerhin von 200 000 Exemplaren. Nun ist auch Schlinks Erzählungsband "Liebesfluchten" (deutsch 2000) in Großbritannien erschienen - und auf einmal wird "Der Vorleser" neu zur Diskussion gestellt. Auf eine insgesamt freundliche Rezension des neuen Buches im "Times Literary Supplement" (TLS) antworteten entrüstete Leserbriefe, die vor allem auf den "Vorleser" eingingen. Der Schriftsteller Gabriel Josipovici klagte, es sei ein "schlecht geschriebenes, sentimentales und moralisch empörendes Buch". Josipovici fragte auch, warum "so viele intelligente Menschen, darunter auch viele Juden", diesen Roman so "ergreifend und tiefgründig" fänden. Jeremy Adler, Germanist am Londoner King's College und Sohn von Hans G. Adler, dem Verfasser von "Theresienstadt 1941-1945", hat eine Antwort: Der Roman impliziere eine Verbindung zwischen Kultur und Barbarei, indem er den Leser glauben lasse, daß Hanna Schmitz vor allem aufgrund ihrer Ungebildetheit zur Mörderin werden konnte. Weil sie später im Gefängnis lesen lernt und dann vor allem Bücher über den Holocaust studiert, Primo Levi und Hannah Arendt, erscheine sie fast wie eine Heilige. Der Leser solle sich in seinem Glauben an "die erlösende Kraft der Literatur" bestätigt finden. Adler bezeichnet den Roman als ein "Kitschbild, das an die Propaganda der Nazis erinnert".
Nachdenklich stimmt, warum es erst jetzt zu dieser Art von Kritik kommt. Noch vor wenigen Jahren hatte George Steiner empfohlen, man möge das Buch "lesen und wiederlesen". Heute erklärt Frank Finlay, Professor für Germanistik in Leeds, Schlinks Roman habe wohl auch deshalb in der englischsprachigen Welt so großen Erfolg gehabt, weil seine schlichte, unkomplizierte Art "eher angelsächsisch" anmute. Zum Erfolg des Buches in England dürfte aber auch beigetragen haben, daß ein deutscher Autor Verständnis für eine Nazi-Täterin aufbringt. Es fallen einem auch manche angelsächsische Bücher ein, die wohl anders aufgenommen worden wären, wenn ihre Autoren Deutsche gewesen wären - Robert Harris' "Fatherland" und "Enigma", aber auch Kressmann Taylors fiktiver Briefwechsel "Adressat unbekannt" sind als Bücher deutscher Autoren schwer vorstellbar. Ein interessanter Fall in diesem Zusammenhang ist die in Berlin lebende Deutsch-Australierin Rachel Seiffert, die ihren Roman "Die dunkle Kammer" auf englisch geschrieben und zunächst in Großbritannien veröffentlicht hat, wo ihre Geschichte von Menschen, die im Nationalsozialismus Mörder und reizende Verwandte zugleich waren, sogar in die engere Auswahl für den Booker-Preis gekommen ist.
Auch Schlink wurde zunächst gefeiert. Nun hat ihn doch noch eingeholt, was nicht zuletzt durch den Erfolg seines Romans überwunden schien: Das Diktum, daß nur ausländische Autoren frei über alle Aspekte der deutschen Vergangenheit verfügen dürfen.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.04.2002Die Kunst, Mitleid mit den Mördern zu erzwingen
Einspruch gegen ein Erfolgsbuch: Bernhard Schlinks „Der Vorleser” betreibt sentimentale Geschichtsfälschung / Von Jeremy Adler
Als Bernhard Schlinks „Der Vorleser” im Herbst 1997 in englischer Sprache erschien, erhielt der Roman auf beiden Seiten des Atlantik zunächst positive Kritiken. Denn hierzulande ist es üblich, über Debüts wohlwollend zu urteilen. Dieses Entgegenkommen wird oft auch unbekannten Autoren aus dem Ausland entgegengebracht. Wenn dem „Vorleser” erst heute, initiiert von Frederic Raphael, eine ernsthafte Debatte im Times Literary Supplement gewidmet wird, dann auch, weil das Buch in der Zwischenzeit ein internationaler Bestseller und sogar zur Pflichtlektüre in Schulen geworden ist. Der britische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Gabriel Josipovici meint daher zurecht, der Kritiker habe heute zu fragen: Warum ist dieses Buch so erfolgreich?
Fünf Jahre nach seinem Überraschungserfolg im angelsächischen Sprachraum ist Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser” in diesem Frühjahr in England zum Gegenstand einer heftigen Kontroverse geworden. Prominente Autoren, darunter die Schriftsteller Gabriel Josipovici und Frederic Raphael, stellten im „Times Literary Supplement” den literarischen Wert und die historische Zuverlässigkeit des Romans in Frage. Die schärfste Kritik am „Vorleser” formulierte der Germanist Jeremy Adler. Wir dokumentieren seinen Beitrag in einer überarbeiteten Fassung.
Es gibt wenige Romane, die man Bernhard Schlinks „Der Vorleser” an die Seite stellen könnte: Im Umgang mit Klischees, mit seiner Mischung von Halbwahrheiten und Verdrehungen steht er allein, und das um so deutlicher, als von empfindlichen Dingen die Rede ist. Sowohl der„plot” im ersten Teil des Romans als auch dessen Voraussetzung, die sexuelle Begegnung mit der ehemaligen SS-Wärterin eines Konzentrationslagers für Frauen, scheinen geradewegs einem erotischen Roman der fünfziger Jahre entnommen zu sein. Ein literarischer Vorläufer ist Erich Frieds Roman „Ein Soldat und ein Mädchen” (1960). Schlinks Leitmotiv, das Vergnügen der ungebildeten Wärterin, Meisterwerke der Dichtung vorgelesen zu bekommen, verkörpert auf groteske Weise die Frage, wie es möglich gewesen sei, dass eine Kultur, die Goethe und Schiller hervorgebracht habe, der Barbarei verfallen sei.
Die geläuterte Mörderin
In der ersten Hälfte des Buches, solange die ehemalige Wärterin den deutschen Klassikern lauscht, wird eine Verbindung zwischen „Kultur” und „Barbarei” suggeriert, in Gestalt einer ungewollten Persiflage auf die „Dialektik der Aufklärung” von Horkheimer und Adorno. Später, im Gefängnis, hört sie moderne Literatur einschließlich Kafka und lernt selbst lesen, vor allem die Literatur der Lager, einschließlich Primo Levi. Hier wird der Leser eingeladen, an eine Läuterung der Frau zu glauben. Die Massenmörderin wird als virtuelle Heilige präsentiert, der Leser dazu angehalten, die heilende Kraft der Dichtung zu bestätigen. In Bernhard Schlinks dialektischer Kaffeestube scheint man tatsächlich den Kuchen behalten zu dürfen, während man ihn verzehrt: nicht nur „alle menschlichen Gebrechen”, sondern „jedes Verbrechen” kann hier versöhnt werden.
Schlinks Versuch, diese These unter das Volk zu bringen, bedient sich einer offenbar durchschlagend erfolgreichen Form der Kulturpornographie. Tatsächlich ist diese Perspektive von vornherein festgelegt: durch den verhalten pornographischen Anfang, in dem die SS-Wärterin einen Schuljungen verführt.
Am Ende des Buches beruft der Erzähler sich auf die „Wahrheit”. Diese „Wahrheit” besteht indessen nur in seiner eigenen Arbeit: „So gibt es neben der Version, die ich geschrieben habe, viele andere. Die Gewähr dafür, daß die geschriebene die richtige ist, liegt darin, daß ich sie geschrieben und die anderen Versionen nicht geschrieben habe.” Dieser Zirkelschluss ist dem Autor von doppeltem Nutzen: Er macht jede Kritik unmöglich, und er befreit den Erzähler von aller Verantwortung: „Der Vorleser” hätte also nur eine virtuelle Realität. Weder die innere Stimmigkeit des Buches noch sein Verhältnis zur Geschichte sollen in Frage gestellt werden dürfen. Diese wirre Ästhetik durchdringt das ganze Buch, sie schafft eine Double-Bind-Situation und verstrickt den Leser in eine Erzählung, die logisch unmöglich, historisch falsch und moralisch pervers ist: Auf der einen Seite soll sie auf subjektiver Willkür gründen. Auf der anderen Seite nutzt der Erzähler ausgiebig bekannte Symbole und Verallgemeinerungen und suggeriert so, dass seine Geschichte von weitreichender Gültigkeit sei.
Der Roman steckt voller Unwahrscheinlichkeiten, schlechten Beschreibungen und mehr oder minder geringen Irrtümern, die den Leser dazu verleiten, die größeren Fehler hinzunehmen: ein Deutschland nach dem Krieg, das nicht von Bomben und Mangel gezeichnet ist. Eine Straßenbahnschaffnerin, die die Fahrkarten nicht lesen kann, die sie selbst verkauft. Ein Knabe, der „Krieg und Frieden” von der ersten bis zur letzten Seite laut vorliest, mit einer Geschwindigkeit von dreißig Seiten pro Stunde. Ein Todesmarsch, auf dem die SS die Schwachen nicht erschießt, sondern sich wie eine reguläre Einheit verhält und jeden Abend einen ordentlichen Bericht abliefert.
Stets weigert sich der Autor von „Der Vorleser”, seine Quellen ernst zu nehmen. So beruft sich der Erzähler zwar auf „Emilia Galotti”, aber sein Buch stellt die Botschaft dieses Dramas auf den Kopf: Lessings Stück handelt von der Herrschaft des Menschen über sich selbst, von der Macht und vom Verhältnis zwischen der Herrschaft über sich selbst und der Herrschaft über einen Staat. Aber diese Motive beachtet Bernhard Schlink nicht. Das Stück zeigt, wie ein Regierender mit Gewalt eine Untertanin dazu bringen will, seine Geliebte zu werden, was ihren Tod in einem finalen Akt der Selbstverteidigung zur Folge hat – ein Schluss, der im „Vorleser” mit leichter Hand abgewandelt wird. In Schlinks Variante verlieren die entscheidenden Motive von Schuld und Verantwortung sowie die Frage nach dem Verhältnis von persönlicher und staatlicher Macht ihre Bedeutung.
Wo Lessing mit großer Genauigkeit der Befehlskette nachspürt – wie später Solschenizyn im „Ersten Kreis” –, soll die Protagonistin gleichsam zufällig zu einem Mitglied der SS geworden sein. Auch konzentriert sich Schlink ganz besonders auf die rührseligen Selbstbezichtigungen des Erzählers. Im Unterschied zu Lessing oder Solschenizyn umgibt Schlink seine Figuren mit einem moralischen Vakuum. Und im Unterschied zu Lessings Versuch, Mitleid mit anderen zu wecken, ergeht sich Schlinks Erzähler in Selbstmitleid. Dieses Gefühl wird im moralischen Autismus gespiegelt, der den Erzähler befällt, in seiner Unfähigkeit, sich mit den Gefühlen anderer auseinander zu setzen, geschweige denn mit ihrem Leiden. Unfähig, zwischen „Schuld” und „Leiden” zu unterscheiden, besteht das einzige „Leiden”, das er sich vorstellen kann, im Trauma des deutschen Volkes nach dem Krieg.
Derselbe Zynismus bringt die Posen der Täter und die Schmach der Opfer durcheinander.: „Alle (!) Literatur der Überlebenden berichtet von der Betäubung, unter der die Funktionen des Lebens reduziert, das Verhalten teilnahms- und rücksichtslos und Vergasung und Verbrennung alltäglich vorgehen. ” Diese selbstgerechte Instrumentalisierung des Opfers ist praktisch ein Vorwurf an die Gefangenen, sich ihren Folterern unterworfen zu haben. Die komplexen Beziehungen zwischen unschuldigem Komplizentum und Bösartigkeit, die Lessing so sorgfältig prüft, sind hier gelöscht.
Indem Schlink ein einfaches, in sich geschlossenes Dasein als Opfer erfindet, macht er die historischen Tatsachen zu Spielmaterial. Primo Levi beschreibt, wie die selbstlose Menschlichkeit seines Freundes Lorenzo ihm das Leben rettet, weniger dadurch, dass er ihm etwas zu essen bringt als vielmehr, dass er durch seine Taten den Fortbestand des Guten bezeugt. Diese Formen des Widerstands sind keine Kleinigkeit. Sie sind zentrale Momente einer Erfahrung, die Schlinks Buch zu schildern vorgibt, aber bis zur Unkenntlichkeit verfälscht.
Mit den Nerven am Ende
Wenn Bernhard Schlink die SS beschreibt, offenbart er dieselbe Missachtung gegenüber den Tatsachen. Der Erzähler tritt mit der albernen Geste eines Fachmanns für die Verbrechen des Dritten Reiches auf, aber ihm fehlen offenbar elementare Kenntnisse: „Auch in den spärlichen Äußerungen der Täter begegnen (sic!) die Gaskammern und Verbrennungsöfen als alltägliche Umwelt ... ”. Hermann Langbein führt hingegen mehrere Fälle auf, in denen Mitglieder der SS Nervenzusammenbrüche erlitten, weil sie das Erlebte nicht ertragen konnten. Andere wurden wahnsinnig, und einer von diesen wurde selbst in die Gaskammer geworfen. Ein anderer kehrte vom Dienst an der Rampe zurück und sagte: „Mein Gott, was dort geschieht, das sind keine SS-Männer mehr, das sind Banditen, das sind Mörder!” Man sollte zum Vergleich auch die Zeugenaussage von Oswald Kaduk hinzuziehen, einem SS-Rapportführer und, nach Aussage eines Internierten, „dem gefürchtetsten Mann im Lager”: „In Auschwitz war ich mit den Nerven völlig am Ende. Wenn sie solche Aktionen sehen, dann sind sie auch schockiert. ” Eichmann selbst sagte in Argentinie, er sei fast in Ohnmacht gefallen, als er die Leichenberge in Auschwitz gesehen habe, aber: „Es hätte sich schlecht gemacht, wäre ich dort in Ohnmacht gefallen...”.
Dass Schlink historische Ereignisse durch die Subjektivität eines Erzählers filtert, bis sie jede Verbindung mit dem tatsächlichen Geschehen verloren haben, gilt auch für das Kriegsverbrecherverfahren, das im Roman auf groteske Weise geschildert wird.
In seiner gepflegten Distanz gegenüber dem Grauen unterscheidet es sich gründlichen von allen derartigen Verfahren, die tatsächlich stattgefunden haben. Im Unterschied zum Frankfurter Auschwitz-Prozess wird in diesem Verfahren die entscheidende Rolle der Angeklagten bei der Selektion der Opfer bagatellisiert. Statt dessen konzentriert sich das Verfahren ungerechtfertigt auf eine einzelne Episode: Die Gefangenen flüchten während es Todesmarsches in eine Kirche, die von Alliierten bombardiert wird, und kommen so ums Leben. Die SS, so verstehen wir, wären eigentlich die Retter ihrer Gefangenen gewesen. Wieder appelliert Schlink an unser Mitleid für die Mitglieder der SS. Wer hätte gedacht, dass es mit Lessings „Poetik des Mitleids” ein solches Ende nehmen würde?
Albernerweise heißt es über Schlinks Massenmörderin weiter, sie habe für ihre eigene Wahrheit gekämpft, ihre eigene Gerechtigkeit . Soll diese Wahrheit wichtiger sein als die ihrer Opfer? In diesem Buch soll es offenbar keinen Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrheit und Lüge mehr geben.
Leser, die sich für die Psychologie einer tatsächlichen Mörderin interessieren, können im SZ-Magazin vom 13. Dezember 1996 nachschlagen. Dort werden sie ein mögliches Muster für Schlinks Protagonistin finden, allerdings in einer völlig anderen Fassung. Es geht in diesem Bericht um den Majdanek- Prozess von 1975 bis 1981, um das einzige Verfahren, in dem SS-Wärterinnen auf deutschem Boden angeklagt wurden – genauer um Hermine Braunsteiner, stellvertretende Schutzhaftlagerführerin und später Oberaufseherin der SS. Während des Verfahrens löste sie Kreuzworträtsel. Wie Schlinks Heldin ergeht sie sich in Selbstmitleid und attackiert ihre Ankläger. Tatsächlich unterscheidet sich ihre Vorstellung von Geschichte, in der Majdanek schlicht ein „Umschulungslager” gewesen sein soll, nicht sehr von den Ereignissen in „Der Vorleser”.
Ein Höhepunkt in Roman – und eine Szene, von der die ganze Beweisführung abhängt – ist der Augenblick, in dem Schlinks Heldin ihren Richter fragt, was „er” an ihrer Stelle bei den „Selektionen” getan hätte. Durch diese Episode wird der Eindruck erweckt, sie habe in einem Befehlsnotstand gehandelt. Dass es aber möglich war, sich anders zu verhalten, bestätigt der ehemalige Unterscharführer Friedrich Althaus: „Man konnte Mensch bleiben und sich weigern.”
Schlinks postmoderner Brei ist nicht nur deshalb so ungenießbar, weil er eine ernsthafte Auseinandersetzung zu sein beansprucht, während er tatsächlich eine Travestie der Wahrheit darstellt. Er ist so abstoßend, weil er auf tückische, pornographische Weise aus menschlichen Nöten und Schwächen Kapital schlägt. Warum aber ist dieses Buch dann so erfolgreich? Zum Teil, weil es die Geschichte so vereinfacht, dass sie breiten Leserschichten entgegenkommt, von mitleidigen Liberalen, denen es lieber gewesen wäre, wenn die Auslöschung des europäischen Judentums weniger grausam verlaufen wäre, bis zu verkappten Nationalsozialisten, die gerne behaupten, das große Verbrechen habe gar nicht stattgefunden.
Zum Teil aber auch, weil wir uns allzu gern mit dem gegenwärtigen Modischen und stets Wohlfeilen, mit der Anteilnahme für die Opfer begnügen. Und schließlich, weil diese Kulturpornographie es besonders geschickt anstellt, indem sie ernsthafte moralische Einsichten zu bieten beansprucht. Das Buch ist ein betrüblicher Kommentar zu unserer verkehrten Welt, dass dieser Reißer von einem deutschen Richter ausgebrütet wurde.
Deutsch von Thomas Steinfeld
Die Vorleserin: Magda Goebbels mit ihren fünf Kindern Helga, Helmuth, Hedda, Hilde und Holde.
Foto: SZ-Archiv
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Einspruch gegen ein Erfolgsbuch: Bernhard Schlinks „Der Vorleser” betreibt sentimentale Geschichtsfälschung / Von Jeremy Adler
Als Bernhard Schlinks „Der Vorleser” im Herbst 1997 in englischer Sprache erschien, erhielt der Roman auf beiden Seiten des Atlantik zunächst positive Kritiken. Denn hierzulande ist es üblich, über Debüts wohlwollend zu urteilen. Dieses Entgegenkommen wird oft auch unbekannten Autoren aus dem Ausland entgegengebracht. Wenn dem „Vorleser” erst heute, initiiert von Frederic Raphael, eine ernsthafte Debatte im Times Literary Supplement gewidmet wird, dann auch, weil das Buch in der Zwischenzeit ein internationaler Bestseller und sogar zur Pflichtlektüre in Schulen geworden ist. Der britische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Gabriel Josipovici meint daher zurecht, der Kritiker habe heute zu fragen: Warum ist dieses Buch so erfolgreich?
Fünf Jahre nach seinem Überraschungserfolg im angelsächischen Sprachraum ist Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser” in diesem Frühjahr in England zum Gegenstand einer heftigen Kontroverse geworden. Prominente Autoren, darunter die Schriftsteller Gabriel Josipovici und Frederic Raphael, stellten im „Times Literary Supplement” den literarischen Wert und die historische Zuverlässigkeit des Romans in Frage. Die schärfste Kritik am „Vorleser” formulierte der Germanist Jeremy Adler. Wir dokumentieren seinen Beitrag in einer überarbeiteten Fassung.
Es gibt wenige Romane, die man Bernhard Schlinks „Der Vorleser” an die Seite stellen könnte: Im Umgang mit Klischees, mit seiner Mischung von Halbwahrheiten und Verdrehungen steht er allein, und das um so deutlicher, als von empfindlichen Dingen die Rede ist. Sowohl der„plot” im ersten Teil des Romans als auch dessen Voraussetzung, die sexuelle Begegnung mit der ehemaligen SS-Wärterin eines Konzentrationslagers für Frauen, scheinen geradewegs einem erotischen Roman der fünfziger Jahre entnommen zu sein. Ein literarischer Vorläufer ist Erich Frieds Roman „Ein Soldat und ein Mädchen” (1960). Schlinks Leitmotiv, das Vergnügen der ungebildeten Wärterin, Meisterwerke der Dichtung vorgelesen zu bekommen, verkörpert auf groteske Weise die Frage, wie es möglich gewesen sei, dass eine Kultur, die Goethe und Schiller hervorgebracht habe, der Barbarei verfallen sei.
Die geläuterte Mörderin
In der ersten Hälfte des Buches, solange die ehemalige Wärterin den deutschen Klassikern lauscht, wird eine Verbindung zwischen „Kultur” und „Barbarei” suggeriert, in Gestalt einer ungewollten Persiflage auf die „Dialektik der Aufklärung” von Horkheimer und Adorno. Später, im Gefängnis, hört sie moderne Literatur einschließlich Kafka und lernt selbst lesen, vor allem die Literatur der Lager, einschließlich Primo Levi. Hier wird der Leser eingeladen, an eine Läuterung der Frau zu glauben. Die Massenmörderin wird als virtuelle Heilige präsentiert, der Leser dazu angehalten, die heilende Kraft der Dichtung zu bestätigen. In Bernhard Schlinks dialektischer Kaffeestube scheint man tatsächlich den Kuchen behalten zu dürfen, während man ihn verzehrt: nicht nur „alle menschlichen Gebrechen”, sondern „jedes Verbrechen” kann hier versöhnt werden.
Schlinks Versuch, diese These unter das Volk zu bringen, bedient sich einer offenbar durchschlagend erfolgreichen Form der Kulturpornographie. Tatsächlich ist diese Perspektive von vornherein festgelegt: durch den verhalten pornographischen Anfang, in dem die SS-Wärterin einen Schuljungen verführt.
Am Ende des Buches beruft der Erzähler sich auf die „Wahrheit”. Diese „Wahrheit” besteht indessen nur in seiner eigenen Arbeit: „So gibt es neben der Version, die ich geschrieben habe, viele andere. Die Gewähr dafür, daß die geschriebene die richtige ist, liegt darin, daß ich sie geschrieben und die anderen Versionen nicht geschrieben habe.” Dieser Zirkelschluss ist dem Autor von doppeltem Nutzen: Er macht jede Kritik unmöglich, und er befreit den Erzähler von aller Verantwortung: „Der Vorleser” hätte also nur eine virtuelle Realität. Weder die innere Stimmigkeit des Buches noch sein Verhältnis zur Geschichte sollen in Frage gestellt werden dürfen. Diese wirre Ästhetik durchdringt das ganze Buch, sie schafft eine Double-Bind-Situation und verstrickt den Leser in eine Erzählung, die logisch unmöglich, historisch falsch und moralisch pervers ist: Auf der einen Seite soll sie auf subjektiver Willkür gründen. Auf der anderen Seite nutzt der Erzähler ausgiebig bekannte Symbole und Verallgemeinerungen und suggeriert so, dass seine Geschichte von weitreichender Gültigkeit sei.
Der Roman steckt voller Unwahrscheinlichkeiten, schlechten Beschreibungen und mehr oder minder geringen Irrtümern, die den Leser dazu verleiten, die größeren Fehler hinzunehmen: ein Deutschland nach dem Krieg, das nicht von Bomben und Mangel gezeichnet ist. Eine Straßenbahnschaffnerin, die die Fahrkarten nicht lesen kann, die sie selbst verkauft. Ein Knabe, der „Krieg und Frieden” von der ersten bis zur letzten Seite laut vorliest, mit einer Geschwindigkeit von dreißig Seiten pro Stunde. Ein Todesmarsch, auf dem die SS die Schwachen nicht erschießt, sondern sich wie eine reguläre Einheit verhält und jeden Abend einen ordentlichen Bericht abliefert.
Stets weigert sich der Autor von „Der Vorleser”, seine Quellen ernst zu nehmen. So beruft sich der Erzähler zwar auf „Emilia Galotti”, aber sein Buch stellt die Botschaft dieses Dramas auf den Kopf: Lessings Stück handelt von der Herrschaft des Menschen über sich selbst, von der Macht und vom Verhältnis zwischen der Herrschaft über sich selbst und der Herrschaft über einen Staat. Aber diese Motive beachtet Bernhard Schlink nicht. Das Stück zeigt, wie ein Regierender mit Gewalt eine Untertanin dazu bringen will, seine Geliebte zu werden, was ihren Tod in einem finalen Akt der Selbstverteidigung zur Folge hat – ein Schluss, der im „Vorleser” mit leichter Hand abgewandelt wird. In Schlinks Variante verlieren die entscheidenden Motive von Schuld und Verantwortung sowie die Frage nach dem Verhältnis von persönlicher und staatlicher Macht ihre Bedeutung.
Wo Lessing mit großer Genauigkeit der Befehlskette nachspürt – wie später Solschenizyn im „Ersten Kreis” –, soll die Protagonistin gleichsam zufällig zu einem Mitglied der SS geworden sein. Auch konzentriert sich Schlink ganz besonders auf die rührseligen Selbstbezichtigungen des Erzählers. Im Unterschied zu Lessing oder Solschenizyn umgibt Schlink seine Figuren mit einem moralischen Vakuum. Und im Unterschied zu Lessings Versuch, Mitleid mit anderen zu wecken, ergeht sich Schlinks Erzähler in Selbstmitleid. Dieses Gefühl wird im moralischen Autismus gespiegelt, der den Erzähler befällt, in seiner Unfähigkeit, sich mit den Gefühlen anderer auseinander zu setzen, geschweige denn mit ihrem Leiden. Unfähig, zwischen „Schuld” und „Leiden” zu unterscheiden, besteht das einzige „Leiden”, das er sich vorstellen kann, im Trauma des deutschen Volkes nach dem Krieg.
Derselbe Zynismus bringt die Posen der Täter und die Schmach der Opfer durcheinander.: „Alle (!) Literatur der Überlebenden berichtet von der Betäubung, unter der die Funktionen des Lebens reduziert, das Verhalten teilnahms- und rücksichtslos und Vergasung und Verbrennung alltäglich vorgehen. ” Diese selbstgerechte Instrumentalisierung des Opfers ist praktisch ein Vorwurf an die Gefangenen, sich ihren Folterern unterworfen zu haben. Die komplexen Beziehungen zwischen unschuldigem Komplizentum und Bösartigkeit, die Lessing so sorgfältig prüft, sind hier gelöscht.
Indem Schlink ein einfaches, in sich geschlossenes Dasein als Opfer erfindet, macht er die historischen Tatsachen zu Spielmaterial. Primo Levi beschreibt, wie die selbstlose Menschlichkeit seines Freundes Lorenzo ihm das Leben rettet, weniger dadurch, dass er ihm etwas zu essen bringt als vielmehr, dass er durch seine Taten den Fortbestand des Guten bezeugt. Diese Formen des Widerstands sind keine Kleinigkeit. Sie sind zentrale Momente einer Erfahrung, die Schlinks Buch zu schildern vorgibt, aber bis zur Unkenntlichkeit verfälscht.
Mit den Nerven am Ende
Wenn Bernhard Schlink die SS beschreibt, offenbart er dieselbe Missachtung gegenüber den Tatsachen. Der Erzähler tritt mit der albernen Geste eines Fachmanns für die Verbrechen des Dritten Reiches auf, aber ihm fehlen offenbar elementare Kenntnisse: „Auch in den spärlichen Äußerungen der Täter begegnen (sic!) die Gaskammern und Verbrennungsöfen als alltägliche Umwelt ... ”. Hermann Langbein führt hingegen mehrere Fälle auf, in denen Mitglieder der SS Nervenzusammenbrüche erlitten, weil sie das Erlebte nicht ertragen konnten. Andere wurden wahnsinnig, und einer von diesen wurde selbst in die Gaskammer geworfen. Ein anderer kehrte vom Dienst an der Rampe zurück und sagte: „Mein Gott, was dort geschieht, das sind keine SS-Männer mehr, das sind Banditen, das sind Mörder!” Man sollte zum Vergleich auch die Zeugenaussage von Oswald Kaduk hinzuziehen, einem SS-Rapportführer und, nach Aussage eines Internierten, „dem gefürchtetsten Mann im Lager”: „In Auschwitz war ich mit den Nerven völlig am Ende. Wenn sie solche Aktionen sehen, dann sind sie auch schockiert. ” Eichmann selbst sagte in Argentinie, er sei fast in Ohnmacht gefallen, als er die Leichenberge in Auschwitz gesehen habe, aber: „Es hätte sich schlecht gemacht, wäre ich dort in Ohnmacht gefallen...”.
Dass Schlink historische Ereignisse durch die Subjektivität eines Erzählers filtert, bis sie jede Verbindung mit dem tatsächlichen Geschehen verloren haben, gilt auch für das Kriegsverbrecherverfahren, das im Roman auf groteske Weise geschildert wird.
In seiner gepflegten Distanz gegenüber dem Grauen unterscheidet es sich gründlichen von allen derartigen Verfahren, die tatsächlich stattgefunden haben. Im Unterschied zum Frankfurter Auschwitz-Prozess wird in diesem Verfahren die entscheidende Rolle der Angeklagten bei der Selektion der Opfer bagatellisiert. Statt dessen konzentriert sich das Verfahren ungerechtfertigt auf eine einzelne Episode: Die Gefangenen flüchten während es Todesmarsches in eine Kirche, die von Alliierten bombardiert wird, und kommen so ums Leben. Die SS, so verstehen wir, wären eigentlich die Retter ihrer Gefangenen gewesen. Wieder appelliert Schlink an unser Mitleid für die Mitglieder der SS. Wer hätte gedacht, dass es mit Lessings „Poetik des Mitleids” ein solches Ende nehmen würde?
Albernerweise heißt es über Schlinks Massenmörderin weiter, sie habe für ihre eigene Wahrheit gekämpft, ihre eigene Gerechtigkeit . Soll diese Wahrheit wichtiger sein als die ihrer Opfer? In diesem Buch soll es offenbar keinen Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrheit und Lüge mehr geben.
Leser, die sich für die Psychologie einer tatsächlichen Mörderin interessieren, können im SZ-Magazin vom 13. Dezember 1996 nachschlagen. Dort werden sie ein mögliches Muster für Schlinks Protagonistin finden, allerdings in einer völlig anderen Fassung. Es geht in diesem Bericht um den Majdanek- Prozess von 1975 bis 1981, um das einzige Verfahren, in dem SS-Wärterinnen auf deutschem Boden angeklagt wurden – genauer um Hermine Braunsteiner, stellvertretende Schutzhaftlagerführerin und später Oberaufseherin der SS. Während des Verfahrens löste sie Kreuzworträtsel. Wie Schlinks Heldin ergeht sie sich in Selbstmitleid und attackiert ihre Ankläger. Tatsächlich unterscheidet sich ihre Vorstellung von Geschichte, in der Majdanek schlicht ein „Umschulungslager” gewesen sein soll, nicht sehr von den Ereignissen in „Der Vorleser”.
Ein Höhepunkt in Roman – und eine Szene, von der die ganze Beweisführung abhängt – ist der Augenblick, in dem Schlinks Heldin ihren Richter fragt, was „er” an ihrer Stelle bei den „Selektionen” getan hätte. Durch diese Episode wird der Eindruck erweckt, sie habe in einem Befehlsnotstand gehandelt. Dass es aber möglich war, sich anders zu verhalten, bestätigt der ehemalige Unterscharführer Friedrich Althaus: „Man konnte Mensch bleiben und sich weigern.”
Schlinks postmoderner Brei ist nicht nur deshalb so ungenießbar, weil er eine ernsthafte Auseinandersetzung zu sein beansprucht, während er tatsächlich eine Travestie der Wahrheit darstellt. Er ist so abstoßend, weil er auf tückische, pornographische Weise aus menschlichen Nöten und Schwächen Kapital schlägt. Warum aber ist dieses Buch dann so erfolgreich? Zum Teil, weil es die Geschichte so vereinfacht, dass sie breiten Leserschichten entgegenkommt, von mitleidigen Liberalen, denen es lieber gewesen wäre, wenn die Auslöschung des europäischen Judentums weniger grausam verlaufen wäre, bis zu verkappten Nationalsozialisten, die gerne behaupten, das große Verbrechen habe gar nicht stattgefunden.
Zum Teil aber auch, weil wir uns allzu gern mit dem gegenwärtigen Modischen und stets Wohlfeilen, mit der Anteilnahme für die Opfer begnügen. Und schließlich, weil diese Kulturpornographie es besonders geschickt anstellt, indem sie ernsthafte moralische Einsichten zu bieten beansprucht. Das Buch ist ein betrüblicher Kommentar zu unserer verkehrten Welt, dass dieser Reißer von einem deutschen Richter ausgebrütet wurde.
Deutsch von Thomas Steinfeld
Die Vorleserin: Magda Goebbels mit ihren fünf Kindern Helga, Helmuth, Hedda, Hilde und Holde.
Foto: SZ-Archiv
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