Die Biographie einer Stadt. Einst Teil des Habsburger Reichs, galt Lemberg als »Jerusalem Europas«, wo Polen, Juden, Ukrainer und Deutsche zusammenlebten. Namhafte Künstler und Wissenschaftler prägten eine Moderne, die der in Berlin und Wien in nichts nachstand. Dann verlor Lemberg wie so viele mitteleuropäische Städte durch Krieg, Holocaust und Vertreibung fast alle Einwohner - und damit sein Gedächtnis. Siebzig Jahre später, inmitten der Ukraine-Krise, sucht Lutz C. Kleveman die verschüttete Vergangenheit der Stadt freizulegen. Was er dabei entdeckt und brillant erzählt, ist nicht weniger als die Geschichte Europas bis heute. »Lutz C. Kleveman erschließt lebendig und sehr persönlich die Geschichte dieser faszinierenden Stadt, die so viele Vergangenheiten hatte, Bühne so vieler Kulturen,Träume und Tragödien war. Ein immenses Lesevergnügen.« Philipp Blom (»Der taumelnde Kontinent«) »Ein ebenso sorgfältiges wie umfassendes Geschichtsbuch über eine faszinierende Stadt, hinter deren bezaubernder Fassade sich Ungeheuerlichkeiten entluden.« Sabine Adler (Deutschlandfunk)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2017Der diskrete Charme des Postsozialismus
Ohne Galizien-Nostalgie, doch mit einigen Widersprüchen: Lutz C. Kleveman verfolgt die Geschichte der Stadt Lemberg im zwanzigsten Jahrhundert
Mit einer starken Szene steigt Lutz C. Kleveman in sein Buch ein: dem Lemberger Leninopad, dem Sturz der Lenin-Statue. Während sich seit 2014 Hunderte solcher Denkmalstürmereien in der Zentral- und Ostukraine ereigneten, fand dieser schon im Herbst 1990 statt. Kleveman beschreibt, wie sich die der sowjetischen Herrschaft gegenüber seit jeher skeptischen Westukrainer vor dem Denkmal nahe dem Opernhaus versammelten und die Statue niederrissen. Im zweiten Teil der Einführung erzählt er dann, wie er 2014 die Stadt kennenlernte und betört von ihrem Charme beschloss, sich ihre Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert zu erarbeiten.
Aus dem Schicksal der polnisch-jüdisch-ukrainischen Stadt in der ersten Jahrhunderthälfte, die unübersehbar den Stempel der k. u. k. Monarchie trägt, möchte Kleveman Erkenntnisse für die ukrainische Gegenwart gewinnen. Doch verfängt bei ihm nicht die zuckersüße Galizien-Nostalgie. Ihn reizt das postsozialistische Flair der Stadt, die ihn an das noch nicht für touristische Nutzung durchoptimierte Prag der frühen neunziger Jahre erinnert. Die zahlreichen polnischen Touristen in der Stadt scheinen ihm nicht aufzufallen.
Fast in allen Kapiteln hält er diese Zweiteilung aufrecht: zunächst ein historischer Abriss, dann ein Reportageteil mit Beobachtungen von den historischen Orten und Reflexionen über die Auswirkungen der Geschichte. Leider hält beides meist nicht das hohe Niveau des Einstiegs. Sein historischer Abriss profitiert vom Zauber, den die Stadt auch auf viele westliche Historiker ausübte, die sie deshalb zum Forschungsgegenstand machten. Deren Ergebnisse referiert Kleveman meist etwas zu artig, und manchmal geht auch etwas durcheinander: Warum die Zweite Polnische Republik, zu der die Stadt von 1918 bis 1939 gehörte, seiner Ansicht nach ausgerechnet vor und nicht nach dem Putsch Józef Pilsudskis eine "gelenkte Demokratie" gewesen sein soll, bleibt schleierhaft.
Auf jene Teile der historischen Forschung zu Lemberg gestützt, in denen die Frage nach ethnischen Konflikten dominiert, zeichnet Kleveman das Bild einer von ethnischen Spannungen geprägten Stadt. Doch rekonstruiert er aus Erinnerungen und Tagebüchern Lemberger Künstler und Intellektueller das Geistesleben der Stadt über ethnische Grenzen hinweg, was zu den starken Abschnitten des Buchs gehört. In den Kaffeehäusern lösten die Mathematiker Hugo Steinhaus und Stefan Banach mathematische Probleme. Ludwik Fleck befasste sich mit erkenntnistheoretischen Fragestellungen, wenn er nach Dienstschluss sein Labor verließ, wo er mit Rudolf Weigl am Fleckfieberimpfstoff forschte. Am Nachbartisch debattieren Avantgardekünstler mehrsprachig.
Dennoch hält Kleveman am Bild klar getrennter ethnischer Gruppen fest und verkehrt die sonst oft verkitschte Darstellung der galizischen Multi-Ethnizität in ihr Gegenteil. Dabei waren die Grenzen zwischen nationaler Fremd- und Selbstzuschreibung durchaus fließend und beweglich. Und ob es die Mühe um klare Zuordnung ist, weshalb er Józef Wittlin als Polen ohne Bindestrichidentität klassifiziert, oder schlicht, weil er nicht um dessen jüdische Herkunft weiß?
Es ist nicht der einzige Widerspruch: Kleveman schreibt an einer Stelle, dass ihn das Leben mehr als der Untergang der Lemberger interessiert. Dennoch widmet er zwei Drittel seines Buches dem Sterben im Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Zur sowjetischen und deutschen Besatzung befragt Kleveman mit Hilfe einer Dolmetscherin Zeitzeugen, wundert sich dann aber, wenn die über ihr eigenes Leid - und nicht wie er vor allem über jenes der massenhaft ermordeten Lemberger Juden - sprechen wollen.
Zeitgenössischer Rassismus begegnet Kleveman, als er in Begleitung eines britischen Studenten mit dunkler Haut nicht in die Disko gelassen wird. Im "Citadel Inn" vergeht ihm der Appetit, weil er sieht, wie das ehemalige Kriegsgefangenenlager schnöde touristisch und nicht als Gedenkstätte genutzt wird. Nur: Ist das nicht die andere, rauhere Seite des postsozialistischen Flairs einer nicht für westeuropäische oder amerikanische Touristen marktkonform getrimmten Stadt?
Manches Mal gewinnt man den Eindruck, Kleveman nähme es den heutigen Lembergern übel, dass sie sorglos auf den von Krieg und Holocaust "kontaminierten Landschaften" leben, um Martin Pollacks Metapher aufzugreifen. Sein Blick ist der des Westeuropäers, der fasziniert ist von der architektonischen Schönheit, die ihn so sehr an bekanntes Mitteleuropäisches erinnert. Mit ein wenig mehr Mühe hätte er diesen Zugang deutlich produktiver nutzen und das Fehlen tiefergehender Kenntnisse über die Region, wie sie etwa Pollack oder Karl Schlögel auszeichnen, ausgleichen können. Wer verstehen will, warum sich Kleveman von Lemberg betören ließ, der sollte über den Svoboda-Prospekt, den Freiheitsboulevard, flanieren, auf dem die Oper steht und Lenin stand. Zur Einstimmung auf diese Reise sei auch das Buch empfohlen.
STEPHAN STACH
Lutz C. Kleveman:
"Lemberg". Die vergessene Mitte Europas.
Aufbau Verlag, Berlin 2017. 315 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ohne Galizien-Nostalgie, doch mit einigen Widersprüchen: Lutz C. Kleveman verfolgt die Geschichte der Stadt Lemberg im zwanzigsten Jahrhundert
Mit einer starken Szene steigt Lutz C. Kleveman in sein Buch ein: dem Lemberger Leninopad, dem Sturz der Lenin-Statue. Während sich seit 2014 Hunderte solcher Denkmalstürmereien in der Zentral- und Ostukraine ereigneten, fand dieser schon im Herbst 1990 statt. Kleveman beschreibt, wie sich die der sowjetischen Herrschaft gegenüber seit jeher skeptischen Westukrainer vor dem Denkmal nahe dem Opernhaus versammelten und die Statue niederrissen. Im zweiten Teil der Einführung erzählt er dann, wie er 2014 die Stadt kennenlernte und betört von ihrem Charme beschloss, sich ihre Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert zu erarbeiten.
Aus dem Schicksal der polnisch-jüdisch-ukrainischen Stadt in der ersten Jahrhunderthälfte, die unübersehbar den Stempel der k. u. k. Monarchie trägt, möchte Kleveman Erkenntnisse für die ukrainische Gegenwart gewinnen. Doch verfängt bei ihm nicht die zuckersüße Galizien-Nostalgie. Ihn reizt das postsozialistische Flair der Stadt, die ihn an das noch nicht für touristische Nutzung durchoptimierte Prag der frühen neunziger Jahre erinnert. Die zahlreichen polnischen Touristen in der Stadt scheinen ihm nicht aufzufallen.
Fast in allen Kapiteln hält er diese Zweiteilung aufrecht: zunächst ein historischer Abriss, dann ein Reportageteil mit Beobachtungen von den historischen Orten und Reflexionen über die Auswirkungen der Geschichte. Leider hält beides meist nicht das hohe Niveau des Einstiegs. Sein historischer Abriss profitiert vom Zauber, den die Stadt auch auf viele westliche Historiker ausübte, die sie deshalb zum Forschungsgegenstand machten. Deren Ergebnisse referiert Kleveman meist etwas zu artig, und manchmal geht auch etwas durcheinander: Warum die Zweite Polnische Republik, zu der die Stadt von 1918 bis 1939 gehörte, seiner Ansicht nach ausgerechnet vor und nicht nach dem Putsch Józef Pilsudskis eine "gelenkte Demokratie" gewesen sein soll, bleibt schleierhaft.
Auf jene Teile der historischen Forschung zu Lemberg gestützt, in denen die Frage nach ethnischen Konflikten dominiert, zeichnet Kleveman das Bild einer von ethnischen Spannungen geprägten Stadt. Doch rekonstruiert er aus Erinnerungen und Tagebüchern Lemberger Künstler und Intellektueller das Geistesleben der Stadt über ethnische Grenzen hinweg, was zu den starken Abschnitten des Buchs gehört. In den Kaffeehäusern lösten die Mathematiker Hugo Steinhaus und Stefan Banach mathematische Probleme. Ludwik Fleck befasste sich mit erkenntnistheoretischen Fragestellungen, wenn er nach Dienstschluss sein Labor verließ, wo er mit Rudolf Weigl am Fleckfieberimpfstoff forschte. Am Nachbartisch debattieren Avantgardekünstler mehrsprachig.
Dennoch hält Kleveman am Bild klar getrennter ethnischer Gruppen fest und verkehrt die sonst oft verkitschte Darstellung der galizischen Multi-Ethnizität in ihr Gegenteil. Dabei waren die Grenzen zwischen nationaler Fremd- und Selbstzuschreibung durchaus fließend und beweglich. Und ob es die Mühe um klare Zuordnung ist, weshalb er Józef Wittlin als Polen ohne Bindestrichidentität klassifiziert, oder schlicht, weil er nicht um dessen jüdische Herkunft weiß?
Es ist nicht der einzige Widerspruch: Kleveman schreibt an einer Stelle, dass ihn das Leben mehr als der Untergang der Lemberger interessiert. Dennoch widmet er zwei Drittel seines Buches dem Sterben im Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Zur sowjetischen und deutschen Besatzung befragt Kleveman mit Hilfe einer Dolmetscherin Zeitzeugen, wundert sich dann aber, wenn die über ihr eigenes Leid - und nicht wie er vor allem über jenes der massenhaft ermordeten Lemberger Juden - sprechen wollen.
Zeitgenössischer Rassismus begegnet Kleveman, als er in Begleitung eines britischen Studenten mit dunkler Haut nicht in die Disko gelassen wird. Im "Citadel Inn" vergeht ihm der Appetit, weil er sieht, wie das ehemalige Kriegsgefangenenlager schnöde touristisch und nicht als Gedenkstätte genutzt wird. Nur: Ist das nicht die andere, rauhere Seite des postsozialistischen Flairs einer nicht für westeuropäische oder amerikanische Touristen marktkonform getrimmten Stadt?
Manches Mal gewinnt man den Eindruck, Kleveman nähme es den heutigen Lembergern übel, dass sie sorglos auf den von Krieg und Holocaust "kontaminierten Landschaften" leben, um Martin Pollacks Metapher aufzugreifen. Sein Blick ist der des Westeuropäers, der fasziniert ist von der architektonischen Schönheit, die ihn so sehr an bekanntes Mitteleuropäisches erinnert. Mit ein wenig mehr Mühe hätte er diesen Zugang deutlich produktiver nutzen und das Fehlen tiefergehender Kenntnisse über die Region, wie sie etwa Pollack oder Karl Schlögel auszeichnen, ausgleichen können. Wer verstehen will, warum sich Kleveman von Lemberg betören ließ, der sollte über den Svoboda-Prospekt, den Freiheitsboulevard, flanieren, auf dem die Oper steht und Lenin stand. Zur Einstimmung auf diese Reise sei auch das Buch empfohlen.
STEPHAN STACH
Lutz C. Kleveman:
"Lemberg". Die vergessene Mitte Europas.
Aufbau Verlag, Berlin 2017. 315 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
» Das Fließende des Textes, die stete Reflexion, was man da gesehen hat, ist kein Trick, eher die langsame Verfertigung der Erkenntnis im Lauf der Erkundungen. « taz. Die Tageszeitung 20170708