Die vierzehnjährige Lena reißt nach der Trennung der Eltern von zu Hause aus, irrt durch Marseille und fällt einem Ganoven arabischer Herkunft, Momo, in die Hände. Momo versteckt sie, beschützt sie, setzt sie unter Drogen, schläft mit ihr. Schließlich will er mit ihr nach Marokko fliehen, weil er die Rache des eigenen Bruders fürchtet, den er an die Polizei verraten hat. Lena aber sehnt sich zurück nach dem Vater, dem "weißen" Franzosen mit echten Papieren und geregeltem Einkommen. "Das ist ein tiefgreifender, ein vibrierender Roman ..., voller menschlicher Wahrheit, voller Emotionen, ein Buch, in dem die atemberaubende Handlung eines Kriminalromans keinen Widerspruch zu den feinen Details eines psychologischen Romans bildet ..." (Le Figaro.)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.1995Zerschnittene Jeans, rosa Haare
Vorstadtgörendrama: Yann Queffelecs "Lena in der Nacht"
Der französische Romancier Yann Queffelec veröffentlichte vor zehn Jahren ein bemerkenswertes, preisgekröntes und überaus erfolgreiches Buch. "Barbarische Hochzeit" erzählt die bewegende Geschichte einer vom Schicksal getroffenen Mutter und ihres ungewollten, ungeliebten Kindes. Es ist das eindrückliche Dokument einer Tragödie, die schrecklich ist, gerade weil sie so alltäglich anmutet.
Queffelec hat auch in seinen folgenden Romanen Menschen beschrieben, deren Not keine Schlagzeile wert ist. Er beschreibt Figuren am Rande der Gesellschaft, Verstoßene, Aussteiger, Menschen, die schutzlos der Grausamkeit des Lebens ausgeliefert sind und sich nur an noch Schwächeren schadlos halten können: ein endloser Kreislauf.
Auch Queffelecs jüngstes Buch knüpft hier an. Wieder erweist sich der Autor als glänzender Erzähler und geschickter Monteur einer durchaus spannenden Handlung. Seine Figuren, vor allem seine Protagonistinnen, besitzen die geheimnisvolle Faszination von Menschen, die sich an der Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn bewegen. Ein stilsicherer, talentierter Romancier, gewiß. Und doch hinterläßt gerade dieser Roman einen schalen Eindruck: Hier schreibt die Routine selbst.
Der Schauplatz des Romans liegt in den düsteren Vorstädten von Marseille. Die vierzehnjährige Heldin trägt zerschnittene Jeans und färbt sich die Haare rosa. Sie unterscheidet sich in nichts von allen anderen Gören, welche unsere zeitgenössische Literatur bevölkern, nicht einmal in ihren Familiensorgen. Ihr Vater, ein hoher Polizeifunktionär, ist von zu Hause ausgezogen. Lena lebt mit ihrer hysterischen Mutter allein.
Aus Trotz verbringt sie ihre Freizeit in den desolaten Quartieren, wo das Gesetz des Stärkeren gilt und das Prinzip Zerstörung herrscht. "Das Leben", so sagt es eine der Romanfiguren, "ist dazu gemacht, sich zu rächen. Wozu sonst kommst du auf die Welt?" Das Mädchen freundet sich mit dem jungen Araber Momo an. Dieser hat seinen kriminellen Bruder denunziert, zufällig bei Lenas Vater, und will sich nun mit Lena nach Marokko verdrücken. Aber die Flucht mißlingt. Momo wird von seinem Bruder auf grausame Weise umgebracht. Im ereignisreichen Schlußkapitel wird der Mörder zur Strecke gebracht, und Lena flieht aus dem Versteck in die offenen Arme ihres Vaters.
Das alles ist flüssig erzählt und der Plot mit Hilfe weniger Figuren in dramatischen Szenen gut geknüpft. Queffelec hat zweifellos mit Gewinn die klassischen Tragödien gelesen. Doch hinter der glatten Schauseite sieht man allenthalben die Fäden, an denen die Figuren und Kulissen hängen. Lenas provokatives Gehabe signalisiert - so versichert man uns mehrmals mit schonungsloser Deutlichkeit - ihre tiefe Sehnsucht nach dem Vater. Den wiederum verfolgt das rührselige Bild einer Jugendliebe, deren Verlust ihn in den Algerien-Krieg getrieben hat. Der Erzähler bewegt souverän in ausgefeilten Rückblenden seine Figuren, die doch angeblich von ihren geheimen Wünschen und Ängsten getrieben werden. Queffelecs Psychologie verspricht Einblick in verborgene Abgründe, funktioniert aber ganz simpel kausalistisch.
So liest man ohne Verwunderung im Klappentext, daß dieser Roman gegenwärtig verfilmt wird. Hatte er vielleicht nur dieses Ziel? GÉRALD FROIDEVAUX
Yann Queffelec: "Lena in der Nacht". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Michael Hofmann. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 1995. 333 S., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vorstadtgörendrama: Yann Queffelecs "Lena in der Nacht"
Der französische Romancier Yann Queffelec veröffentlichte vor zehn Jahren ein bemerkenswertes, preisgekröntes und überaus erfolgreiches Buch. "Barbarische Hochzeit" erzählt die bewegende Geschichte einer vom Schicksal getroffenen Mutter und ihres ungewollten, ungeliebten Kindes. Es ist das eindrückliche Dokument einer Tragödie, die schrecklich ist, gerade weil sie so alltäglich anmutet.
Queffelec hat auch in seinen folgenden Romanen Menschen beschrieben, deren Not keine Schlagzeile wert ist. Er beschreibt Figuren am Rande der Gesellschaft, Verstoßene, Aussteiger, Menschen, die schutzlos der Grausamkeit des Lebens ausgeliefert sind und sich nur an noch Schwächeren schadlos halten können: ein endloser Kreislauf.
Auch Queffelecs jüngstes Buch knüpft hier an. Wieder erweist sich der Autor als glänzender Erzähler und geschickter Monteur einer durchaus spannenden Handlung. Seine Figuren, vor allem seine Protagonistinnen, besitzen die geheimnisvolle Faszination von Menschen, die sich an der Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn bewegen. Ein stilsicherer, talentierter Romancier, gewiß. Und doch hinterläßt gerade dieser Roman einen schalen Eindruck: Hier schreibt die Routine selbst.
Der Schauplatz des Romans liegt in den düsteren Vorstädten von Marseille. Die vierzehnjährige Heldin trägt zerschnittene Jeans und färbt sich die Haare rosa. Sie unterscheidet sich in nichts von allen anderen Gören, welche unsere zeitgenössische Literatur bevölkern, nicht einmal in ihren Familiensorgen. Ihr Vater, ein hoher Polizeifunktionär, ist von zu Hause ausgezogen. Lena lebt mit ihrer hysterischen Mutter allein.
Aus Trotz verbringt sie ihre Freizeit in den desolaten Quartieren, wo das Gesetz des Stärkeren gilt und das Prinzip Zerstörung herrscht. "Das Leben", so sagt es eine der Romanfiguren, "ist dazu gemacht, sich zu rächen. Wozu sonst kommst du auf die Welt?" Das Mädchen freundet sich mit dem jungen Araber Momo an. Dieser hat seinen kriminellen Bruder denunziert, zufällig bei Lenas Vater, und will sich nun mit Lena nach Marokko verdrücken. Aber die Flucht mißlingt. Momo wird von seinem Bruder auf grausame Weise umgebracht. Im ereignisreichen Schlußkapitel wird der Mörder zur Strecke gebracht, und Lena flieht aus dem Versteck in die offenen Arme ihres Vaters.
Das alles ist flüssig erzählt und der Plot mit Hilfe weniger Figuren in dramatischen Szenen gut geknüpft. Queffelec hat zweifellos mit Gewinn die klassischen Tragödien gelesen. Doch hinter der glatten Schauseite sieht man allenthalben die Fäden, an denen die Figuren und Kulissen hängen. Lenas provokatives Gehabe signalisiert - so versichert man uns mehrmals mit schonungsloser Deutlichkeit - ihre tiefe Sehnsucht nach dem Vater. Den wiederum verfolgt das rührselige Bild einer Jugendliebe, deren Verlust ihn in den Algerien-Krieg getrieben hat. Der Erzähler bewegt souverän in ausgefeilten Rückblenden seine Figuren, die doch angeblich von ihren geheimen Wünschen und Ängsten getrieben werden. Queffelecs Psychologie verspricht Einblick in verborgene Abgründe, funktioniert aber ganz simpel kausalistisch.
So liest man ohne Verwunderung im Klappentext, daß dieser Roman gegenwärtig verfilmt wird. Hatte er vielleicht nur dieses Ziel? GÉRALD FROIDEVAUX
Yann Queffelec: "Lena in der Nacht". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Michael Hofmann. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 1995. 333 S., geb., 44,- DM.
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