Vor dem Schreiben liegt das Nichtschreiben - die Berührung mit der Realität, die für Péter Nádas viele Bezirke, Räume, Dimensionen umfasst. Ohne täglich von neuem all dessen innezuwerden, was sich im Bewusstsein drängt, von den Träumen, Alltagsbeobachtungen und ästhetischen Erfahrungen bis zu den verstörenden Nachrichten, könnte er nicht beginnen. Diese unverzichtbare Übung hat, neben seinen Meisterwerken der Erzählkunst, Betrachtungen zu Kunst und Literatur sowie große Abhandlungen hervorgebracht, in denen Nádas historische Verwerfungen und Abgründe des Menschlichen ausleuchtet. "Leni weint" versammelt die wichtigsten dieser Essays aus den Jahren 1989 bis 2014 - ein Vierteljahrhundert, das mit einem politischen Aufbruch in die Freiheit begann und mit dem Rückfall in den aggressiven Populismus endete. Wie es dazu kommen konnte, dass die Bürger Ungarns und anderer osteuropäischer Staaten heute wieder autoritär und nationalistisch regiert werden, wie sehr die Gründe in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, aber auch in globalen Entwicklungen zu suchen sind, das entwickelt Nádas mit Scharfsinn und Leidenschaft. Seine Kunst, das literarische Subjekt zum Schauplatz der Epoche zu machen, schließt das Nachdenken über anthropologische und moralische Fragen, über Wahrheit und Lüge, Kunst und Verbrechen, Vertrauen und Täuschung ein. Ob es um eine traumatische Erfahrung Leni Riefenstahls, "Hitlers Hofkünstlerin", geht, um die osteuropäische Schattenwirtschaft oder um die Folgen des 11. Septembers - intellektuelles Engagement und literarische Sensibilität gehören zusammen.
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Ein klug komponiertes Buch, das einen ungewöhnlich politischen Autor zeigt. Jörg Plath Neue Zürcher Zeitung 20181113
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.2018Versehrungen, die sich langsam auswachsen
Der Band "Leni weint" versammelt Essays von Péter Nádas aus den Jahren 1989 bis 2014. Sie sind erschreckend prophetisch und doch grundiert vom Glauben an die Humanität.
Europa, schreibt Péter Nádas, "ist seit ewigen Zeiten ein in seiner Bestialität dösendes, dummköpfiges Ungeheuer. Zuweilen stöhnt es auf seinem stinkenden, zwischen die großen Meere gezwängten Lager, faucht, wälzt sich grimmig hin und her." Wenngleich Nádas die mythologische Figur aufruft, lässt sich sein Befund schwerlich anders als eine das aktuelle Europa erschreckend genau erfassende Mentalitätsdiagnose lesen. Das Bestialische ist fünfzehn Jahre, nachdem Nádas die Zuckungen des Monsters beschrieben hat, wieder einmal erwacht.
Der Band "Leni weint" versammelt, ein Jahr nach dem Erscheinen des monumentalen, autobiographisch grundierten Romans "Aufleuchtende Details", Essays aus den Jahren 1989 bis 2014, in denen Nádas mit jener ihm eigenen unverklärten und unkorrumpierbaren Scharfsicht neben Fragen der Ästhetik und der Literatur das unheilvolle Wechselspiel zwischen System und Individuum erkundet. Vor allem den Staaten des ehemaligen Ostblocks schenkt Nádas dabei naturgemäß besondere Aufmerksamkeit.
Péter Nádas, 1942 als Sohn einer jüdischen Familie geboren, hat als Kind den Budapester Bombenkrieg erlebt und jung erfahren müssen, wie radikale Ideologie nicht nur Menschenleben zerstört, sondern die Menschlichkeit selbst. Die Eltern, überzeugte, aber in Ungnade gefallene Kommunisten, starben früh, der Vater durch Suizid. Nádas war ab 1969 sieben Jahre lang mit Publikationsverbot belegt. Und dennoch bleibt er in seinen Essays weit entfernt davon, den Bewohnern des Ostens einen behaglichen Platz als Opfer der sozialistischen Diktatur zuzubilligen - und auch nicht als jene, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wehrlos vom Kapitalismus verschlungen wurden.
Wiederholt beschreibt Nádas zwar, wie das sozialistische System die Entstehung etwa von Korruption zwangsläufig werden ließ, so dass moralische Verwahrlosung zum Normalzustand werden musste. Was er den Bürgern des Ostens aber vorwirft, ist ihr Gedächtnisverlust, ihre Weigerung, sich mit dem auseinanderzusetzen, was die Isolation aus ihnen gemacht hat. Würden sie diese Reflexionsanstrengung auf sich nehmen, dann würden sie gewahr werden, dass sie zwar das Überleben, nicht aber das Leben gelernt haben. Bei der Lektüre von "Leni weint" wird auf fröstelnd machende Weise deutlich, dass die Hoffnung, die Zäsur von 1989 hätte einmal einen Aufbruch in ein demokratisches Europa bedeuten können, wohl stets eine trügerische gewesen ist.
Dass die Essays nicht chronologisch angeordnet sind und erst im Quellenverzeichnis das Entstehungsjahr vermerkt ist, mag zunächst irritieren. Tatsächlich ergibt sich die Anlage des Buches aus dem genuinen Denken Nádas', das auch in seinen Romanen dem Prinzip der Assoziationskette, der Logik des Traums folgt, quer durch die Zeiten springt. Nachgerade programmatisch gerahmt ist der Band allerdings sehr wohl: durch die Vorstellung einer den Einbrüchen und Umbrüchen der Zeit weitgehend enthobenen Natur, einer Idee von Ewigkeit mithin, und das Wissen um die individuelle Vergänglichkeit.
Im Auftaktessay des Bandes, "Behutsame Ortsbestimmung", beobachtet Nádas den mächtigen Wildbirnenbaum, der vor dem Fenster seines Arbeitszimmers im ungarischen Gombosszeg wächst, notiert, wie dessen Versehrtheiten, ein abgebrochener Ast etwa, zunächst nur durch das dichte Laub verdeckt, sich im Laufe der Jahre aber auswachsen werden. Dieser Text über den Wildbirnenbaum, in dem Nádas zudem die archaische Ordnung des Dorfes in all ihrer Ambivalenz schildert, ist schon einmal gemeinsam mit "Der eigene Tod" erschienen, jenem Text, der den Abschluss des vorliegenden Essaybandes bildet. Nádas berichtet darin luzide und frappierend humorvoll von der Nahtod-Erfahrung, die ihn infolge eines Herzinfarkts im Jahr 1993 ereilte. Während des folgenden Jahres der Genesung macht Nádas täglich mehrere Bilder von dem Wildbirnenbaum, hält den natürlichen Kreislauf des Werdens und Vergehens fest, als Kontrast zur eigenen Sterblichkeit, womöglich aber auch als Geste eines tieferen Einverständnisses.
Zwischen den Momentaufnahmen und dem Blick auf das Überzeitliche, zwischen Naheinstellung und Totale bewegt sich Nádas' Denken, stets - wie im Musée de l'Orangerie bei der Betrachtung von Monets "Seerosen" - ringend um eine Ausgewogenheit des Blicks. Und so wie er erschrickt über die eigene Faszination für Filmaufnahmen über die Hinrichtung der Ceausescus - "indem wir uns diese zerstörerische Wahrnehmung zumuten, tragen wir die Logik der Diktaturen ins nächste Jahrhundert hinüber" -, so warnt er gleichermaßen vor der Verschleierung der Wirklichkeit und ihrer Verbrechen, wenn man Letztere zum Sinnbild verwandelt. "Die vielfach interpretierbare symbolische Bedeutung verdeckt die Realität des modernen Massenmordes." Das gilt für die Rede von Auschwitz ebenso wie für jene vom 11. September.
Um das Morden zu begreifen, dürfe man es nicht symbolisch überdecken, sondern müsse es sich in seinen technischen Details, in seiner kalten Rationalität vergegenwärtigen. Wenn Nádas in dem titelgebenden Essay "Leni weint" eine Hinrichtung polnischer Zivilisten durch die Wehrmacht Schritt für Schritt beschreibt, dann ist dies in seiner Präzision schwer zu ertragen: die stöhnenden, flehenden Menschen, die durch den Schuss nicht sofort tödlich getroffen sind, die gequälten Körper in der von den Mördern ausgehobenen Grube, die sich winden in der "von Blut, Hirn, verschiedenen Sekreten und Exkrementen stinkenden, schleimigen, schlammigen Flüssigkeit". Eindringlicher könnte der Beweis für Nádas' These von der entlastenden Funktion der Symbolisierung kaum sein. Mit wütendem Sarkasmus, wie man ihn von ihm selten vernimmt, schaut Nádas in diesem Essay auf Leni Riefenstahl, die mit ihrem Kamerateam bereits vor Ort ist, um den triumphalen Einzug deutscher Truppen in Polen zu filmen - und deren Erinnerung an die Greueltaten des NS-Regimes sich nach dem Zweiten Weltkrieg als überaus löchrig erweisen sollte. "Schon der Gedanke schmerzt, dass diese große Künstlerin, die ihren Ruf gerade den magischen Bildern von Massenszenen und übermenschlicher Vollkommenheit, Makellosigkeit und Heroismus des Körpers verdankt, solche Gemeinheiten mit ansehen musste."
Und doch hat Nádas den Glauben an die Humanität nicht verloren, er hält es mit Camus: "Er sieht im Animalischen einen Grundzug der menschlichen Existenz. Das Humane äußert sich für ihn darin, dass man die Anomalie, welche die begangene Tat darstellt, post factum zu erkennen vermag." Von dieser Hoffnung in die Lernfähigkeit des Menschen zeugt etwa der Text "Das Arbeitslied" aus dem Jahr 1990. Nádas berichtet von den gemeinsamen Tagen mit einem Handwerker, der ihm beim Bau seines Hauses zur Hand geht. Ein sympathischer Mann, man plaudert während der Arbeit unbeschwert und freundlich miteinander, bis der Handwerker Nádas plötzlich durch blindes Ressentiment vor den Kopf stößt. Juden und Schwule hasse er genauso wie Zigeuner, wie er sagt. Nádas widerspricht vehement, aber seine Einwände scheinen am Gegenüber abzuprallen. Ein paar Tage darauf belauscht Nádas, ohne dass er selbst bemerkt wird, eine Diskussion ebendieses Handwerkers mit Kollegen, die sich nach einem von zwei Roma begangenen Verbrechen in hasserfüllte Rachephantasien hineinsteigern. Und nun ist es überraschenderweise der vermeintlich Unbelehrbare, der die Gegenposition einnimmt. Wenn das Blut in zehn Jahren wieder in Strömen fließe, donnert der Handwerker, dann sollten sie sich daran erinnern, dass es durch solche Reden dazu komme und durch nichts anderes. Ebendies hatte, wortwörtlich, Nádas ihm wenige Tage zuvor zornig entgegengebrüllt.
Der Essay über das Ungeheuer Europa, der eingangs zitiert wurde, formuliert neben dem Unbehagen auch eine Utopie: die des Schreibens - als Schule der Menschlichkeit und des denkenden Menschen in seiner Verantwortung für das eigene Handeln und das soziale Miteinander. Seit vierzig Jahren, erzählt Nádas, setze er sich täglich um zehn Minuten vor acht Uhr an seinen mit handbeschriebenen Blättern bedeckten Schreibtisch, vor dem Fenster der Wildbirnenbaum. Durch das Schreiben, so Nádas, geben wir "einander wenigstens skizzenhaft von der Körperwärme des eigenen Seins Mitteilung". Gelinge das nicht, "bleibt unser aller Dasein taub und blind, unempfänglich für soziale und körperliche Berührung, dann sinken wir alle wie ein Mann ins Chaos zurück".
Als im vergangenen Jahr der Roman "Aufleuchtende Details" erschien, wurde mancherorts gemutmaßt, dass Péter Nádas mit diesem Werk sein Schreiben im doppelten Wortsinn zur Vollendung gebracht habe. Unser aller Hoffnung kann indes nur sein, dass Péter Nádas uns noch oftmals Mitteilung von seiner Körperwärme geben und unseren Blick für die Indizien gesellschaftlicher Verrohung sensibilisieren wird.
WIEBKE POROMBKA
Péter Nádas: "Leni weint". Essays.
Aus dem Ungarischen von Akos Doma und anderen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018. 528 S., geb., 35,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Band "Leni weint" versammelt Essays von Péter Nádas aus den Jahren 1989 bis 2014. Sie sind erschreckend prophetisch und doch grundiert vom Glauben an die Humanität.
Europa, schreibt Péter Nádas, "ist seit ewigen Zeiten ein in seiner Bestialität dösendes, dummköpfiges Ungeheuer. Zuweilen stöhnt es auf seinem stinkenden, zwischen die großen Meere gezwängten Lager, faucht, wälzt sich grimmig hin und her." Wenngleich Nádas die mythologische Figur aufruft, lässt sich sein Befund schwerlich anders als eine das aktuelle Europa erschreckend genau erfassende Mentalitätsdiagnose lesen. Das Bestialische ist fünfzehn Jahre, nachdem Nádas die Zuckungen des Monsters beschrieben hat, wieder einmal erwacht.
Der Band "Leni weint" versammelt, ein Jahr nach dem Erscheinen des monumentalen, autobiographisch grundierten Romans "Aufleuchtende Details", Essays aus den Jahren 1989 bis 2014, in denen Nádas mit jener ihm eigenen unverklärten und unkorrumpierbaren Scharfsicht neben Fragen der Ästhetik und der Literatur das unheilvolle Wechselspiel zwischen System und Individuum erkundet. Vor allem den Staaten des ehemaligen Ostblocks schenkt Nádas dabei naturgemäß besondere Aufmerksamkeit.
Péter Nádas, 1942 als Sohn einer jüdischen Familie geboren, hat als Kind den Budapester Bombenkrieg erlebt und jung erfahren müssen, wie radikale Ideologie nicht nur Menschenleben zerstört, sondern die Menschlichkeit selbst. Die Eltern, überzeugte, aber in Ungnade gefallene Kommunisten, starben früh, der Vater durch Suizid. Nádas war ab 1969 sieben Jahre lang mit Publikationsverbot belegt. Und dennoch bleibt er in seinen Essays weit entfernt davon, den Bewohnern des Ostens einen behaglichen Platz als Opfer der sozialistischen Diktatur zuzubilligen - und auch nicht als jene, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wehrlos vom Kapitalismus verschlungen wurden.
Wiederholt beschreibt Nádas zwar, wie das sozialistische System die Entstehung etwa von Korruption zwangsläufig werden ließ, so dass moralische Verwahrlosung zum Normalzustand werden musste. Was er den Bürgern des Ostens aber vorwirft, ist ihr Gedächtnisverlust, ihre Weigerung, sich mit dem auseinanderzusetzen, was die Isolation aus ihnen gemacht hat. Würden sie diese Reflexionsanstrengung auf sich nehmen, dann würden sie gewahr werden, dass sie zwar das Überleben, nicht aber das Leben gelernt haben. Bei der Lektüre von "Leni weint" wird auf fröstelnd machende Weise deutlich, dass die Hoffnung, die Zäsur von 1989 hätte einmal einen Aufbruch in ein demokratisches Europa bedeuten können, wohl stets eine trügerische gewesen ist.
Dass die Essays nicht chronologisch angeordnet sind und erst im Quellenverzeichnis das Entstehungsjahr vermerkt ist, mag zunächst irritieren. Tatsächlich ergibt sich die Anlage des Buches aus dem genuinen Denken Nádas', das auch in seinen Romanen dem Prinzip der Assoziationskette, der Logik des Traums folgt, quer durch die Zeiten springt. Nachgerade programmatisch gerahmt ist der Band allerdings sehr wohl: durch die Vorstellung einer den Einbrüchen und Umbrüchen der Zeit weitgehend enthobenen Natur, einer Idee von Ewigkeit mithin, und das Wissen um die individuelle Vergänglichkeit.
Im Auftaktessay des Bandes, "Behutsame Ortsbestimmung", beobachtet Nádas den mächtigen Wildbirnenbaum, der vor dem Fenster seines Arbeitszimmers im ungarischen Gombosszeg wächst, notiert, wie dessen Versehrtheiten, ein abgebrochener Ast etwa, zunächst nur durch das dichte Laub verdeckt, sich im Laufe der Jahre aber auswachsen werden. Dieser Text über den Wildbirnenbaum, in dem Nádas zudem die archaische Ordnung des Dorfes in all ihrer Ambivalenz schildert, ist schon einmal gemeinsam mit "Der eigene Tod" erschienen, jenem Text, der den Abschluss des vorliegenden Essaybandes bildet. Nádas berichtet darin luzide und frappierend humorvoll von der Nahtod-Erfahrung, die ihn infolge eines Herzinfarkts im Jahr 1993 ereilte. Während des folgenden Jahres der Genesung macht Nádas täglich mehrere Bilder von dem Wildbirnenbaum, hält den natürlichen Kreislauf des Werdens und Vergehens fest, als Kontrast zur eigenen Sterblichkeit, womöglich aber auch als Geste eines tieferen Einverständnisses.
Zwischen den Momentaufnahmen und dem Blick auf das Überzeitliche, zwischen Naheinstellung und Totale bewegt sich Nádas' Denken, stets - wie im Musée de l'Orangerie bei der Betrachtung von Monets "Seerosen" - ringend um eine Ausgewogenheit des Blicks. Und so wie er erschrickt über die eigene Faszination für Filmaufnahmen über die Hinrichtung der Ceausescus - "indem wir uns diese zerstörerische Wahrnehmung zumuten, tragen wir die Logik der Diktaturen ins nächste Jahrhundert hinüber" -, so warnt er gleichermaßen vor der Verschleierung der Wirklichkeit und ihrer Verbrechen, wenn man Letztere zum Sinnbild verwandelt. "Die vielfach interpretierbare symbolische Bedeutung verdeckt die Realität des modernen Massenmordes." Das gilt für die Rede von Auschwitz ebenso wie für jene vom 11. September.
Um das Morden zu begreifen, dürfe man es nicht symbolisch überdecken, sondern müsse es sich in seinen technischen Details, in seiner kalten Rationalität vergegenwärtigen. Wenn Nádas in dem titelgebenden Essay "Leni weint" eine Hinrichtung polnischer Zivilisten durch die Wehrmacht Schritt für Schritt beschreibt, dann ist dies in seiner Präzision schwer zu ertragen: die stöhnenden, flehenden Menschen, die durch den Schuss nicht sofort tödlich getroffen sind, die gequälten Körper in der von den Mördern ausgehobenen Grube, die sich winden in der "von Blut, Hirn, verschiedenen Sekreten und Exkrementen stinkenden, schleimigen, schlammigen Flüssigkeit". Eindringlicher könnte der Beweis für Nádas' These von der entlastenden Funktion der Symbolisierung kaum sein. Mit wütendem Sarkasmus, wie man ihn von ihm selten vernimmt, schaut Nádas in diesem Essay auf Leni Riefenstahl, die mit ihrem Kamerateam bereits vor Ort ist, um den triumphalen Einzug deutscher Truppen in Polen zu filmen - und deren Erinnerung an die Greueltaten des NS-Regimes sich nach dem Zweiten Weltkrieg als überaus löchrig erweisen sollte. "Schon der Gedanke schmerzt, dass diese große Künstlerin, die ihren Ruf gerade den magischen Bildern von Massenszenen und übermenschlicher Vollkommenheit, Makellosigkeit und Heroismus des Körpers verdankt, solche Gemeinheiten mit ansehen musste."
Und doch hat Nádas den Glauben an die Humanität nicht verloren, er hält es mit Camus: "Er sieht im Animalischen einen Grundzug der menschlichen Existenz. Das Humane äußert sich für ihn darin, dass man die Anomalie, welche die begangene Tat darstellt, post factum zu erkennen vermag." Von dieser Hoffnung in die Lernfähigkeit des Menschen zeugt etwa der Text "Das Arbeitslied" aus dem Jahr 1990. Nádas berichtet von den gemeinsamen Tagen mit einem Handwerker, der ihm beim Bau seines Hauses zur Hand geht. Ein sympathischer Mann, man plaudert während der Arbeit unbeschwert und freundlich miteinander, bis der Handwerker Nádas plötzlich durch blindes Ressentiment vor den Kopf stößt. Juden und Schwule hasse er genauso wie Zigeuner, wie er sagt. Nádas widerspricht vehement, aber seine Einwände scheinen am Gegenüber abzuprallen. Ein paar Tage darauf belauscht Nádas, ohne dass er selbst bemerkt wird, eine Diskussion ebendieses Handwerkers mit Kollegen, die sich nach einem von zwei Roma begangenen Verbrechen in hasserfüllte Rachephantasien hineinsteigern. Und nun ist es überraschenderweise der vermeintlich Unbelehrbare, der die Gegenposition einnimmt. Wenn das Blut in zehn Jahren wieder in Strömen fließe, donnert der Handwerker, dann sollten sie sich daran erinnern, dass es durch solche Reden dazu komme und durch nichts anderes. Ebendies hatte, wortwörtlich, Nádas ihm wenige Tage zuvor zornig entgegengebrüllt.
Der Essay über das Ungeheuer Europa, der eingangs zitiert wurde, formuliert neben dem Unbehagen auch eine Utopie: die des Schreibens - als Schule der Menschlichkeit und des denkenden Menschen in seiner Verantwortung für das eigene Handeln und das soziale Miteinander. Seit vierzig Jahren, erzählt Nádas, setze er sich täglich um zehn Minuten vor acht Uhr an seinen mit handbeschriebenen Blättern bedeckten Schreibtisch, vor dem Fenster der Wildbirnenbaum. Durch das Schreiben, so Nádas, geben wir "einander wenigstens skizzenhaft von der Körperwärme des eigenen Seins Mitteilung". Gelinge das nicht, "bleibt unser aller Dasein taub und blind, unempfänglich für soziale und körperliche Berührung, dann sinken wir alle wie ein Mann ins Chaos zurück".
Als im vergangenen Jahr der Roman "Aufleuchtende Details" erschien, wurde mancherorts gemutmaßt, dass Péter Nádas mit diesem Werk sein Schreiben im doppelten Wortsinn zur Vollendung gebracht habe. Unser aller Hoffnung kann indes nur sein, dass Péter Nádas uns noch oftmals Mitteilung von seiner Körperwärme geben und unseren Blick für die Indizien gesellschaftlicher Verrohung sensibilisieren wird.
WIEBKE POROMBKA
Péter Nádas: "Leni weint". Essays.
Aus dem Ungarischen von Akos Doma und anderen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018. 528 S., geb., 35,- [Euro].
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