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Die Revolution frißt ihre Kinder - meistens. Die Kinder fälschen ihre Revolutionen - aber nur gelegentlich: Ende Januar 1924, bei minus 30 Grad trifft Lenins Leiche in Moskau ein. Der ehrgeizige Biochemiker Boris Zbarski versichert der Parteiführung, er könne den toten Lenin konservieren. Boris Zbarski hat noch kein einziges Mal als Konservator gearbeitet. Zusammen mit einem renommierten Pathologen erhält er den Auftrag. Die Sowjets sind nervös, und gefährlich sind sie auch. Glückt es den drei Wissenschaftlern nicht, bedeutet das ihren Tod. Doch die Konservierung gelingt so gut, daß die…mehr

Produktbeschreibung
Die Revolution frißt ihre Kinder - meistens. Die Kinder fälschen ihre Revolutionen - aber nur gelegentlich: Ende Januar 1924, bei minus 30 Grad trifft Lenins Leiche in Moskau ein. Der ehrgeizige Biochemiker Boris Zbarski versichert der Parteiführung, er könne den toten Lenin konservieren.
Boris Zbarski hat noch kein einziges Mal als Konservator gearbeitet. Zusammen mit einem renommierten Pathologen erhält er den Auftrag. Die Sowjets sind nervös, und gefährlich sind sie auch. Glückt es den drei Wissenschaftlern nicht, bedeutet das ihren Tod. Doch die Konservierung gelingt so gut, daß die Besucher des Lenin-Mausoleums sagen: "Der Mann schläft nur".
Der konservierte Gott der Revolution wird alle 18 Monate 'generalüberholt': Man legt Lenin in eine Glaswanne, öffnet den Körper, spült ihn mit Essigwasser aus, stellt den ursprünglichen Farbton des Gewebes wieder her. Genauso werden heute im Lenin-Mausoleum die ermordeten Paten der russischen Mafia hergerichtet.Die Rituale gleichen sich..
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.1999

Unbegrenzte Haltbarkeit
Ein Mitarbeiter des Lenin-Mausoleums über die Konservierung kommunistischer Despoten

Ilya Zbarski, Samuel Hutchinson: Lenin und andere Leichen. Mein Leben im Schatten des Mausoleums. Aus dem Französischen von Bodo Schulze. Klett-Cotta, Stuttgart 1999. 232 Seiten, 57 Abbildungen, 39,80 Mark.

Vielleicht als Antithese zum christlichen Gebot "Du sollst dir kein Bildnis machen" wurden die sterblichen Überreste kommunistischer Machthaber mit großem Aufwand für die Nachwelt konserviert. Das bekannteste Beispiel und Vorbild für alle folgenden Einbalsamierungen ist der Leichnam Lenins.

Ilya Zbarski, der zusammen mit Samuel Hutchinson darüber ein Buch geschrieben hat, arbeitete mehrere Jahre am Lenin-Mausoleum in Moskau, wo er auch an der Konservierung von Lenins Leichnam beteiligt war. Gegen Lenins ausdrücklichen Wunsch hatte der Chef der politischen Polizei, Felix Dzershinskij, schon drei Tage nach dessen Tod die Konservierung des Leichnams angeordnet. Um als Statist bei den Beerdigungszeremonien mitzuwirken, wurde der Leichnam für die Trauerfeierlichkeiten zunächst provisorisch fixiert. Schon bald aber ergab sich, daß die Leiche zu verwesen begann. Es folgten heftige Diskussionen im Politbüro, wie der Leichnam zu erhalten sei. Dzershinskij und Molotow waren für ein Tiefkühlen des Leichnams, das aber den Verwesungsprozeß nicht hätte aufhalten können. So wurde der Leichnam chemisch konserviert. Als Autorität auf diesem Gebiet galt der Charkower Anatomieprofessor Worobjow, der gegen seinen Willen hinzugezogen wurde. Zbarskis Vater hatte das eingefädelt und damit auch für sich die Möglichkeit geschaffen, an Lenins Konservierung mitzuarbeiten und Teil der Nomenklatura zu werden.

Diese Vorzugsstellung des Vaters nützte auch dem Sohn, der seine Schulzeit in einem speziellen Gymnasium für Kinder der Nomenklatura verbringen durfte. Die Einblicke in das sowjetische Bildungssystem jener Jahre werden vom Autor plastisch geschildert. In der sowjetischen Musterschule wurde nach einer amerikanischen Erziehungsmethode, dem sogenannten Dalton-Plan, unterrichtet, bei der die Schüler sich ohne die Hilfe eines Lehrers anhand eines Lehrbuches gegenseitig abfragen sollten. Diese Stunden wurden allerdings von den Schülern zu allerlei Streichen genützt. Nahezu ein Glück für die Schüler war, daß die meisten Lehrer noch unter dem alten System ausgebildet worden waren, so daß Zbarski solide Kenntnisse in den naturwissenschaftlichen Fächern erlangen konnte und 1930 das Gymnasium mit einem Chemiediplom abschloß.

Zbarskis Erinnerungen zeigen die Absurdität des sowjetischen Bildungssystems der damaligen Zeit. Nur Arbeiter- und Bauernkinder wurden einer höheren Bildung für würdig befunden. Da aber der Vater des Autors für die Arbeiten an Lenins Leichnam mit dem Orden "Roter Banner der Arbeit" ausgezeichnet worden war, galt Zbarski verwaltungsrechtlich der Arbeiterklasse gleichgestellt. Eigentlich wollte Zbarski Chemie studieren, mußte aber erfahren, daß "unser Land keine Chemiker brauchen würde". Daraufhin wollte er sich für Biologie einschreiben und mußte überrascht feststellen, daß neben Chemie auch dieser Fachbereich inzwischen geschlossen worden war. Aus der Zoologie war die Jagdwissenschaft geworden, aus der Etymologie wurde Parasitenbekämpfung, aus Ichthyologie wurde Fischereiindustrie. Zbarski blieb nichts anderes übrig, als sich im Institut für physikalische und chemische Biologie einzuschreiben. Aber auch diese Institute verkamen und mit ihnen die Universitäten, weil die Machthaber in erster Linie die technischen Institute förderten.

Die Studienbedingungen verschlechterten sich so weit, daß Zbarski im Januar 1934 das Angebot seines Vaters annahm, als Mitarbeiter am Mausoleum an der Konservierung der Leiche Lenins mitzuarbeiten. Schon beim ersten Betreten des Mausoleums war er von der Feierlichkeit des Ortes überwältigt, gleichzeitig aber war ihm klar, daß Lenins Leiche das verehrte oder verhaßte Symbol einer ganzen Nation war. Das erklärt, warum der Leichnam während des Zweiten Weltkrieges nach Tjumen in Sibirien ausgelagert wurde, an dessen Evakuierung und Konservierung in dieser Zeit Zbarski ebenfalls mitarbeitete.

An der Konservierung von Stalins Leichnam war Zbarski nicht beteiligt, denn sein Vater und wenig später auch Zbarski selbst wurden ein Jahr vor Stalins Tod im Rahmen von antisemitischen Terroraktionen entlassen. Glücklicherweise wurden beide später rehabilitiert, und Zbarski fand eine Anstellung als Biochemiker in einem Institut für Tiermorphologie, die eine abermalige Anstellung im Mausoleum unwahrscheinlich erscheinen ließ, obwohl der Mitarbeiterstab des Mausoleums nach dem Kriege ständig wuchs, denn viele ausländische kommunistische Führer wurden dort einbalsamiert, etwa der Bulgare Dimitroff, der Mongole Tschoibalsan, der Tscheche Gottwald, Ho Tschi Minh und Kim Il-sung.

Mit dem Ende des Kalten Krieges haben sich auch die Zeiten für die Mausoleumsangestellten geändert. Da inzwischen nur 20 Prozent der Ausgaben vom Staat gedeckt werden, sind die Einbalsamierer inzwischen gezwungen, neue Geldquellen zu erschließen. So bietet der kommerzielle Teil des Mausoleums, der Ritual Service, der auf Anregung des Moskauer Bürgermeisters Luschkow eingerichtet wurde, seine Dienste auf dem freien Markt an. Dieser Service wird gern von den Mitgliedern der russischen Mafia in Anspruch genommen, deren allzufrüh erschossene Mitglieder (25 000 Morde allein im Jahr 1996) von den Mitarbeitern des Mausoleums nach dem Tode standesgemäß wiederhergerichtet werden. Je nach Zustand der Leiche kann eine Restauration 10 000 Dollar kosten.

Das Buch ist nicht so sehr wegen der technischen Einzelheiten über die Konservierung von Leichen von Interesse, sondern deshalb, weil es den Lebensalltag eines zeitweise privilegierten Staatsbürgers in Rußland schildert. Viele in diesem Buch geäußerte Gedanken und Ereignisse regen zum Nachdenken über Wissenschaft und Gesellschaft an. Entspringt der Wunsch, Menschen zu klonen, nicht der gleichen Quelle wie der Wunsch nach Unsterblichmachung durch perfekte Einbalsamierung?

UDO SCHUMACHER

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